Zürich

[526] Nun bin ich bei den Helvetiern und fast wieder im deutschen Vaterlande und bereite mich, in einigen Tagen einen kleinen Abstecher zu den Galliern zu machen. Viel Erbauliches wird nach allen Aspekten dort jetzt füglich nicht zu sehen und zu hören sein, indessen da ich einmal in Bewegung bin, will ich doch an die Seine hinunterwandeln. Wenn ich wieder fest sitze, möchte es etwas schwer halten.

Den vierzehnten Juni ging ich aus Mailand und ging diesen Tag herüber nach Sesto am Ticino, den ich nicht für so beträchtlich gehalten hätte, als ich ihn fand. In der Gegend von Mailand war schon eine Menge Getreide geerntet, und alles war in voller Arbeit; und als ich über den Berg herüberkam, fing das Korn nach Altdorf herunter eben erst an zu schossen, das ist merklicher Kontrast. Die größte Wohltat war mir nun wieder das schöne Wasser, das ich überall fand. Von Mailand hatte ich die beschneiten Alpen mit Vergnügen gesehen, und nun nahte ich mich ihnen mit jedem Schritte und kam bald selbst hinein. Von Sesto aus fuhr ich auf dem Tessino und den Lago Maggiore herauf, bloß um die schöne Gegend zu genießen, die wirklich herrlich ist. Ich kam aus Unteritalien und Sizilien und gab mir also keine große Mühe, die Borromeischen Inseln in der Nähe[526] zu sehen, da mein Schiffer mir sagte, es würde mich einen Tag mehr und also wohl zwei Dukaten mehr kosten. Ich sah also bei Varone links an der Anhöhe den gigantischen heiligen Karl Borromeo aus der Ferne und fuhr dann sowohl bei der schönen Insel als bei der Mutterinsel vorbei. Man hätte mir höchstwahrscheinlich dort nur Orangengärten gezeigt, die ich in Unteritalien besser gesehen habe, und hätte mir gesagt, hier hat Joseph, hier Maria Theresia und hier Bonaparte geschlafen. Das wäre mir denn zusammen kaum so wichtig gewesen, als da mich der Kastellan von dem Schlosse zu Weißenfels belehrte, hier in diesem Bette schlief Friedrich der Zweite nach der Schlacht bei Roßbach. Die Fruchtbarkeit an dem See ist hier zuweilen außerordentlich groß, und wo die Gegend von den rauheren Winden geschützt wird, findet man hier Früchte, die man in der ganzen Lombardei umsonst sucht. Man sieht noch recht schöne Ölbäume, die man diesseits der Apenninen nur selten findet, und sogar indische Feigen in der freien Luft. Ich schlief am Ende des Sees in Magadino, wo der obere Tessin hineinfällt, in einem leidlichen Hause, schon zwischen rauhen Bergen. Den andern Morgen trat ich den Gang an dem Flusse herauf über Belinzona an, der mich nach einigen Tagen über den Gotthard herüber brachte. Zwei Tage ging ich am Flusse immer bergauf. Die Hitze war unten in der Schlucht ziemlich drückend, bis nach Sankt Veit, wo man, ich glaube zum Fronleichnamsfeste, einen Jahrmarkt hielt, der mir besser gefiehl als der Ostermarkt in Palermo, obgleich für mich weiter nichts da war als Kirschen. Den ersten Abend blieb ich in einem kleinen Orte, dessen Name mir entfallen ist. Der Tessin stürzte unter meinem Fenster durch die Felsen hinunter; gegenüber lag am Abhange ein Kloster, und[527] hinter demselben erhob sich eine furchtbar hohe Alpe in schroffen Felsenmassen, deren Scheitel jetzt, fast zu Johannis, mit Schnee bedeckt war. Die Bewirtung war besser, als ich sie in diesen Klüften erwartet hätte; vorzüglich waren die Forellen aus dem Tessin köstlich. Die Leute schienen viel ursprüngliche Güte zu haben. Mein größter Genuß waren überall die Alpenquellen, vor denen ich selten vorbeiging, ohne zu ruhen und zu trinken, wenn auch beides nicht nötig war, und in den Schluchten um mich her zu blicken und vorwärts und rückwärts die Gegenstände festzuhalten. Jetzt schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge, und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen in hundert Brechungen herabstürzten, und von denen der kleinste doch immer eine sehr starke Wassersäule gab. Der Tessin macht auf dieser Seite schönere Partien als die Reuß auf der deutschen; und nichts muß überraschender sein, als hier hinauf und dort hinunter zu steigen. Ayrolles war mein zweites Nachtlager. Hier sprach man im Hause Deutsch, Italienisch und Französisch fast gleich fertig, und der Wirt machte mit seiner Familie einen sehr artigen Zirkel, in dem ich sogleich heimisch war. Suworow hatte einige Zeit bei ihm gestanden, und wir hatten beide sogleich einen Berührungspunkt. Er war ganz voll Enthusiasmus für den alten General und rühmte vorzüglich seine Freundlichkeit und Humanität, welches vielleicht vielen etwas sonderbar und verdächtig vorkommen wird. Aber ich sehe nicht ein, was den Wirt in Ayrolles oben am Gotthard bestimmen sollte, eine Sache zu sagen, die er nicht sah. Suworow war nicht der einzige General, der ihm im Kriege die Ehre angetan hatte, bei ihm zu sein, er zeichnete sie alle, wie er sie gefunden hatte. Mehrere[528] davon sind allgemein bekannt. Ich habe das zweideutige Glück gehabt, für den Enkomiasten des alten Suworow zu gelten, und ich suchte doch nur seinen wahren Charakter zu retten und einige Phänomene zu erklären, die ihm zur Last gelegt werden. In Prag hat er zu einem häßlichen Gemälde gesessen. Der Löwe ist tot und nun wird zugeschlagen. Ich weiß sehr wohl, daß das ganze Leben dieses Mannes eine Kette von Eigenheiten war; aber wenn man seine Nichtfreunde in Prag und Wien hörte, wäre er ein ausgemachter alter, mürrischer Geck von einem weggeworfenen Charakter gewesen; und der war er doch gewiß nicht. Sonderbarkeit war überhaupt sein Stempel, und in Prag war er in einer eigenen Stimmung gegen ihn. Die politischen Verhältnisse lassen vermuten, in welcher peinlichen Lage er damals von allen Seiten sich befand. Weder sein eigener Monarch noch der österreichische Hof waren mit seinem Betragen zufrieden. Er hatte ohne Schonung über Fehler aller Art und ohne Rücksicht der Personen gesprochen. Er war alt und kränklich und sah dem Ende seines Lebens entgegen. Seine Grillen konnten unter diesen Umständen sich nicht vermindern. Die Ungezogenheiten einiger seiner Untergebenen wurden wahrscheinlich ihm zur Last gelegt; und er selbst war freilich nicht der Mann, der durch schöne Humanität und Grazie des Lebens immer seinen Charakter hätte empfehlen können. Seines Wertes sich bewußt, fest rechtlicher Mann, aber eisern konsequenter Soldat, war er voll Eigenheiten, von denen viele wie Bizarrerien und Marotten aussahen, war äußerst strenge gegen sich und sodann auch in seinen Forderungen gegen andere und sprach skoptisch und sarkastisch über alles. Seine Bigotterie war sehr wohl berechnet und unstreitig nicht so tadelhaft, als sie an der Seine[529] gewesen wäre; aber auch in diesem Stücke verleugnete ihn sein eigener Charakter nicht und gab ihr ein Ansehen von Possierlichkeit. Er soll in Prag eine schmutzige Filzerei gezeigt haben, weggefahren sein, ohne einen Kreuzer zu bezahlen, und nichts als einen alten Nachttopf zurückgelassen haben, den man als eine Reliquie ganz eigener Art aufbewahrt. Dies ist nun gewiß wieder ein barockes Quidproquo, denn Geiz war so wenig in seinem Charakter als prahlerische Verschwendung. Wenn ich diese Dinge nicht von wahrhaften Leuten hätte, würde ich nur den Kopf schütteln und sie zu den lächerlichen Erfindungen des Tages setzen. Aber man muß auch den Teufel nicht schwärzer machen als er ist; und ich bin fest überzeugt, daß Suworow durchaus ein ehrlicher Mann und kein Wüterich war, wenn er auch eine starke Dose Exzentrizität hatte und mit der Welt im Privatleben oft Komödie spielte, sowie man seine Energie im öffentlichen zu lauter Trauerspielen brauchte. Du weißt, daß ich dem Manne durchaus nichts zu danken habe, und kannst also in meinen Äußerungen nichts als meine ehrliche Meinung finden. Wenn wir einigen Engländern glauben wollen, die durch ihren persönlichen Charakter ihre Glaubwürdigkeit nicht verwirkt haben, so ist der Nordländer Suworow, wenn auch alles wahr war, was von ihm erzählt wird, immer noch ein Muster der Humanität gegen den Helden des Tages, Bonaparte, der auf seinen morgenländischen Feldzügen die Gefangenen zu Tausenden niederkartätschen ließ.

Hier oben behauptete man, wenn Suworow Zeit gehabt hätte, nur noch sechstausend Mann über den Berg hinüber nach Zürich zu werfen, so wäre die Schlacht ebenso fürchterlich gegen die Franzosen ausgefallen wie nun gegen die Russen. Alle Franzosen,[530] mit denen ich über die Geschichte gesprochen habe, gestehen das nämliche ein und sagen, bloß die Entfernung des Erzherzogs, der in die Falle des falschen Manövers am Unterrhein ging, sei die Ursache ihres Glücks gewesen; und sie bekennen, daß sie im ganzen Kriege meistens nur durch die Fehler der Gegner gewonnen haben. Hier in Zürich habe ich rund umher mich nach dem Betragen der Russen erkundigt, und man gibt ihnen überall das Zeugnis einer guten Aufführung, die man doch anderwärts als abscheulich geschildert hat. Man beklagt sich weit mehr über die Franzosen, deren Art, Krieg zu führen, dem Lande entsetzlich drückend sein muß, da sie selten Magazine bei sich haben und nur zusammentreiben, was möglich ist. Das geht einmal und zweimal, das dritte Mal muß es gefährlich werden, welches die Schlauköpfe auch sehr wohl wissen. Sie berechnen nur klug, Humanität ist ihnen sehr subalterner Zweck. Dieses ist einigen Generalen und Kommissären und nicht der ganzen Nation zuzurechnen.

Ayrolles ist der letzte italienische Ort, und diesseits des Berges in Sankt Ursel ist man wieder bei den Deutschen. Zwei Tage war ich beständig bergauf gegangen; Du kannst also denken, daß der Ort schon auf einer beträchtlichen Höhe steht. Rundumher sind Schneegebirge, und der Tessin bricht rauschend von den verschiedenen Abteilungen des Berges herab. Ich schlief unter einem Gewitter ein, ein

majestätisches Schauspiel hier in den Schluchten der höchsten Alpen. Der Donner brach sich an den hohen Felsenschädeln und rollte sodann furchtbar in das Tal hinunter, durch das ich heraufgekommen war. Ein solches Echo hörst Du freilich nicht auf der Ebene von Lützen.

In dem Wirtshause zu Ayrolles saß ein armer Teufel, der sich leise beklagte, daß seine Börse ihm keine[531] Suppe erlaubte. Du kannst denken, daß ich ihm zur Suppe auch noch ein Stückchen Rindfleisch schaffte; denn ich habe nun einmal die Schwachheit, daß es mir nicht schmeckt, wenn andere in meiner Nähe hungern. Er war ein ziemlich alter wandernder Schneider aus Konstanz, der, wie er sagte, nach Genua gehen wollte, einen Bruder aufzusuchen. Er hörte aber überall so viel von der Teuerung und der Unsicherheit in Italien, daß er lieber wieder zurück über die Alpen wollte, und erbot sich, mir meinen Reisesack zu tragen. Ich sagte ihm, ich wollte auf seine Entschließung durchaus keinen Einfluß haben, er müßte seine Umstände am besten wissen, ich wäre gewohnt, meinen Sack selbst zu tragen. Er wollte aber bestimmt wieder zu rück, und ich trug nun kein Bedenken, ihn meinen Tornister umhängen zu lassen. Wir stiegen also den kommenden Morgen, den achtzehnten Juni, rüstig den Gotthard hinauf. Es war nach dem Gewitter sehr schlechtes Wetter, kalt und windig, und in den oberen Schluchten konnte man vor Nebel und noch weiter hinauf vor Schneegestöber durchaus nichts sehen; links und rechts blickten die beschneiten Gipfel aus der Dunkelheit des Sturms drohend herunter. Nach zwei starken Stunden hatten wir uns auf die obere Fläche hinaufgearbeitet, wo das Kloster und das Wirtshaus steht, und wo man im vorigen Kriege geschlagen hat. Das erste liegt jetzt noch wüst, und der Schnee ist von innen hoch an den Wänden aufgeschichtet; das Wirtshaus ist ziemlich wiederhergestellt, und man hat schon wieder leidliche Bequemlichkeit. Es muß eine herkulische Arbeit gewesen sein, hier nur kleine Artilleriestücke heraufzubringen, und es war wohl nur in den wärmsten Sommermonaten möglich. Der Schnee liegt noch jetzt auf dem Wege sehr hoch, und ich fiel einige Male bis an die Brust[532] durch. Den höchsten Gipfel des Berges zu ersteigen würde mir zu nichts gefrommt haben, da man im Nebel kaum zwanzig Schritte sehen konnte. Es ist vielleicht in den Annalen der Menschheit aus diesem Kriege ein neues Phänomen, das man ihn hier zuerst über Wolken und Ungewitter herauftrug: coelum ipsum petimus stultitia. Das Wasser auf der obersten Fläche des Berges hat einen ziemlichen Umfang, denn es gießt sich rundumher die Ausbeute des Regens und Schnees von den höchsten Felsen in den See, aus dem sodann die Flüsse von mehreren Seiten hinabrauschen. Es müßte das größte Vergnügen sein, einige Jahre nacheinander Alpenwanderungen machen zu können. Welche Verschiedenheit der Gemälde hat nicht allein der Gotthard? Kornfelder wogen um seine Füße, Herden weiden um seine Kniee, Wälder umgürten seine Lenden, wo das Wild durch die Schluchten stürzt; Ungewitter donnern um seine Schultern, von denen die Flüsse nach allen Meeren herabstürmen, und das Haupt des Adula schwimmt in Sonnenstrahlen. Das gestrige Gewitter mochte vielleicht Ursache des heutigen schrecklichen Wetters sein, doch war die Veränderung so schnell, daß in einer Viertelstunde manchmal dicker Nebel, Sturm, Schneegestöber, Regen und Sonnenschein war und sich die Wolken schon wieder von neuem durch die Schluchten drängten. Als ich oben gefrühstückt hatte, ging ich nun auf der deutschen Seite über Sankt Ursel durch das Ursler Loch und über die Teufelsbrücke herab. Denke Dir das Teufelswetter zu der Teufelsbrücke, wo ich links und rechts kaum einige Klaftern an den Felsen in die Höhe sehen konnte, und Du wirst finden, daß es eine Teufelspartie war; ich möchte aber doch ihre Reminiszenz nicht gern missen. Als wir weiter herabkamen, ward das Wetter heiter und freundlich, und[533] nur einige Schluchten in den furchtbaren Schwarzwäldern waren noch hoch mit Schnee gefüllt und die Spitzen der Berge weiß. Mein Schneider von Konstanz erzählte mir manches aus seinem Lebenslaufe, der eben nicht der beste war, wovon aber der Mensch gar keine Ahnung zu haben schien. Sehr naiv machte er den Anfang mit dem Bekenntnis, daß er in seinem ganzen Leben nicht gearbeitet habe und nun in seinem achtundvierzigsten Jahre nicht erst anfangen werde. – »So, so, das ist erbaulich; und was hat Er denn getan?« – »Ich habe gedient.« – »Besser ist arbeiten als dienen.« – Nun erzählte er mir, wo er überall gewesen war; da war denn meine Personalität eine Hausunke gegen den Herrn Hipperling von Konstanz. Er kannte die Boulevards besser als seine Hölle und hatte alle Weinhäuser von Neapel dieseits und jenseits der Grotte versucht. Zuerst war er kaiserlicher Grenadier gewesen, dann Reitknecht in Frankreich, dann Kanonier in Neapel und zuletzt Mönch in Korsika. Er fluchte sehr orthodox gegen die Franzosen, die ihm seine Klosterglückseligkeit geraubt hatten, weil sie die Nester zerstörten. Jetzt machte er Miene, mit mir wieder nach Paris zu gehen. Ich gab ihm meinen Beifall über seine ewige unstete Landläuferei nicht zu erkennen, und er selbst schien zu fühlen, er hätte doch wohl besser getan, sich treulich an Nadel und Fingerhut zu halten. Wir schlenderten eine hübsche Partie ab, da wir in einem Tage von Ayrolles den Berg herüber bis herab über Altorf nach Flüren am See gingen. Altorf, das vor einigen Jahren durch den Blitz entzündet wurde und fast ganz abbrannte, wird jetzt recht schön, aber ebenso unordentlich wieder aufgebaut. Die Berggegend sollte doch wohl etwas mehr Symmetrie erlauben. Eine Stunde jenseits Altorf war das Wasser sehr heftig aus den[534] Bergen heruntergeschossen und konnte nicht schnell genug den Weg in die Reuß finden, so daß wir eine Viertelstunde ziemlich bis an den Gürtel auf der Straße im Wasser waden mußten. Es war kein Ausweg. Den andern Morgen nahm ich ein Boot herüber nach Luzern, ohne weiter den Ort besehen zu haben, wo Tell den Apfel abgeschossen hatte. Nicht weit von der Abfahrt stürzt rechts ein Wasserfall von sehr hohen Felsen herab, nicht weit von Tells Kapelle, und man erzählte mir, daß oben in den Alpen ein beträchtlicher See von dem Wasser der noch höheren Berge wäre, der hier herabflösse. Schade, daß man nicht Zeit hat hinaufzuklettern; die Partie sieht von unten aus schon sehr romantisch, und oben muß man eine der herrlichsten Aussichten nach der Reuß und dem Waldstädtersee haben. Die Fahrt ist bekannt, und Du findest sie in den meisten Schweizerreisen. In dem seligen Republikchen Gersau frühstückten wir, und die Herren beklagten sich bitter, daß ihnen die Franzosen ihre geliebte Autonomie genommen hatten. Die ganze Fahrt auf dem Wasser herab bis nach Luzern ist eine der schönsten; links und rechts liegen die kleinen Kantone und höher die Schneealpen, in welche man zuweilen weit, weit hineinsieht. Der Pilatusberg vor Luzern ist nur ein Zwerg, der den Vorhof der Riesen bewacht. In Luzern fand ich im Wirtshause unter der guten Gesellschaft einige Freunde von Johannes Müller, die mit vieler Wärme von ihm sprachen. Nachdem ich die Brücken und den Fluß beschaut hatte, ging ich zum General Pfeiffer, um seine wächserne Schweiz zu sehen. Die Sache ist bekannt genug, aber kein so unnützes Spielwerk, wie wohl einige glauben. Der Mann hat mit Liebe viele schöne Jahre seines Lebens daran gearbeitet, und mit einer Genauigkeit, wie vielleicht nur wenig militärische[535] Karten gemacht werden. Die Franzosen haben das auch gefühlt, und Lecourbe, gegen den der alte General zuerst eine entschiedene Abneigung zeigte, wußte durch seine Geschmeidigkeit endlich den guten Willen des Greises so zu gewinnen, daß er sich nun als seinen Schüler ansehen konnte. Die Schule hat ihm genützt, und es wird allgemein nicht ohne Grund behauptet, er würde den Krieg in den Bergen nicht so vorteilhaft geführt haben ohne des Alten Unterricht. Die Wachsarbeit ist bekannt; es ist schade, daß ihm die Jahre nicht erlauben, das übrige zu vollenden. Dieser Krieg hat die Bergbewohner in Erstaunen gesetzt, man hat sich in ihrem Lande in Gegenden geschlagen, die man durchaus für unzugänglich hielt. Die Feinde haben Wege gemacht, die nur ihre Gemsenjäger vorher machten; vorzüglich die Russen und die Franzosen. Man hat sich auf einmal überzeugt, daß die Schweiz bisher nur vorzüglich durch die Eifersucht der großen Nachbarn ihr politisches Dasein hatte. Die Russen und Franzosen kamen auf Pfaden in das Murter Tal, die man nur für Steinböcke gangbar hielt. Die Katholizität scheint hier sehr gemäßigt und freundlich zu sein. Das Merkwürdigste für mich war noch, daß mir der Kellner im Gasthofe erzählte, man habe in dem See zweiunddreißig Sorten Forellen, so daß man also bei der kleinsten Wendung der Windrose eine andere Sorte hat. Diejenigen, welche man mir gab, hätten einen Apicius in Entzücken setzen können; und ich rate Dir, wenn Du hierher kommst, Dich an die Forellen zu halten, wenn Du gleich nicht alle Sorten des Kellners finden solltest.

Von Luzern ließ ich mich auf dem Wasser wieder zurückrudern durch die Bucht links, ging über den kleinen Bergrücken herab an den Zuger See, setzte mich wieder ein und ließ mich nach Zug bringen.[536] Wäre ich etwas frömmer gewesen, so wäre ich rechts fort zur Heiligen Mutter von Einsiedel gegangen. Auf dem Bergrücken zwischen diesen beiden Seen steht die bekannte andere Kapelle Tells mit der schönen Poesie. Alles ist sehr gut und sehr patriotisch, aber ich fürchte, nicht sehr wahr; denn wenn auch die Schweizer noch die alten wären, würden sie sich doch in diesen Konjunkturen schwerlich retten. Man nimmt die größeren, fruchtbaren Kantons und läßt die Alpenjäger jagen und hungern; sie werden schon kommen und bitten. Bloß die Eifersucht gegen Österreich gab der Schweiz Existenz und Dauer.

Von Zug aus nahm ich meinen Tornister selbst wieder auf den Rücken. Der Schneider sah einige Minuten verblüfft, brummte und bemerkte sodann, ich müsse doch sehr furchtsam sein, daß ich ihm meinen Reisesack nicht anvertrauen wolle. Ich machte ihm begreiflich, daß hier zwischen Zug und Zürich gar nichts zu fürchten sei, daß mich allenfalls mein Knotenstock gegen ihn schütze, daß ich ihm aber keine Verbindlichkeit weiter haben wolle; seine Gesellschaft sei mir auch zu teuer, er sei unbescheiden und fast unverschämt; ich wolle weiter nichts für ihn bezahlen. Dabei erklärte ich ihm, daß ich in Luzern für meine eigne Rechnung vierunddreißig Batzen und für die seinige sechsunddreißig bezahlt habe; das stehe mir nicht an. Er entschuldigte sich, er habe einen Landsmann gefunden und mit ihm etwas getrunken, und der Wirt habe zu viel angeschrieben. »Vielleicht ist beides«, sagte ich. »Er hat zu viel getrunken, und jener hat noch mehr angeschrieben, ob mir das gleich von dem ehrlichen Luzerner nicht sehr wahrscheinlich vorkommt; aber, mein Freund, er hat vielleicht der Landsleute viele von Neapel bis Paris; ich zahle gern eine Suppe und ein Stück Fleisch und einige Groschen,[537] aber ich lasse mich nur einmal so grob mitnehmen.« Er verließ mich indessen doch nicht; wir wandelten zusammen den Albis hinauf und herab, setzten uns unten in ein Boot und ließen uns über den See herüber nach Zürich fahren, wo ich dem Sünder noch einige Lehren und etwas Geld gab und ihn laufen ließ. Er wird indessen beides schon oft bekommen haben.

Hier bin ich nun wieder unter vaterländischen Freunden und könnte bald bei Dir sein, wenn ich nicht noch etwas links abgehen wollte. In Zürich möchte ich wohl leben, das Örtliche hat mir selten anderwärts so wohl gefallen. Ich trug einen Brief aus Rom zu Madame Geßner, der Witwe des liebenswürdigen Dichters, und ging von ihr hinaus an das Monument, das die patriotische Freundschaft dem ersten Idyllensänger unserer Nation errichtet hat, an dem Zusammenflusse der Siehl und der Limmat. Das Plätzchen ist idyllisch schön und ganz in dem Geiste des Mannes, den man ehren wollte; und der Künstler, sein Landsmann, hat edle Einfalt nicht verfehlt, welche hier erfordert wurde. Akazien, Platanen, Silberpappeln und Trauerweiden umgeben den heiligen Ort. Einige Zeit verwendete ich darauf, die Schlachtgegend zu überschauen; und ich kann nicht begreifen, wie die Österreicher ihre Stellung verlassen konnten. Ich verschone Dich mit Beschreibungen, die Du in vielen Büchern vielleicht besser findest. Eine eigne Erscheinung war es mir hier, daß bei Vidierung des Passes zwei Batzen bezahlt werden mußten. Ich möchte wohl wissen, wie man dieses mit liberaler Humanität oder nur mit Rechtlichkeit in Übereinstimmung bringen wollte.

Nun erlaube mir noch, Dir fragmentarisch etwas über meinen Gang durch Italien im Allgemeinen zu sagen! Du hast aus meiner Erzählung gesehen, daß es jetzt[538] wirklich traurig dort aussieht, vielleicht trauriger, als es je war. Ich bin gewissenhaft gewesen, und jedes Wort ist Wahrheit, soweit man historische Wahrheit verbürgen kann. Daß Brüdone in Sizilien gewesen ist, bezweifelt niemand; aber viele haben vieles gegen seine schönen Erzählungen. So viel weiß ich, daß in Sizilien selbst und vorzüglich in Agrigent und Syrakus man sehr übel mit ihm zufrieden ist; aber Barthels ist doch vielleicht zu strenge gegen ihn verfahren. Mehrere Rügen, die ich hier nicht aufzählen kann, haben ihre Richtigkeit, und sein Hauptfehler ist, daß er seiner poetischen Phantasie zuviel Spielraum gab. Die Besten über die Insel von den Neuern sind wohl Barthels und Münter. Dorville habe ich fast durchaus sehr genau gefunden, soviel ich auf dem Fluge habe bemerken können.

Das ganze Königreich Neapel ist in der traurigsten Verfassung. Ein Kurier, der von Messina über Rheggio nach Neapel gehen soll, hält den Weg immer für gefährlicher als einen Feldzug. Der Offizier, mit dem ich nach Rom reiste, war sechzehnmal geplündert worden und dankte es nur seiner völligen Resignation, daß er noch lebte. Ich könnte sprechen, sagte er, aber dann dürfte ich keine Reise mehr machen, oder ich wäre auf der ersten ein Mann des Todes. Alle Greuel, die wir von Paris während der Revolution gehört haben, sind noch Menschlichkeit gegen das, was Neapel aufzuweisen hat. Was die Demokraten in Paris einfach taten, haben die royalistischen Lazaronen und Kalabresen in Neapel zehnfach abscheulich sublimiert. Man hat im eigentlichen Sinne die Menschen lebendig gebraten, Stücken abgeschnitten und ihre Freunde gezwungen, davon zu essen, der andern schändlichen Abscheulichkeiten nicht zu erwähnen. Ein wahrhafter, durchaus rechtlicher Mann sagte mir,[539] man sei mit einer Tasche voll abgeschnittener einzelner Nasen und Ohren zu ihm gekommen, habe aufgezählt, wer die Eigentümer derselben gewesen, und er habe seine ganze Standhaftigkeit und Klugheit nötig gehabt, nicht zuviel Mißbilligung zu zeigen, damit er nicht selbst unter die Opfer geriete. Das ist unter Ruffo geschehen, dessen Menschlichkeit sogar noch hier und da gerühmt wird. Die Geschichte der Patrioten von Sankt Elmo ist bekannt. Nelson und seine Dame, die Exgemahlin Hamiltons, ließen im Namen der Regierung die Kapitulation kassieren, und die Henker hatten volle Arbeit. Auf diese Weise kann man alles, was heilig ist, niederreißen. Man nennt den Namen des Admirals und noch mehr den Namen der Dame mit Abscheu und Verwünschung und bringt Data zur Belegung. In Kalabrien soll jetzt allgemeine Anarchie sein. Das ist begreiflich. Bildung ist nicht, und das bißchen Christentum ist, so wie es dort ist, mehr ein Fluch der Menschheit. Die Franzosen kamen und setzten in Revolution; die Halbwilden trauten und wurden verraten. Ruffo kam im Namen des Königs und versprach, die Betrogenen folgten und wüteten nun unter ihm bis zur Schande der menschlichen Natur in der Hauptstadt. Jetzt sagen sie, der König habe sie noch ärger betrogen als die Franzosen. Wer kann bestimmen, wie weit sie Recht haben? Die Regierung des Dey kann kaum grausamer sein; schlechter ist sie nicht. Im ganzen Königreich und auf der Insel zusammen sind jetzt kaum fünfzehntausend Mann Truppen, diese haben einen schlechten Sold, und dieser schlechte Sold wird noch schlechter bezahlt. Du kannst die Folgen den ken. Unzufriedenheit gilt für Jakobinismus, wie fast überall. Ich habe die meisten Städte des Reichs gesehen, und nach meinem Überschlage ist die Zahl der Truppen noch hoch angenommen.[540] Die sogenannten Patrioten schreien über Verräterei der Franzosen und knirschen die Zähne über die Regierung. Mäßigung und Gerechtigkeit ist in Neapel kein Gedanke. Mit fünftausend Franzosen will ich das ganze Reich wieder reformieren und behaupten, sagte mir ein eben nicht zelotischer Parteigänger. Die rechtlichsten Leute wurden gezwungen, der Revolution beizutreten, um sich zu retten, und wurden hernach wegen dieses Zwanges hingerichtet. Vorzüglich traf dieses Schicksal die Ärzte. Es wurden Beispiele mit Umständen erzählt, die Schauder erregen. Filangieri war zu seinem Glücke vorher gestorben. Die Regierung nimmt bei ihrer gänzlichen Vernachlässigung noch alle Maßregeln, die Gemüter noch mehr zu erbittern, ist saumselig, wo rechtliche Strenge nötig wäre, und grausam, wo weise Mäßigung frommen würde. In Sizilien treibt das Feudalsystem in den gräßlichsten Gestalten das Unheil fort, und obgleich mehr als die Hälfte der Insel wüste liegt, so würde doch kein Baron einen Fuß Land anders als nach den strengsten Lehnsgesetzen bearbeiten lassen. Die Folgen sind klar. Wie geachtet die Regierung und geliebt der Minister ist, davon habe ich selbst ein Beispielchen von den Lazaronen in Neapel gehört. Es kam ein Schiff von Palermo an mit etwas Ladung aus der Haushaltung des Königs. Unter andern wurde ein großer, schöner Maulesel ausgeschifft; das neugierige Volk stand wie gewöhnlich gedrängt umher. »Kischt' è il primo minischtro«, sagte ein Kerl aus dem Haufen, und die ganze Menge brach in ein lautes Gelächter aus. Ohne Zweifel ist der Minister nicht so schlecht, als ihn seine Feinde machen; aber er ist doch genug, um ein schlechter Minister zu sein. Das Fazit liegt am Tage: das Reich verarmt täglich mehr, und der Minister wird täglich reicher. An Manufakturen wird gar[541] nicht gedacht, die Engländer und Deutschen versorgen alle Provinzen. In Neapel brauchte ich Strümpfe, die waren englisch; in Syrakus war nichts Einheimisches zu finden. Überall sind fremde Kaufleute, die mit fremden Artikeln handeln. Man sagt in Neapel auf allen Straßen ganz laut, der Minister verkaufe als Halbbrite die Nation an die Engländer. Man schreit über die öffentliche Armut und die öffentliche Verschwendung; man lebe von der Gnade der Franzosen und halte drei Höfe, in Palermo und Kaserta und Wien. Einzeln erzählte Vorfälle sind empörend. Der König ist ein Liebhaber von schönen Weibern. Das mag er, andere sind es auch, ohne Könige zu sein. In der Revolution wurde eine Dame als Staatsverbrecherin mit ergriffen, und das Tribunal verurteilte sie zum Tode. Die vornehme, interessante Frau appellierte an den König, und ihre Freunde brachten es so weit, daß sie zur endlichen Entscheidung ihres Schicksals nach Palermo geschickt wurde. Der König lebte dort in ihrer Gesellschaft einige Zeit nach der Liebhaber Weise; endlich drangen die strengen Strafprediger an sein Gewissen; die Frau wurde nach Neapel zurückgeschickt und – hingerichtet. Sie erzählte das Ganze selbst vor ihrem Tode auf dem Blutgerüste. Das ist verhältnismäßig ebenso schlimm als die eingesalzenen Nasen und Ohren. Man hat mir Namen und Umstände und den ganzen Prozeß wiederholt genannt.

Die Kassen sind leer, die Offizianten müssen warten, und dabei soll man Jagdpartien geben, die über 50 000 neapolitanische Dukaten kosten. Der General Murat erhielt Geschenke, deren Wert sich auf 200 000 Taler belief. Ich weiß nicht, wer mehr Unwillen erregt, ob der König oder Murat? Jener handelt nicht als König, und dieser schlecht als Republikaner. Anders tat Fabricius. Die Räuber streifen aus einer Provinz in die[542] andere und plündern und morden, ohne daß die Justiz weiter danach fragt. Man läßt die Leute so gut und so schlecht sein, als sie wollen; nun sind der Schlechten fast immer mehr als der Guten, zumal bei solchen Vernachlässigungen; so ist die Unordnung leicht erklärt. Die Beschaffenheit des Landes hilft dem Unfuge; die Berge bergen in ihren Schluchten und Winkeln die Bösewichter, gegen welche die Regierung keine Vorkehrungen trifft. Ich habe in dem ganzen Reiche keine einzige militärische Patrouille gesehen, aber Haufen Bewaffnete bis zu fünfundzwanzig. Diese sollen auch Polizei sein; aber sie tragen kein Abzeichen, sind von den Schurken nicht zu unterscheiden, und alle ehrlichen Leute fürchten sich vor ihnen.

Überhaupt habe ich in Neapel jetzt drei Parteien bemerkt, die Partei des Königs und der jetzigen Regierung, zu welcher alle Anhänger des Königs und des Ministers gehören; die Partei der Kronprinzen, von dem man sich ohne vielen Grund etwas Besseres verspricht; und die Partei der Malkontenten, die keine Hoffnung von Vater und Sohn haben und glauben, keine Veränderung könne schlimmer werden. Die letzte scheint die stärkste zu sein, weiß aber nun, da sie von den Franzosen gänzlich verlassen worden ist, in der Angst selbst nicht, wohin sie den Gesichtspunkt nehmen soll.

In Rom arbeitet man mit allen Kräften an der Wiederherstellung aller Zweige der Hierarchie und des Feudalsystems: Gerechtigkeit und Polizei werden schon folgen, soweit sie sich nämlich mit beiden vertragen können. Die Mönche glänzen von Fett und segnen ihren Heiland Bonaparte. Das Volk hungert und stirbt oder flucht und raubt, nachdem es mehr Energie oder mehr fromme Eselsgeduld hat. Es wird schon besser werden, soviel es das System leidet.[543]

In Hetrurien weiß man sich vor Erstaunen über alle die Veränderungen zu Hause und auswärts noch nicht zu fassen. Die meisten, da die Menschen nun doch einmal beherrscht sein müssen, wünschen sich wieder das sanfte österreichische Joch, wie es unter Leopold war. Die Vernünftigeren klagen leise oder auch wohl laut über die Anmaßlichkeit des römischen Hofes und die Schwachheit der Regierung; und die hitzigen Polypragmatiker hoffen auf eine Veränderung diesseits der Berge.

Die italienische Republik windet sich, trotz den Eigenmächtigkeiten und Malversationen der Franzosen, ihrer Herren Nachbarn, nach und nach aus der tausendjährigen Lethargie. Hier war an einigen Orten viel vorgearbeitet; aber auch das alte Päpstliche erholt sich und wird etwas humaner. Das Päpstliche diesseits der Apenninen scheint indessen nie so tief gesunken zu sein als in der Nähe des Heiligtums. Weit von dem Segen war immer etwas besseres Gedeihen. Alles liegt hier noch im Werden und in der Krise. Die großen Städte klagen zwar über Verlust, aber das platte Land hebt sich doch merklich. Das läßt sich wieder sehr leicht erklären. In Italien scheinen überhaupt die Städte das Land verzehrt zu haben, welches wohl weder politisch noch kosmisch gut ist.

Die Franzosen im allgemeinen haben sich in Italien gut betragen, sowie man ihnen das nämliche Zeugnis auch wohl in Deutschland nicht versagen kann. Man erzählt Beispiele von Aufopferung und Edelmut, die dem humanen Zuhörer außerordentlich wohltun und seine sympathetische Natur für den Gegensatz entschädigen, der sich zuweilen zeigt. Einzelne Generale, Kommissäre und Offiziere machen oft grelle Ausnahmen. Unter den Generalen wird Murat als Erpresser und Plagegeist überall genannt; und mir deucht, der[544] Augenschein bestätigt die Beschuldigung; er wird bei einem großen Aufwand reich. Ich habe eine ewige Regel, deren Richtigkeit ich mir nicht abstreiten lasse: Wer in dem Dienst des Staats reich wird, kann kein Mann von edelm Charakter sein. Jeder Staat besoldet seine Diener nur so, daß sie anständig leben und höchstens einen Sicherheitspfennig sparen können, aber zum Reichtum kann es auf eine ehrenvolle Weise keiner bringen. Es gibt nach meiner Meinung nur zwei rechtliche Wege zum Reichtum, nämlich Handel und Ökonomie, einige wenige Glücksfälle ausgenommen. Ist der Staatsdiener zugleich Handelsmann, so hört er eben dadurch auf, einem wichtigen Posten gut vorzustehen. Die Kommissäre haben einmal das unselige Privilegium, die Nationen zu betrügen, weil man ihnen unmöglich alles genau durchschauen kann; und die französischen sollen es sehr ausgedehnt gebraucht haben. Empörend ist es für mich gewesen, wenn ich hörte, daß viele französische Offiziere frei durch alle Provinzen reisten, mit oder ohne Geschäft, sich nach ihrem Range für sich und ihre Begleitung eine Menge Pferde zahlen ließen und doch allein gingen und knickerig nur zwei nahmen und das Geld für die übrigen einsäckelten. Manche arme Kommune, die kaum noch Brot hatte, mußte bei dergleichen Gelegenheiten exekutorisch ihren letzten Silberpfennig zusammenbringen, um den fremden, sogenannten republikanischen Wohltäter zu bezahlen. Das nenne ich Völkerbeglückung! Man muß bekennen, daß die Franzosen selbst über diese Schändlichkeit fluchten; aber sie geschah doch oft. Wo Murat als General kommandiert, fällt so etwas nicht auf; Moreau würde sich und seine Nation von solchen Schandflecken zu retten wissen. Soviel ich von den Franzosen in Italien gemeine Soldaten und Unteroffiziere gesehen habe, und ich bin manche[545] Meile in ihrer Gesellschaft gegangen, habe ich sie als gesittet, artig, bescheiden und sehr unterrichtet gefunden. Sie urteilten meistens mit Bündigkeit und Bestimmtheit und äußerten durchaus ein so feines Gefühl, daß es mir immer ein Vergnügen war, solche Gesellschaft zu treffen. Das alte, vornehme Zotenreißen und Fluchen ist sehr selten geworden, und sie sprechen über militärische Dispositionen mit einer solchen Klugheit und zugleich mit einem solchen Subordinationsgeist, daß sich nur ein schlechter Offizier andere Soldaten wünschen könnte.

In Ansehung des Physischen ist ein Gang von Triest nach Syrakus und zurück an den Züricher See, wenn er auch nur flüchtig ist, mit vielen angenehmen Erscheinungen verbunden. Auf der Insel ist das lieblichste Gemisch des Reichtums aller Naturprodukte, soviel man ohne Anstrengung gewinnen kann: Orangen aller Art, Palmen, Karuben, Öl, Feigen, indische und gemeine, Kastanien, Wein, Weizen, Reis. Bei Neapel werden die indischen Feigen, die Karuben und Palmen schon selten, diesseits der Apenninen Öl und Feigen. Die südliche Seite des Berges, von Florenz aus, hat noch die herrlichsten Ölpflanzungen; beim Herabsteigen nach Bologna findet man sie nicht mehr, alles sind Kastanienwälder. In der Lombardei ist der Trieb üppig an Wein und Getreide; aber alles ist schon mehr nördlich. Ein einziger Weinstock macht noch eine große Laube, und auf einem einzigen Maulbeerbaume hingen zuweilen sechs Mädchen, welche Blätter pflückten; aber ein Ölbaum ist schon eine Seltenheit. Die südlichen Seiten der Alpenberge geben durch ihre Lage hier und da noch Früchte des wärmeren Erdstrichs, und am Lago Maggiore hat man noch Orangengärten, Olivenpflanzungen und sogar, obgleich nur spärlich, indische Feigen. Am Tessino[546] herauf trifft man noch Kastanien die Menge und sehr schöne und große Bäume, und bis Ayrolles wächst gutes Getreide. Dann hört nach und nach die Vegetation auf. An der Reuß diesseits kann man weit tiefer herabgehen, ehe sie wieder anfängt. Sankt Ursel liegt vielleicht tiefer als Ayrolles, und man hat dort nichts von Getreide. Kastanien trifft man auf dieser Seite nicht mehr oder nur höchst selten, und der Nußbaum nimmt ihre Stelle ein. Weiter herab ist alles vaterländisch.

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Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 526-547.
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