Veritatem sequi et colere, tueri
justitiam omnibus aeqne bene
velle ac facere, nil extimescere.
Das Mißliche einer Selbstbiographie kenne ich so gut als sonst irgend jemand; und ich halte mich für nicht wichtig genug, daß überhaupt mein Leben beschrieben werde. Wenigstens wäre es nach vierzig Jahren noch Zeit genug. Ein angesehener Buchhändler bot mir vor einigen Jahren, als die Aspekte am literarischen Himmel noch besser standen, eine beträchtliche Summe, wenn ich ihm die psychologische Geschichte meiner Bildung schreiben wollte. Ich gebe mich aber nicht gern zu dergleichen Spekulationen her; und es geht etwas wider mein Wesen, auf meine Kosten, vielleicht etwas eigentümlich, einige allgemeine Wahrheiten zu sagen, die die eine Hälfte längst weiß und die andere Hälfte nicht wissen will. Folgendes hat mich indessen bestimmt, etwas über mich selbst zu sagen. Schon Herder, Gleim, Schiller und Weiße und mehrere noch Lebende haben mich aufgemuntert, nach meiner Weise die Umstände meines Lebens, das sie wohl für wichtiger hielten, als es war, schriftlich niederzulegen. Ich glaubte, das wäre im achtzigsten Jahre noch früh genug; aber meine jetzigen Gesundheitsumstände erinnern mich, es nicht zu verschieben, wenn es geschehen soll. Mehrere meiner Freunde drohen mir, wahrscheinlich genug, daß ich auf alle Fälle einem Biographen doch nicht entgehen würde: und da fürchte ich denn, einem Sudler, oder Hyperkritiker, oder gar[53] einem schalen, geschmacklosen Lobpreiser in die Hände zu fallen. Niemand kann doch besser wissen, was an und in ihm ist, als der Mann selbst, wenn er nur redliche Unbefangenheit und Kraft genug hat, sich zu zeigen, wie er ist. Ich überlasse es jedem, der etwas von mir weiß, zu urteilen, ob das, was er von mir weiß, das Gepräge dieser Unbefangenheit und dieser Kraft trägt. Ich erzähle also ehrlich offen, ohne mich zu schonen, und nicht selten mit dem Selbstgefühl inneren Werts, und ohne den Vorwurf der Anmaßlichkeit, oder die Krittler weiter zu fürchten, die vielleicht sodann über mich nur Totengericht halten. Torheiten werde ich wohl nicht wenige und nicht geringe zu beichten haben; aber, soviel ich mir bewußt bin, keine Schlechtheit. Wenn die Erzählung unterhält und vielleicht hier und da die Jugend belehrt und in guten Grundsätzen befestigt, so habe ich nicht umsonst gelebt und geschrieben.
Mein Vater Andreas war ein ehrlicher, ziemlich wohlhabender Landmann, der, wie ich, die Krankheit hatte, keine Ungerechtigkeit sehen zu können, ohne sich mit Unwillen und nicht selten mit Bitterkeit darüber zu äußern. Seine Bekannten nannten ihn also einen hitzigen Kopf, und einige Edelleute einen unruhigen Kopf, den man unterdrücken müsse; das war natürlich und mußte auch gelingen. Nur ein einziges Beispiel seiner Heftigkeit! Ich habe keines von meinen Großeltern gekannt, wohl aber einen Großgroßvater, von Seiten des Vaters, einen Mann von mehr als neunzig Jahren, den man nur den alten Jobst nannte, und der mir, als kleinem Urenkel, fast eine Stunde Weges immer einen Kober voll Frühkirschen brachte. Dieser war etwas im Geruch der Ketzerei, weil er nicht das ganze Bonzenwesen des Pfarrers mit gehöriger Gefangennehmung seiner Vernunft gläubig aufnahm, besonders[54] einige Zweifel über die Richtigkeit einiger Decemforderungen hegte. Der alte Jobst stand bei der Gemeine für den Riß in Kollisionsfällen. Als er starb, überließ die Familie mit Bescheidenheit dem Pfarrer die Anordnung des Leichenbegängnisses, ohne Text und Lieder selbst zu wählen. Der Pfarrer ließ lauter Straflieder singen, unter welchen auch das bekannte »O Ewigkeit du Donnerwort« war, und hielt zur Erbauung und Abschreckung eine wahre Galgenpredigt. Mein Vater unter den Leidtragenden nahm in der ersten Wirkung des Sermons einem alten Verwandten das spanische Rohr weg, eilte damit vor die Sakristei, und hätte gewiß dem Strafredner eine sehr fühlbare Replik beigebracht, wenn man ihm nicht in die Arme gefallen wäre. »Herr«, sagte er mit starker Stimme, »wenn nur Sie und Ihre Familie so ehrliche, gute Leute sind wie der Verstorbene und seine Familie, so können Sie zufrieden sein. Er konnte und wollte Ihre weiten, unersättlichen Ärmel nicht füllen, das war seine ganze Gottlosigkeit.« Es entstand daraus ein Konsistorialprozeß, der meinen Vater viel Geld kostete. Der Verweis, den der Pfarrer erhielt, war leicht eingesteckt; aber das Geld, das es meinen Vater kostete, war nicht so leicht ausgezahlt. Der handfeste Köhlerglaube scheint also die Sache meiner Familie väterlicher Seite nicht gewesen zu sein, weswegen der ehrwürdige Herr zu Frankfurt am Main unseres Namens, der einen gelehrten tractatum de SS trinitate zu Anfang des vorigen Jahrhunderts geschrieben hat, wohl schwerlich zu uns gehört. Daß meine Mutter mich gern als einen Mann Gottes auf der Kanzel gesehen hätte, ist eine gewöhnliche Schwachheit des Geschlechts; sie kam aber bald davon zurück, als sie meine entschiedene Abneigung und verschiedene schlechte Geistliche in der Nachbarschaft sah. Ich habe oft gehört, daß[55] meine Mutter Regine Liebich in ihrer Jugend für ein schönes Mädchen gehalten worden ist. Mein Geburtsort ist Posern, ein Dörfchen eine Viertelstunde von Rippach, wo die Poststation war, wo die Vorfahren meiner Mutter seit dem Dreißigjährigen Kriege ein Grundstück mit Brauerei, Brennerei und Schenkrecht besaßen, das sie, laut Dokumenten, als Appertinenz vom Rittergut damals mit neunzig Talern an sich gekauft hatten, und für das man 1803 zwölfhundert bot. Mein Geburtstag fiel, laut der alten Familienbibel, die durch eingebundenes weißes Papier zugleich die Familienchronik war, den 29. Januar 1763, in einer entsetzlich kalten Periode, woraus die Gevattern und Basen nach ihrer Weise allerlei prophezeiten. Ohne eben mit Sterne weitläufig gelehrt über den Einfluß äußerer Umstände bei dem ersten Eintritt in die Existenz zu spintisieren, habe ich doch oft gedacht, daß ich, nach der gewöhnlichen Rechnung, ein Produkt der Walpurgisnacht und als Erzeugnis zweier schöner, sehr lebendiger Menschenwesen, weit freundlicherer Natur und weit merkurialischer sein sollte. Vielleicht hat folgender Umstand Einfluß. Da meine Mutter durch eine gewöhnliche Vernachlässigung nach meiner Geburt an der Brust litt, und eine Amme damals in der Gegend etwas ungewöhnliches war, wurde ich mit Kuhmilch aufgezogen. Ich kam mit dem Hubertusburger Frieden an; man nannte mich also Gottfried, und Johann wurde vorgesetzt, weil es ein alter Vetter, auf den man in der Familie etwas hielt, durchaus haben wollte. Meine Erinnerung geht nicht so weit zurück, daß ich mich besinnen könnte, wie ich lesen und schreiben gelernt habe. Der alte Schulmeister Held, dessen Tochter meine Pate war, und der mich daher mit viel Vorliebe und Strenge echt altpädagogisch behandelte, brachte mir diese Fertigkeiten bei, so früh,[56] daß sich die Zeit aus dem Gedächtnis gewischt hat. Ich genoß manches kleine Privilegium zur Zeit der Erdbeeren und Johannisbeeren und Pflaumen, und wenn der Honig geschnitten wurde; aber übrigens wurde mir der Bakel sehr reichlich zuteil: nicht wegen der Lektion, denn diese ging immer leidlich genug, sondern wegen mancher Unordnungen, die ich nach meinem damaligen Bedünken für gar kluge Streiche hielt. Meine früheste deutliche Erinnerung ist folgende: Ich hatte einen Vetter von gleichen Jahren, mit dem ich mich oft wacker raufte, weil wir die besten Freunde waren. Er ist nachher, wie ich höre, als Dragoner gestorben. Die Schule lag auf einer kleinen Anhöhe, und vor derselben unten war ein grüner Rasenplatz, über den der Abfluß einer herrlichen Quelle, die Heilige, nach dem dortigen Dialekt die Heleke genannt, sich schlängelte. Ein herrlicher Platz zum Balgen und Raufen, wenn er nur nicht unter dem Fenster des Schulmeisters gewesen wäre! Wir zwei jungen Streithähne hatten schon in der Schule Zwist gehabt, den der Bakel beschwichtigt, aber nicht geschlichtet hatte. Nun waren wir nicht länger zu halten; die Erörterung fuhr in die Finger, die Bücher wurden weggeschleudert und das Knuffen und Beinstellen und Raufen ging an. Die Größeren schlossen teilnehmend einen Kreis und lachten, wie rüstig die kleinen Kämpfer sich tummelten. Der Herr Pate Schulmeister rief und drohte mit dem Haselstock aus dem Fenster vom Berge herab. Niemand sah und hörte; das Boxen ging fort, und bald lag Jakob oben, bald Gottfried, und die kleinen Finger waren voll Gras und Haare. Plötzlich trennte sich der Kreis und der alte Herr Pate Held bearbeitete jugendlich rasch mit dem Haselinstrument unsere Beinkleider und Schulterblätter. Das versöhnte schnell wie der Blitz die Streitenden; wir sprangen auf, rafften die[57] Bücher zusammen; der Kreis zog fort und wir gegeißelt hinterher. Der Kreis lachte, die Pferdebändiger vor der Schmiede und Schenke lachten laut, wir stimmten ein; und lächelnd zog der alte Schulmonarch, den Friedensstifter des Haselbusches drohend noch in der Hand schwingend, nach seinem Berge zurück. Die Sache machte Lärm im Dorfe, und alles, vom Schulzen bis zum Nachtwächter, lachte noch laut nach; nur mein Vater tat es verstohlen, um den Buben nicht in seinen Streichen zu bestärken. Noch einige Jahre früher, und früher als meine Erinnerung reicht, hätte ein Zufall fast meiner Existenz ein Ende gemacht. Hinter dem Garten meines Vaters floß der kleine Bach Rippach, der ungefähr eine Stunde von Posern in die Saale fällt. Der Garten war mein Lieblingstummelplatz; nur fürchtete man für den kleinen Buben das Wasser. Es wurden eben alte Bäume ausgerottet und junge gesetzt; ich wurde also dem alten Jakob, der mit einigen andern arbeitete, zur Aufsicht übergeben, damit ich mich nicht dem Bache nähern sollte. Das hielt man gewissenhaft, beachtete aber nicht so sehr die Nähe. Ich springe und jage dort herum, und plötzlich fällt der alte Apfelbaum, an dem man arbeitete, faßt mich und schlägt mich zu Boden. Die erschrockenen Alten wenden und kehren mich nach allen Seiten; ich bin augenblicklich tot; Jakob nimmt mich auf den Arm und trägt die vermeintliche Leiche hinein in den Hof, wo mein Vater eben mit der Mutter an der Wäsche über Hausangelegenheiten sprach. Man stelle sich die Botschaft vor; meine Eltern liebten uns ohne lächerliche Schwachheit mit wahrem, tiefem Gefühl. »Herr, hier bringe ich den Jungen«, sagte der Alte, indem er mich auf den Wäschetisch legte, »er ist tot. Gott im Himmel weiß, ich bin unschuldig; ich wollte, der Stamm hätte mich getroffen.« Unter lautem Wehklagen suchte und[58] schickte man nach Hilfe. Der Barbier wandte alle seine Weisheit an, der Arzt kam; alle Mittel waren umsonst, kein Zeichen des Lebens erschien. Zwölf Stunden und darüber war man so traurig vergeblich beschäftigt und eben im Begriff zu enden und an die Beerdigungsanstalten zu denken, als ich das linke, sehr verletzte Auge aufschlug. Man fing wieder an und brachte mich ins Leben zurück. Es hatte mich nicht der Stamm, sondern nur einige starke Äste mit den Zweigen getroffen und die tiefe Betäubung bewirkt. Damals mochte ich ungefähr drei Jahre alt sein. Von den Quetschungen blieb wenig zu sehen, außer dem Flecken im erwähnten linken Auge, den man im zwanzigsten Jahre noch wahrnehmen konnte. Ein etwas späterer Vorfall hätte mich auch bald in jene Welt getragen. Mein Vater war damals schon in einer Pachtung als Gastwirt bei Leipzig. Das größte Vergnügen für mich war, die Pferde in die Schwemme und auf die Weide zu reiten, wozu ich jedoch nur selten die Erlaubnis bekam. Reiten hieß bei mir jagen, daß die Mähnen flogen und die Haare sausten. So ritt ich einmal gegen die Ordonanz mit in die Schwemme. Das Tier liebte den Strom ebensosehr als ich das Reiten, scharrte, stampfte und brauste: meine Hand war zu schwach, es zu halten, es legte und wälzte sich mit gewaltigem Wohlbehagen. Ich kam unter das Pferd, verlor die Besinnung und der Strom führte mich weit weit mit sich fort. Indessen hier erholte ich mich, als ich herausgezogen wurde, nach einigen Minuten Versuchen sogleich wieder; und lange Zeit blieb dem jungen Zentauren die Reiterei untersagt. Endlich kam mein Vater einmal von der Messe und hatte Pferde gekauft. »Junge, ich habe auch eins für dich mitgebracht«, sagte er, indem er sich zu mir wendete, und es wurde ein kleiner dürrer Rotschimmel[59] hervorgeführt, der nur vierthalb Füße hatte. Die Bestie hinkte und wieherte komisch, und alle lachten über meinen Vater, mich und den Schimmel. »Wir haben wohl recht viel Geld wegzuwerfen«, sagte meine Mutter halb ärgerlich, »daß du noch dergleichen Fresser ins Haus bringst.« »Frau, verdirb mir den Spaß nicht!« sagte er launig selbstzufrieden. »Ich habe es zur Zugabe, habe wahrscheinlich dem armen Tiere das Leben gerettet, denn der Roßtäuscher sprach vom Schinder und Totstechen. Wir haben heuer viel Heu, die Weide ist hoch: es kann doch wohl noch etwas tun; und da der Junge mit des Teufels Gewalt zu Pferde will, so mag er reiten.« Ich kratzte mich mürrisch hinter den Ohren und bekümmerte mich wenig darum, was man mit meinem stattlichen Reitpferde machte. Aber der Schimmel machte sich gut und gewann durch seine Streiche Zelebrität in der ganzen Gegend. Zuerst wurden wir aufmerksam, als wir ihn galoppieren sahen, womit er jedermann in Erstaunen setzte. Er hatte, wie gesagt, drei gesunde Hufe: der vierte war eine Art von krummem Klumpfuß, so daß vorn statt des Eisens nur eine Platte von der Größe eines Guldens lag. Der Schritt ging also jämmerlich und der Trott jämmerlicher, aber Galopp und Karriere wie bei dem besten Renner; da brauchte der kranke Fuß kaum den Boden zu berühren und wurde von den übrigen mit durchgetragen, welches im Schritt und Trott nicht möglich war, weil da jeder Fuß gleichmäßig seine Dienste tun mußte. Da ich mich um Schritt und Trott wenig kümmerte, war mir der Schimmel schon recht, und ich gewann nicht selten die Wette über die flüchtigsten Rosinanten. Er ward rund wie ein Apfel und war klug wie die Rosse des Peliden. Von seinem Stammbaum habe ich nichts erfahren; aber er war ein satirischer, origineller Gaul, der eine Menge Eigentümlichkeiten[60] besaß. Zu Wagen und Pfluge konnte er nicht gehen aber eine leichte Egge auf leichten Boden zog er possierlich genug. Er schwamm vorzüglich gern durch die Flüsse und dezimierte den Klee auf fremden Wiesen; und dann waren Dutzende von handfesten flinken Kerlen nicht im Stande, ihn zu fangen oder einzutreiben. Er setzte echt strategisch auf dem besten Punkte allemal durch und erreichte seine eigene Krippe. Nach dem Tode meines Vaters verkaufte ihn meine Mutter in die Nachbarschaft für elf Taler, wo er hart mitgenommen wurde. Einige Zeit nachher sah ich ihn fast wieder in seinem ursprünglichen Elend, wie ihn mein Vater nach Hause brachte, auf einer fremden mageren Weide, einen Sack um den Kopf, damit das arme Tier nicht von seinen Wanderungstalenten Gebrauch machen könnte. Als er meine Stimme hörte, kam er auf mich zu, und ich glaubte in seinem Wiehern Liebkosen und Wehmut zu finden. Auch meine Mutter war bei meiner Erzählung, welche von andern bestätigt wurde, so gerührt, daß sie fast die Schwachheit gehabt hätte, die heimische Kreatur wieder ins Haus zu nehmen.
Mein Vater war ein zwar heftiger, moralisch-strenger, aber kein harter Mann. Im Gegenteil, seine Heftigkeit kam meistens aus schneller, tiefer moralischer Empfindung her. Das Zuchtmeisteramt im Hause überließ er fast immer meiner Mutter, und diese hatte bei ernsthaften Gelegenheiten mit einigen Worten nur nötig, den Namen des Vaters zu nennen, um alles in gutem Gleise zu erhalten. Der Vater wurde dadurch nicht als Popanz gebraucht, sondern sein strenger Ernst in ernsthaften Dingen zum gehörigen Zwecke ins Licht gestellt. Meine Geschwister haben vielleicht nie von meinem Vater einen Schlag bekommen; nur ich erinnerte mich, daß ich von ihm einmal tätig gezüchtigt[61] worden bin auf eine schreckliche Weise, die ihn gewiß noch mehr angriff als mich; und zwar waren beide, er und ich, im Ganzen unschuldig. Er war mit meiner Mutter weg, ich glaube nach Weißenfels, gefahren und hatte uns mit einer Magd und unsern Spielgesellen allein im Hause gelassen. Unterwegs besinnt er sich, daß er den Schlüssel an einer Oberstube hat stecken lassen, auf welcher ein Tisch mit gezähltem Gelde stand, meistens in groben, harten Münzsorten. Es war zu spät umzukehren; er eilte aber desto eher nach Hause. Unterdessen waren wir in dem ganzen Hause herumgepoltert, ich mit einem halben Dutzend meiner Spießgesellen, und auch in das Zimmer, wo der Tisch mit dem Gelde stand. So viel Besinnung hatte ich doch schon als ein Bube von sechs Jahren, daß ich sagte, es sei hier für uns kein Spielplatz, auf Entfernung drang, den Schlüssel abzog und in die Tasche steckte. Ich glaubte der erste und letzte im Zimmer gewesen zu sein und hatte niemand in der Nähe des Tisches gesehen. Mein Vater kam, ging hinauf, fand den Schlüssel nicht, kam herab: »Junge, wo ist der Schlüssel zur Oberstube?« Ich zog ihn hervor; er ging wieder hinauf und zählte nach: es fehlte an der Ecke ein Guldenstück. Mit sichtbarer Verwirrung und Angst kam er wieder herunter: »Junge, wer ist im Zimmer gewesen?« »Wir alle, Vater, Jacob, Christian und die anderen; da ich aber sah, daß Geld aufgezählt war, gingen wir sogleich wieder heraus, und ich nahm den Schlüssel.« »Wer ist an den Tisch gekommen?« »Niemand als ich, um die andern abzuhalten.« »Du hast ihn also genommen!« fing er an schwach zu sprechen und zu zittern. »Ich habe nichts genommen«, antwortete ich zitternd, halb weinend. Der Worte waren wenig; er ward heftiger, ich leugnete fest und laut weinend. Er faßte mich konvulsivisch mit den Fäusten und mißhandelte[62] mich bis zur Grausamkeit, daß auf das Geschrei meiner Mutter die Hausleute und Nachbarn herbeistürzten und mich aus seinen Händen retteten. »Andres, lieber Andres«, sagte der alte sanfte Gevatter Schulmeister Held, »Ihr seid ja außer Euch; Ihr tötet ja den Knaben; kommt doch zu Euch selbst!« »Ach Gott!« seufzte mein Vater halb weinend, warf sich in den großen Stuhl und verhüllte das Gesicht, ohne weiter ein Wort zu sagen. Die Szene ist oft nachher wieder erzählt worden und mir deswegen so lebendig geblieben. Das Fürchterliche seiner Lage in diesem Moment habe ich aus meinem eigenen Gefühl seitdem mir oft vorgestellt. Er liebte seine Kinder mit der ganzen Zärtlichkeit eines Vaters und der ganzen Heftigkeit seiner Natur; ich war sein Erstgeborener; die Nachbarschaft hielt etwas auf mich, vom Schulmeister bis zum Nachtwächter, man wird ihm also verzeihen, daß er es auch tat. Nun denke man sich einen Vater, einen ehrlichen, feinfühlenden, heftigen Mann, der seinen Liebling in einer solchen Enormität ergriffen glaubt, vor dem die schönen Hoffnungen, an denen sein besseres Wesen hängt, auf einmal verschwinden! Man nahm mich nun gütlich vor und ermahnte mich, ich sollte nur bekennen; ich hatte nichts zu bekennen. Es ist mir noch jetzt rührend, wie urväterlich der alte Schulmeister um uns besorgt war. »Lieber Pate« sagte er, »du hast dich geirrt, du willst nur mit dem Gulden spielen. Sage es nur, so ist es gut: du wirst schon einsehen lernen, was das zu bedeuten hat.« »Das sehe ich schon jetzt ein«, sprach ich, »und habe nichts getan.« Dabei blieb es. Mein Vater war von dem Tage an still in sich gekehrt, berührte die Sache nicht mehr, sah mich zuweilen halb zornig, halb wehmütig an und verbat sich alles Einreden; sprach nichts Ermahnendes, nichts Abschreckendes, sagte keines seiner Sprichwörter und war wie[63] ein Wesen, dessen beste Kraft gelähmt ist, so daß auch meine Mutter sichtbar dabei litt: die Unruhe saß in beider Seelen. Ungefähr nach drei Wochen klärte sichs auf. Nachbars Samuelchen – ich habe seitdem den Namen weder in der Bibel noch außer der Bibel recht leiden können – wurde von seinem Vater zum Krämer geschickt, um eine Dose Schnupftabak zu holen. Er erhielt einen Gulden, um ihn wechseln zu lassen. Der Krämer hatte von ungefähr nicht so viel kleines Geld und sagte, er wolle anschreiben, er möchte den Gulden nur wieder mitnehmen und es dem Vater sagen. Sei es nun unwillkürlicher Irrtum, oder lachte der neue Gulden den Buben besser an als der vergriffene gestohlene; er gab den falschen Gulden zurück. »Halunke«, fuhr ihn der Vater an, »das ist gewiß der Gulden, der dort drüben so viel Unheil angerichtet hat.« Samuelchen bekannte und leugnete nicht und erhielt in bester Ordnung von seinem etwas härteren Vater die Peitsche in zehnfachem Maße. Meinem Vater fiel bei der Aufklärung der Sache ein schwerer Stein vom Herzen. Wer lügt, der stiehlt, war sein Sprichwort, und wer stiehlt, gehört an den Galgen. Er ward zusehends wieder heiter und suchte durch mancherlei versteckte Liebkosungen wieder Ersatz zu geben, denn öffentlich durfte das Ansehen nicht leiden.
Viele Neckereien bewogen meinen Vater, seine Grundstücke dort zu verkaufen und eine Pachtung eines Wirtshauses mit beträchtlicher Ökonomie in Knautkleeberg nicht weit von Leipzig einzugehen. Da spielte ihm denn das heiße Blut hier und dort schlimme Streiche. Der Justitiarius von Posern hatte bei einer Rügensache, wo sich mein Vater fast wie Weißens Kunze mit dem Tintenfasse benommen hatte, gedroht, er müsse kein Advokat und sein Prinzipal kein Edelmann[64] sein, wenn nicht die Sache so weit gedeihen sollte, daß der Andreas Seume noch ins Hundeloch käme für seine Ungebührlichkeiten. Ungebührlichkeiten nennt man aber alles, war irgendeinen alten Unfug antastet; und schon das feine Wort für Gefängnis zeigt hinlänglich die Natur der damaligen Patrimonialjustiz. »Ich will doch dem Teufel und seiner Hölle entlaufen«, sagte mein Vater, »und sollte ich in einer Kneipe Schuhzwecken schnitzen und Schwefelhölzchen machen mein Leben lang«; und so packte er seine Familie auf einige Wagen und pilgerte fürbaß an die Elster in der Gegend von Leipzig. Er hatte in seiner Jugend das Böttcherhandwerk gelernt, war auch mit dem Felleisen über Naumburg nach Gera und Saalfeld gewandert; da ergriff ihn aber, wie man ihm scherzhaft vorwarf, die Sehnsucht nach der Geliebten, und er eilte über Altenburg und Luckau nach Hause an der Rippach, ward Meister in der Innung und heiratete in seinem zweiundzwanzigsten Jahre stracks ohne weiteres Bedenken. Hätte er nicht etwas Vermögen gehabt und wäre genötigt gewesen, sich in der Fremde etwas umzusehen, so hätten vielleicht einige Jahre Umschauen den Feuerkopf etwas kühler gemacht; doch vielleicht hätte sich das Gefühl auch noch tiefer gesetzt und wäre nur desto bitterer geworden, wie es bei etwas mehr Bildung mir selbst gegangen ist. Der Antritt der Pachtung fiel in eine sehr unglückliche Periode, in die Hungerjahre 70 und 71. Der Besitzer des Gutes Lauer, zu dem das Dorf Knautkleeberg gehört, war der damalige Leipziger Stadtrichter, Dr. Teller, ein Bruder der bekannten Teller in Zeitz und Berlin, ein harter, unerbittlicher Mann, der von dem Buchstaben nichts nachließ und alles Unglück sehr klug dem Pächter zugestellt hatte. Vielleicht machte ihn auch das Mißliche seiner eigenen Geschäfte und sein[65] exzentrischer Ideengang noch mißmütiger und bitterer. Man sagte damals, er sei an der Ministerkrankheit gestorben, weil ihn die Hoffnung täuschte, die Stelle als Prinzenhofmeister zu erhalten, durch welche der wackere, rechtschaffene Gutschmidt für sich und das Land eine so rühmliche Laufbahn machte. Die Eigenheiten der Brüder sind bekannt genug: der Berliner, als der vorzüglichste von ihnen, hatte am wenigsten. Mein Vater, anstatt hundert Scheffel Korn in der neuen Pachtung jährlich zu verkaufen, mußte zur Unterhaltung der weitläufigen Wirtschaft über fünfzig dazukaufen; und ich kann mich noch recht wohl erinnern, daß er den letzten Scheffel mit fünfzehn Taler bezahlte. Die Hungersnot der damaligen zwei Jahre ist in Sachsen als Landeselend bekannt. Hunger haben wir nicht gelitten, aber meines Vaters Vermögen zusammen so ziemlich verzehrt. »Solange ich noch eine Metze Korn mit dem letzten Taler kaufen kann«, sagte der wackere Mann, »muß niemand in meinem Hause ungesättigt vom Tische aufstehen.« Es war, als ob die furchtbare Teuerung doppelten Hunger erzeugt hätte; denn jedermann aß, wie man bemerken wollte, fast noch einmal so viel als gewöhnlich. Ich galt damals im Dorfe für einen sehr glücklichen Prinzen, daß ich, so viel ich wollte, herrliches Butterbrot hatte, da mancher arme Teufel hungrig, halb neidisch vorüber schlich. Da gab ich denn manchen Schnitt weg und tauschte irgendein Spielwerk oder einen Vogel dafür ein. »Junge, wirst du ewig nicht satt?« sagte einmal meine Mutter, halb froh, halb traurig, als sie mir ein frisches Butterbrot schneiden mußte; »es ist doch, als ob der Himmel seinen Segen genommen hätte auch von dem, was noch da ist.« Das es sich aber ergab, daß ich meine vorige ziemlich starke Portion für einen Hänfling weggegeben hatte, fing sie an, eine strenge[66] Zuchtmeistermiene anzunehmen, und ich glaube wirklich, sie würde zu Birkengottfriedchen gegriffen haben, wäre nicht mein Vater dazu gekommen. Der meinte nun, es sei wohl ganz gut, daß ich mein Butterbrot verteile, nur nicht, daß ich Hänflinge, Peitschen und Platzbüchsen dafür nähme und dann komme und mir ein anderes erlüge; er könne übrigens jetzt nicht alle Hungrigen speisen und sei froh, wenn er nur seinen Haushalt leidlich gesättigt habe. »Wenn du nun selbst traurig, hungrig nach dem Butterbrot der andern sehen müßtest? Junge, wer zu dir kommt, den weise an mich oder die Mutter! Hunger tut weh, Junge, sagt man: das haben wir noch nicht erfahren; weiß der Himmel ob es nicht noch kommt! Hörst du, Junge, Hunger tut weh.« Dabei wischte er sich heimlich einige Tropfen aus den Augenwinkeln und ging und schnitt tief in ein großes Brot, um einige Zeit Sonnenschein auf finstere, niedergeschlagene Gesichter zu bringen. »Helfe euch Gott!« sagte er mit Rührung; »Bald können wir nicht mehr helfen.«
Bei meinem Herrn Paten, dem Schulmeister Held in Posern, hatte ich für einen Phönix im Lernen gegolten hier bei dem Herrn Weyhrauch in Knauthayn galt ich für einen ausgemachten Dummkopf. Weiß der Himmel woher es kam: ob mir das Umsetzen wie einem jungen Baume nicht bekommen wollte, oder was sonst die Ursache war, ich hieß nur der dumme Junge von Thüringen einige Jahre lang. Herr Weyhrauch nahm es mit der Geographie nicht sehr genau, denn Posern liegt noch zwei Stunden diesseits der Saale; ich aber habe mich seit der Zeit oft allen Ernstes für einen Thüringer gehalten, zumal da ich jenseits des Stroms verschiedene Verwandte hatte und hier nie so recht einmeißnern konnte. Ich schrieb von Posern aus in meinem sechsten Jahre schon eine ziemlich leserliche[67] Hand; aber Herr Weyhrauch fand darin weder ductum noch fructum, und ich mußte durchaus ganz von neuem seine Hopfenstangen von Buchstaben nachmalen, worin ich sehr unglücklich war, da ich zum Zeichnen fast gar kein Talent besitze. Herr Adam Weyhrauch war ein ehrlicher, wohlmeinender, braver Mann, der eine gewaltige Zeit in Halle und Leipzig hatte studieren helfen, weil ihn sein Vater Weyhrauch, ludimagister eiusdem loci, quo postea filius, mit aller Gewalt wenigstens zum Kirchenrat machen wollte. Der Tod überraschte ihn aber im sechsten Universitätsjahre des Herrn Sohnes, und er hatte noch eben Kredit beim Patron genug, da er der höheren Klerisei nicht recht trauen wollte, sich denselben zum Nachfolger auszumitteln. Der Musensohn versorgte sich stracks in Leipzig mit einem hübschen Bürgermädchen zu Tisch und Bette und fing nun an, mit allem Fleiß am Weinberge Zions zu arbeiten. Schade, daß er keine Kinder hatte, um das Geschlecht der Weyhrauche in der Schulmeisterei zu Knauthayn rühmlichst fortzupflanzen. Die Bauern meinten, sein Mangel an Produktivität dieser Art rühre von seinem großen Fleiße in Leipzig und Halle her; doch sagten sie dieses nur ganz leise, damit sein Ansehen bei der lieben Jugend nicht in Zweifel geriet. Er hatte seine liebe Not mit mir, und ich mit ihm. Ich glaubte zwar seiner Aburteilung über meine Dummheit nicht ganz, war aber doch ganz verblüfft daß ich dem Manne durchaus gar nichts zu Danke machen konnte. Lange Zeit war ich so in vermeintlichem moralischem Hinbrüten, bis sich endlich, ich weiß nicht wodurch, der Knoten löste und täglich irgend etwas Besseres zum Vorschein kam. Niemand war darüber froher als mein Vater, der schon einige Male traurig das Verdammungsurteil über meinen Geist gehört hatte. Wer zuerst etwas Ätherisches in mir entdeckte,[68] war der Pfarrer, Magister Schmidt, ein rechtlicher, jovialer, ziemlich gebildeter und ziemlich orthodoxer Mann, in dessen Charakter aber der Grundzug freundliches Wohlwollen und Güte des Herzens war. Er schloß aus meinen oft sonderbaren Antworten in den öffentlichen Kirchenprüfungen auf meinen eigenen, zuweilen sehr barocken Ideengang, unterhielt sich viel mit mir und berichtigte meine Gedanken. Er besaß darin so viel Geschicklichkeit, als ob er in dem sokratischen geistigen Hebammeninstitut zur Lehre gegangen wäre. Nun sprach er mit dem Schulmeister, Herrn Weyhrauch, über die Methode des Unterrichts bei einem solchen Kopfe; die Einwendungen des Schulmeisters wurden gehoben; der Pfarrer zeigte ihm, daß ich kein Mechaniker und kein Schönschreiber werden und mich schwerlich mit Nachbeten begnügen würde. Man beschränkte sich nun auf die Negative und überließ die Positive mir selbst. Von nun an nahm man wenig Notiz mehr von meinen krummen und schiefen Linien auf dem Papier und meinen Stelzfüßen und Buchstaben, sondern nur von meinen Ideen, womit ich den Schulmeister und auch wohl zuweilen den Pfarrer in einige Verlegenheit setzte. In kurzer Zeit übersprang ich alle Matadorjungen der Dorfs in der Schule und ward bald der Erste und Statthalter des Herrn Weyhrauch bei dessen Abwesenheit als Bienenvater und Spargelgärtner. Die Umstände und die Gesundheit meines Vaters waren unterdessen sehr gesunken, so daß man meine bessere Anstelligkeit nicht den Gratialen und der Gunst von Hause aus zuschreiben konnte. Ich mochte ungefähr zehn Jahr alt sein, als ich schon an der Spitze der Dorfschuljugend stand, unter denen doch wohl einige ihr vierzehntes geschlossen hatten. Mein Regiment galt für sehr strenge, aber nie für ungerecht; und ich war damals der Dorfklerisei erster[69] Minister bei Einführung der neuen Schulordnung, die zu derselben Zeit etwas strenge gehandhabt wurde. Ich erinnere mich aus dieser Periode bei eben dieser Gelegenheit eines Vorfalls, wie ich ein Märtyrer meiner Überzeugung wurde. Es war befohlen, die Kinder sollten ordentlich nach Rang und Alter in der Schule paarweise nach Hause gehen, um das wilde Herumschwärmen zu verhüten. Ich gehörte zu dem Nebendorfe Knautkleeberg und hatte die Aufsicht über meine Kolonne. Die meiste Not machte mir ein fast fünfzehnjähriges großgewachsenes Mädchen, das sich in der Schule durch Langsamkeit im Lernen und außer derselben durch vorschnelle, laute Unbändigkeit auszeichnete. Beständig war sie bald rechts, bald links aus der Reihe, bald im Grase, bald im Schotenfelde und schien des kleinen ohnmächtigen Wichtes von Führer nur zu spotten. Es dem Herrn Weyhrauch zu klagen, schien mir unter meiner Würde, zumal, da er ihrer Eltern wegen viel Nachsicht gegen sie zu zeigen schien, denn sie war die Tochter des Müllers. Als ich ihr eines Tages einige Male ohne Erfolg Ordnung geboten hatte, ergriff mich mächtig schnell der Amtseifer, daß ich hinsprang, um sie aus einem Haferfelde in Reihe und Glied zu bringen. Sie lachte und verließ sich auf ihre Gewalt; aber der Himmel weiß, wo in dem Augenblick meine Stärke herkam, ich fasse das Weibsstück beim Kragen, um sie in die Ordnung zu ziehen, schleudere sie aber aus dem Haferfelde unglücklicherweise den Berg hinab in die Sandgrube, wo sie denn gar unsanfte Purzelbäume schoß und sich wenigstens Hände und Gesicht empfindlich an den Steinen zerstieß, so daß reichliches Blut quoll. Nun ging alles schüchtern nach Hause. Den Nachmittag war die liebe Mama schon klagbar eingekommen, Herr Weyhrauch mit dem Haselzepter zitierte den jungen Primus vor zum Verhör[70] und Standrecht. Ich erzählte die Sache und bestand auf meinem Recht; nur bedauerte ich den Sturz in die Sandgrube, der nicht in meiner Absicht gelegen hatte. Der Schulmeister wollte seinem Vikar doch so viel ausübende Justizgewalt nicht zugestanden wissen und meinte, Weisung und Meldung sei sein Amt. Ich behauptete im Gegenteil, daß ich damit nicht auskommen könnte. Herr Weyhrauch glühte auf, und ich war eben nicht sehr nachgiebig; er brachte mir im Amtseifer gehörigen Orts einen tüchtigen Schilling bei. Diese Schillingsmethode war bei ihm folgende: der pädagogische Vollstrecker faßte Deliquenten mit der linken Hand beim Haarschopf und brachte den Kopf zwischen die Schenkel des Orbilius, wo er ihn an Nacken und Ohren festklemmte und mit eben dieser linken Hand schnell den Hosengurt des kleinen Sünders ergriff, woraus eine Art von Schweben entstand: sodann bearbeitete er mit der rechten, in welcher der Haselstock war, das Örtchen, auf welchem man sonst ruhig sitzen soll, quantum satis, und wohl auch ein wenig mehr. Dieser Prozeß wurde auch an mir vollzogen, und ich hatte meine Abfertigung. Beim Abmarsch nach meinem Sitze verwahrte ich mich noch mit dem Protest, ich habe doch recht getan. »Hast du?« rief Herr Weyhrauch und fing mit neuem Eifer die Exekution von vorn an. Nun schritt ich rasch an meine Tafel, hielt die Hand, wo die Kallipyge die Augen hindreht, und stieß trotzig durch die Zähne: »Ich habe doch recht getan«. Die Nachbarn lachten, und der Schulmonarch fragte despotisch, was da wäre. »Er habe doch recht getan, meint er«, sagten sie; und die Zitation begann peremptorisch von frischem. Ohne weitere Erörterung fing die Bearbeitung noch exemplarischer zum dritten Male an, und nun erst überlegten beide Parteien, Exekutor und Inkulpat, ernsthaft still, ob sie recht getan hätten. Man kann[71] wohl denken, daß die drei Schillinge mir eine ewig frische, denkwürdige Münze sind, da sie zumal in einer Lebensperiode ausgezahlt wurden, wo jede Art Gefühl sehr lebhaft in dem treuen Gedächtnisse bleibt. Mein Vater, der den Vorfall hörte, sagte weiter nichts als sein bedenkliches Hm, und ich habe nie seine Meinung über den streitigen Punkt erfahren. Daß man, wenn man recht habe, dennoch demütig vor dem Ansehen schweigen müsse, gehörte, wie ich wußte, nicht unter seine Glaubensartikel; aber noch weniger gehörte es darunter, das nötige Ansehen des Lehrers wegen einiger Schwielen zu kompromitieren. Herr Weyhrauch mochte das Harte seiner Züchtigung meiner kleinen Hartnäckigkeit fühlen, denn er suchte es durch allerhand freundliche Aufträge, wofür mir gewöhnlich eine Belohnung von herrlichem Brot mit dem besten Honig ward, wieder in das alte Gleis zu setzen.
Um diese Periode, ich glaube, es war 1775 im Sommer, starb mein Vater. Die Geschichte seiner Krankheit und seines Todes ist mir zu wichtig, als daß ich nicht einiges darüber sagen sollte. Seine Pachtung war, wie erwähnt, sehr unglücklich, und der größte Teil seines Vermögens war draufgegangen. Das lähmte aber nicht sein Kraftgefühl und störte seinen guten Mut nicht. Einst hatte er seine letzten hundert Taler nach Leipzig getragen zu Dr. Teller, um den letzten Termin zu entrichten. Das Wetter war schneidend kalt; das Geschäft mochte nicht angenehm gewesen sein. Gegen die Kälte und den Verdruß hatte er, wider seine Gewohnheit, ein Glas Wein getrunken und hatte sich so aufs Pferd gesetzt, kam aber bis zur Erstarrung gefroren zu Hause an, so daß ihm der Knecht vom Pferde helfen mußte, obwohl er sonst der behendeste Mann war. Nun bestellte er sich Kaffee, den meine Mutter selbst in der Küche besorgte. Als sie damit ins Zimmer tritt, findet sie, daß[72] er seinen großen Stuhl verlassen und sich auf ein Bett geworfen hat, wo er tief in Federn lag und schlief. Sie dachte, Schlaf ist besser als alle Arznei, und ließ ihn liegen. Den Tag darauf klagte er über Schwere in den Gliedern und den folgenden Tag über Schmerzen im Unterleibe. Es scheint, die Bettwärme hatte die Kälte, die sich nicht wieder mit dem übrigen Körper in Temperatur setzen konnte, zurückgetrieben, und es entstand daraus eine Blasenkrankheit, die ihn einige Jahre mit unsäglichen Schmerzen quälte und ihn am Ende des dritten durch eine Apoplexie tötete. Man kann denken, wie sehr seine Haushaltung bei dieser traurigen Existenz leiden mußte, und doch verlor er bis an sein Ende niemals einen gewissen Grund von Heiterkeit und Frohsinn; nur hatten ihn seine Erfahrungen etwas bitter gemacht, so daß sich seine wahre Meinung oft sprichwörtlich ziemlich sarkastisch äußerte. Das Minimum von allem Guten, wodurch die Welt regiert wird, war einer seiner gewöhnlichen Gedanken; nur konnte er ihn nicht so dichterisch schön einkleiden, wie wir hier und da in Wielands Schriften finden. »Junge«, pflegte er mir oft mit skeptischem Gesicht zu sagen, »wenn man dir von oben her zuruft das Wasser läuft den Berg hinauf, so mußt du gleich antworten: Gnädiger Herr, soeben ist es oben.« Ärzte wurden angenommen und gewechselt ohne Erfolg, und ich erinnere mich gehört zu haben, man habe mehr als zweihundert Taler umsonst verdoktert. Als er in seinem 37sten Jahre starb, ließ er seine Geschäfte in der mißlichsten Lage und meine Mutter als Witwe mit ungefähr fünf Kindern, wovon ich als der Älteste ungefähr zwölf Jahre war. Es entstand eine Art von Konkurs, wobei aber durchaus niemand einen Heller verlor; nur blieb meiner Mutter nichts als die winzige Summe von zweihundert Talern, wofür ihr ein kleines[73] Häuschen gekauft wurde. Alle nahmen sich unser mit Rat und Tat sehr freundlich an, und es fehlte uns wenigstens nie an dem Notdürftigsten. Der brave Justitiarius Laurentius der Hohentalischen Güter vorzüglich suchte die unglückliche Familie so sicher als möglich zu stellen und nahm für seine vielen Bemühungen in unserer Sache nicht allein nichts, sondern ließ uns auf eine feine humane Weise noch manchen kleinen Vorteil zufließen. Mein Vater hatte kurz vor seinem Tode am Ende der Pachtung eine kleine Ökonomie mit etwa sechzehn Ackern Feld gekauft. Das Drückendste für ihn an Körper und Geist war die Frohne, die er selbst verrichten mußte, wenn nicht sogleich alles zugrunde gehen sollte. Die Sense war seinem jetzt schwachen Arme zu schwer, er mußte einige Male die große Wiese verlassen. Ich erinnere mich, daß einige entmenschte Seelen, wie es deren überall gibt, unter andern der zeitige Vogt, ihre bitter groben Bemerkungen darüber machten, als sie ihn vor seiner Haustüre mit einem kleinen Knaben, meinem jüngsten Bruder, spielen sahen. Der gute Mann wischte sich die Augenwinkel und legte sich lange einsam in den entlegensten Teil des Gartens. Nach drei Tagen lag er auf der Bahre. Ob wohl diese rohen Seelen dabei einige bessere Gefühle in sich empfunden haben? Dieser Vorfall vorzüglich ist mit Ursache meiner folgenden, tief konzentrierten, nicht selten finster mürrischen Sinnesweise. Ich habe die Katastrophe nie loswerden können, ob ich gleich selten oder nie davon gesprochen habe.
Der Graf von Hohenthal-Knauthayn, der das Gut Lauer gekauft und mich zuweilen in der Schule und bei Kirchenprüfungen mit einigem Wohlgefallen gesehen hatte, hatte bei meines Vaters Tode erklärt, er wolle für mich sorgen und mich etwas lernen lassen. Was[74] dabei seine Gedanken waren, weiß ich nicht. Meine Mutter und ich deuteten auf irgend ein Handwerk; wenigstens verstrich eine ziemliche Zeit, fast von zwei Jahren, ohne daß wieder etwas darüber gesprochen wurde. Unterdessen nahmen sich der Pfarrer, M. Schmidt, und der Schulmeister Weyhrauch meiner wirklich sehr väterlich an. In meinen Kenntnissen kam ich zwar diese beiden Jahre nicht merklich vorwärts, da ich den übrigen schon sehr voraus war und man sich höchst selten mit mir beschäftigte; aber es fing doch durch den Umgang schon an, sich der bessere Charakter der Humanität zu entwickeln. Mein Studium war biblische Geschichte aus Hübners biblischen Historien und Luthers Bibel selbst, nebst einigen alten asketischen Schriften, die mir der Schulmeister gab. Damals gewann ich eine solche Festigkeit und Gewandtheit in der Bibel, daß ich nur selten einen Spruch nicht hersagen und angeben konnte, der verlangt wurde. Ich wußte sehr viele Psalmen und fast alle Evangelien auswendig, sagte ziemlich genau, wieviel jedes Buch Kapitel und sogar, wieviel jedes Kapitel Verse hatte, und wo und in welcher Verbindung die sogenannten Beweisstellen standen; so daß mir von dieser Zeit an die Gewohnheit geblieben ist, bei manchen Gelegenheiten eine Reihe Bibelstellen anzuführen, worüber zuweilen selbst Theologen sich etwas wundern. Ob sie wirklich bewiesen, was sie beweisen sollen, danach fragte ich damals noch nicht; es war nur Sache des Gedächtnisses und eines lebendigen Ideenspiels ohne weitere Untersuchung. Im Examen wurde ich nur dann gefragt, wenn irgendein Knoten zu lösen war, oder die übrigen verstummten, und dann setzte meine Belesenheit und der Strom meiner Beweisstellen nicht selten sogar den Pfarrer in Erstaunen. Nicht selten geschah aber auch ganz natürlich,[75] daß die Sache anfing mir Langeweile zu machen, und da war ich denn, wenn ich gefragt wurde, nicht gegenwärtig, sondern mit meinen Gedanken auf dem Turme bei den Sperlingen oder im Busche bei den Sprenkeln, die ich gestellt hatte. Das gab dann harte Verweise, die mich aber verhältnismäßig weniger rührten, weil ich anfing, etwas mehr zu ahnden als bloßes kaltes Spiel des Kopfs, wie ich endlich hier fand. Doch war das nicht immer der Fall: denn der Pfarrer, ein wahrhaft guter, warmer Mann, hatte nicht ganz gewöhnliche Rednertalente, und es machte jedes Mal einen tiefen Eindruck auf meine Seele, dessen ich mir noch jetzt lebendig bewußt bleibe, wenn er irgendeinen wichtigen moralischen Satz mit eigenen oder, wie ich nachher fand, erborgten Worten feuervoll vortrug. Dem Menschen ist sehr bald das rein Menschliche heilig, so wie er bald gleichgültig gegen das wird, was sein Kopf nicht begreift, und was sein Herz in keine Bewegung setzt.
Ich konnte lange zu keiner Wahl einer Lebensart kommen, so unbestimmt waren noch meine Ideen vom Leben überhaupt. Solange mein Vater lebte, wurde ich halb und halb zum Kaufmann bestimmt, da er einige Bekanntschaft dieser Art in Leipzig hatte; und ich hatte damals geradezu nichts dagegen. Allein das zerschlug sich mit seinem Tode, und ein Handwerk sollte wahrscheinlich der Gipfel meiner Bestrebungen werden. Aus einer angeborenen Neigung zum Soliden entschloß ich mich endlich, ein Grobschmied zu werden. Meine Mutter erschrak und M. Schmidt lachte, als ich mit dem Resultat meiner Überlegungen herausrückte, und beide hatten viele Mühe, mir die Sache auszureden. »Junge, du bist ja nur ein Zwerg und sinkst mit Hammer und Zange vor dem Amboß zusammen wie ein Taschenmesser«, sagte der gutmütige Pfarrer.[76]
»Dazu gehört ein Zyklobe und kein Liliputer, wie du bist.« Ich verstand das letzte nur halb, gab aber doch dem Einreden meiner Mutter nach und den vulkanischen Vorsatz auf; doch gehe ich noch jetzt selten vor einer Schmiede vorbei, wo nicht der alte Hang zur Solidität merklich zurückkehrte. Nun bestimmte ich mich zum Dorfschulmeister, wollte etwas Latein und Musik erlernen und dachte, mit dem übrigen nach einiger Vorbereitung schon nicht übel durchzukommen, denn ich galt für einen gewaltigen Katecheten. Noch bei Lebzeiten meines Vaters hatte ich einmal gelegentlich von ungefähr gesagt, es müßte nicht gut sein, wenn ich nicht über einen Satz hundert Fragen bilden wollte, ohne eben am Ende zu sein. »Das traue ich ihm zu«, sagte der Schulmeister, dem es gesagt wurde; »und die Fragen würden toll genug sein.« Der letzte Zusatz war mir eben nicht sehr willkommen und machte mich aufmerksam. Seit der Zeit habe ich mich geflissentlich vor vielen voreiligen Fragen gehütet, habe die Sache wahrscheinlich zu weit getrieben und dadurch manches nicht erfahren, was ich hätte erfahren können und sollen. Ein Narr fragt mehr, fiel mir immer ein, als ein Weiser beantworten kann. In der Bestimmung zum Dorfschulmeister mochte wohl ganz leise der Blick auf Herrn Weyhrauch, sein herrliches Bienenhaus, seine vortrefflichen Spargelbeete und seine schönen Rosen und Nelken auch mitwirken; denn es schwebte mir vielleicht dunkel vor, daß bei gehöriger Einleitung und Ausdauer das alles mein werden könnte. Jede sitzende Lebensart war mir verhaßt, und obgleich ein Schulmeister auch sitzen muß, so begriff ich doch schon damals, daß sich viel Wesentliches in seinem Amte sehr vorteilhaft peripathetisch abmachen ließe. »Junge, was du für Einfälle hast!« sagte M. Schmidt bei dieser neuen Entdeckung. »Werde doch lieber Leinweber, ein[77] Dorfschulmeister ist ein jämmerliches Tier. Denkst du denn, sie haben es alle wie unser Weyhrauch?« Und nun fing er an, mir ein gar schreckliches Gemälde der armen Dorfschulmeisterlein in Thüringen und Meißen zu zeichnen. Ich ließ mich aber nicht abhalten und meinte, jeder Stand habe seine Plage und seinen Frieden. »Nun, wir wollen sehen, wie weit es geht«, sagte er und tat Meldung an den Grafen.
Einige Zeit darauf wurde Anstalt gemacht, mich zum Rektor Korbinsky nach Borna zu bringen. Hier kam ich denn wie ein halber Hurone, moralisch gut gebildet, wenigstens ganz unverdorben, aber wissenschaftlich ganz roh und wild an. Der alte Herr nahm mich freundlich väterlich auf und ist von allen meinen Lehrern derjenige, dem ich am meisten verdanke. Er hatte mehrere Pensionärs, unter denen ich der älteste und unwissendste war; ausgenommen meine Bibelweisheit, in welcher mir es auch dort niemand zuvor tat. Das Haus war patriarchalisch gut, und seine Frau war mehr als meine zweite Mutter. Er gab mir kurze, gemessene, deutliche, sehr gründliche Anleitung; das Bedürfnis drängte, der Ehrgeiz spornte, und binnen einem Jahre stand ich so ziemlich mit den übrigen auf gleichem Fuße, die schon vier und fünf Jahre hier gewesen waren, und am Ende des zweiten war ich fast entschieden der erste an Kenntnissen. Der erste an der Tafel konnte ich mit Salomons Weisheit nicht werden, denn da waren zuerst Rücksichten, die ich schwer begriff und noch schwerer billigte. Das schien mir die einzige schwache Seite des guten Mannes, doch war sie bei ihm sehr unschädlich; denn es ging deutlich aus der Behandlung hervor, daß er etwas anders rangierte als man in der Klasse saß, und ich war nun schon so weit, daß immer die schweren Stellen an mich kamen. Der Rektor überließ mich mir selbst; und da war ich[78] denn zuweilen entsetzlich fleißig und zuweilen entsetzlich faul. Das zweite übersah er zuweilen des ersten wegen, und ein Hm hm mit Kopfschütteln oder ein »Du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!« waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen. Wie ich im Lateinischen und Griechischen deklinieren und konjugieren gelernt habe, weiß ich selbst kaum. Ich las und las, bis es fest blieb; dann las ich Stellen und analysierte und setzte wieder zusammen, da dann die logische Notwendigkeit sich meiner Seele aufdrang, daß es so sein müsse und auf diese Weise nicht anders sein könne. Die Ausnahmen, wenn man sie nur einige Male gelesen hatte, fielen deutlich genug in die Augen.
Hier ließ mein Bibelstudium ziemlich nach, und an dessen Stelle trat die Beschäftigung mit lateinischen Sprichwörtern, welche Weisheit des Lebens lehren. Der Rektor Korbinsky selbst hatte eine Sammlung solcher Sprichwörter in Altenburg drucken lassen; ein sehr nützliches Buch für junge Anfänger, das aber wenig bekannt zu sein scheint. Da ich im Leben schon etwas Gewandtheit besaß und mein Vater gern in Sprichwörtern redete, machte sich der Rektor ein Vergnügen, mich die Übersetzung auch sprichwörtlich versuchen zu lassen, da dann zuweilen barockes Zeug zum Vorschein kam. So kam einmal das horazische Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi vor; der Rektor forderte es sprichwörtlich. Wenn sich die Könige raufen, müssen die Bauern Haare lassen, sagte ich. »Recht gut, recht gut!« versetzte der Rektor; »Nur etwas zu sehr vom Dorfe, etwas zu – zu –« ich verstand, er wollte sagen, zu grob. Ich entgegnete, daß das lateinische Delirant und Plectunbur eben auch nicht sanft sei, und daß man eine solche Sache recht handgreiflich sagen dürfe. »Nun gut, es mag gehen«, sagte[79] er, da er selbst nicht gleich ein feineres Sprichwort finden konnte. Die Frau Rektorin gab sich alle ersinnliche Mühe, mich fein und artig zu machen, so wie der Herr sich bestrebte, mich zur Tugend und Weisheit zu bilden. Inwiefern es dem Rektor gelang, kommt mir nicht zu, zu bestimmen; aber ihr gelang es sehr schlecht. Mein Anzug war immer sehr nachlässig, meine Haare grotesk struppig und meine Schuhe schmutzig. Vor allem hatte sie ihren Krieg mit meiner Stirne, die ich nach ihrer Meinung unerträglich runzelte. Ehe ich mich versah, versuchte sie eine Glättung mit der Hand oder auch wohl mit der Bürste und drohte sogar mit der Striegel; aber alles umsonst. Sobald ich in Gedanken geriet und etwas Eigenes oder Fremdes ruminierte, traten die Runzeln wie Furchen auf die Stirne, und die Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Das ist geblieben, und man hat mich oft für melancholisch mißmutig gehalten, wenn ich meine seligsten Gedanken hatte. Der Rektor nahm davon keine Notiz, da er selbst etwas von der nämlichen Unart besaß und es wahrscheinlich für ein Adiaphoron hielt. Er gab mir selbst das Zeugnis, daß ich bei ihm in zwei Jahren so viel getan habe, als andere in sechs Jahren und drang bei meinen Gönnern auf meine Entfernung, weil ich nunmehr meine Zeit besser anwenden könne und müsse. Ich hätte bei ihm noch lange, noch sehr viel lernen können; allein seine Zeit erlaubte ihm nicht, sich mit mir besonders zu beschäftigen. Doch gab er mir noch einige hebräische Stunden, so daß ich auch hierin ihm den ersten Grund dankte Ich kam sozusagen ohne die geringste Kenntnis zu Ihm und las doch meinen Cicero und ein leichtes griechisches Buch ziemlich geläufig, als ich nach zwei Jahren sein Haus verließ; nicht zu erwähnen, daß ich ihm den besten Grund in der Geschichte und Geographie[80] und andern ernsthaften Wissenschaften verdanke. So habe ich bei niemand wieder die Reformationsgeschichte so deutlich, gründlich und pragmatisch gehört als bei ihm. Er war überhaupt in der Kirchengeschichte sehr stark, studierte unermüdlich und ließ nichts Gutes in jedem Fache ungelesen. Auch Fischer, der mehrere Reisen mit Beifall geschrieben hat, und Mahlmann sind seine Schüler, und ich zweifle nicht, sie werden gern das Wesentliche unterschreiben, was ich hier von ihm gesagt habe. Das Haus dieses Mannes nebst meines Vaters Hause sind der Grund alles Guten, was ich vielleicht in meinem Charakter habe. Ich habe erst nachher durch Vergleichung recht gefunden, wie rein die Sitten und wie fein zugleich in meines Vaters Hause waren. Ich höre jetzt oft in den besten Gesellschaften und in sonst sehr guten Häusern Gesinnungen und Ausdrücke, für die uns der Vater aus dem Hause in den Viehhof würde geschickt haben. »Dergleichen Reden schicken sich wohl bei Tische« sagte er oft fürchterlich skeptisch, wenn jemand etwas Ungesittetes äußerte, »nur nicht beim Mistladen.« Wenn das Gesinde nicht gesittet sprechen konnte, mußte es schweigen; das war mit die erste Bedingung bei der Annahme. Ohne je ein Wort Latein gelernt zu haben, übte niemand strenger als er das sit reverentia pueris! Er wußte, ich weiß nicht wie, die meisten Stellen unserer damals neuesten Dichter, und Bürgers Weiber von Weinsberg erinnere ich mich zuerst von ihm gehört zu haben, mit Varianten bei mißlichen Stellen, deren sich vielleicht kein Kritiker hätte schämen dürfen. Woher er das alles hatte, weiß ich nicht, da er wenig las und wenig Zeit dazu hatte. Bei Korbinsky wurde dieses feinere moralische Gefühl sorgsam genährt. Niemand verstand die unschuldige Eutrapelie des Lebens besser als der alte Mann. Er nannte[81] z.B. den Schwager nie anders als Herr Bruder, die Schwägerin Frau Schwester usw., und das mit viel wahrer Herzlichkeit. Alle seine Zöglinge waren wie seine Kinder, und er nahm auch nachher den wärmsten Anteil an ihren Schicksalen. Es war ein Unglück im Hause, wenn einer seiner ehemaligen Schüler etwas getan hatte, das einem schlechten Streiche ähnlich sah. »Du lieber Gott, was soll aus dem Menschen werden? Das macht mich sehr unruhig.« Und das verderbte ihm wirklich Schlaf und Mahlzeit. Über mich soll er in der Folge oft abwechselnd getrauert und gejubelt haben, bis er sich endlich fest überzeugt habe, ich werde auf keine Weise seiner Erziehung Schande machen, glücklich oder unglücklich: dann sei er ruhig geworden. Nur das Laster hielt er mit den Alten für beweinenswertes Unglück. Der Aufenthalt bei ihm ist mir immer die schönste, reinste Erinnerung gewesen und wird es immer bleiben. Segen seiner Asche!
Zuletzt wurde es aber hohe Zeit, daß ich wegkam, da ich die übrigen sehr übersah und zuweilen übermütig und üppig, zuweilen verdrießlich allein stand. Das war denn die Zeit der Streiche, die oft etwas mehr als lustig, die jugendlich verkehrt und unbesonnen waren. So nähten wir, dux gregis ego, wenn er zuweilen eine kleine Erholungsreise machte, alle alten Fußdecken zu Zelten zusammen und hielten unser Scheibenschießen mit dem Blasrohr darunter. Das ging an. Aber oben lagen ein Paar alte Reiterpistolen. Feuergewehr war von meinen ersten Jahren meine Lieblingssache. Die Pistolen wurden in den Dienststand gesetzt, geputzt, geschmiert und wieder geputzt und mit scharfen Steinen versehen. Sodann wurde Pulver geholt bei dem Krämer, der keine Bedenken trug, es uns zu geben, da wir draußen in der Freiheit zuweilen Schwärmer machten, die nichts schadeten. Nun wurde das Scheibenschießen[82] und zwar in des Rektors Hofe, da wir nicht heraus durften, ernsthaft. Eine große Scheibe wurde mit den gehörigen Abteilungen an die Privattüre gemalt, und es war eine Lust, wie die Kugel durch das Brett fuhr und der Knall inwendig an der Stadtmauer hindonnerte. Das Herz zitterte allen im Leibe vor Freude. Ungefähr vier Schüsse waren gefallen, da erschien der Superintendent, Herr Richter, und der Stadtwachtmeister, Herr Herrmann, mit gar finstern Amtsgesichtern. Wir standen nun selbst wie angedonnert da. »Lassen sie sich nicht stören, meine Herren«, sagte Herr Herrmann, »wir wollen bloß ein bißchen zusehen, wie hier kanoniert wird.« Der Superintendent, Herr Richter, im großen, weitwogenden Schlafrock, sagte kein Wort, und so gingen sie fort. Schnell wurden die Gewehre wieder in die alte Rüstkammer gebracht, und es war ein ängstliches Harren der Dinge, die da kommen sollten. Einige ehrliche Spießbürger, die vorbei gingen und den Vorfall gehört hatten, hielten nun schreckbare Galgenpredigten über das Verbrechen des Schießens innerhalb der Stadtmauer. Der Abend kam und mit ihm der Rektor; finster und stumm war sein Antlitz, denn wahrscheinlich schon am Tore war ihm die Kanonade berichtet worden. Der Morgen kam und keine Silbe, weder freundlich noch ernst, nur fing man an, sich ins Ohr zu raunen, ich als der unbefugte Feldzeugmeister werde mit bewaffneter Polizei ins Stadtgefängnis abgeholt werden. Schon dachte ich an die Flucht, als der Rektor mich, den ersten Inkulpaten, zu sich ins Kabinett zitierte, und mir namens des Magistrats, des Ministeriums und der Schule eine Strafpredigt hielt, die ernst genug war. »Ihr seid doch tolle Menschen!« schloß er endlich freundlicher mit entwölkter Stirne. »Man darf euch keine Stunde allein lassen, so macht ihr sogleich ein Dutzend wilde[83] Streiche.« Nun kamen die andern daran; mit denen ging es bald härter, bald glimpflicher. Am schlimmsten kam ein Dummkopf weg; denn der hatte nichts, womit er wiedergutmachen konnte. »Nur hier bleibst du nicht zurück, da bist du mit der erste«, hieß es. Allein ein solcher Kopf kann auch mehr vertragen.
Ein andermal waren wir einem Vogelsteller in den Dohnstrich geraten, hatten die Krammetsvögel ausgenommen und Frösche dafür eingehängt. Der Schnellfuß überraschte uns; der Spott verdroß ihn mehr als der Schaden; ich war weit voraus. Die andern kamen mit einigen Kopfnüssen durch; ich, als der auctor facinorum, sollte eine exemplarische Züchtigung haben. Aber durch viele Umschweife und große Anstrengung entwischte ich glücklich nach der Stadt. Die Krammetsvögel durften wir nicht nach Hause bringen; bloß der Schwank belustigte, und mit vieler Mühe stellten wir ihm sein Eigentum wieder zu und beschwichtigten ihn durch Bitten, nicht klagbar bei dem Rektor gegen uns einzukommen.
Ein andermal hatten wir ein Vergnügen, das dürre Laub von den Bäumen anzuzünden und ein Freudenfeuer zu machen. Einmal versahen wir es, die Flamme schlug um sich und es drohte ein gewaltiger Waldbrand zu werden, als zu unserm Glücke der Wind sich noch wendete. Der Rektor meinte, ich würde ein Taugenichts werden, wenn ich nicht bald weiter käme, und hatte wohl Recht. Aber ich hätte es auch in der Länge nicht mehr ausgehalten, sondern wäre ganz gewiß auf und davon gelaufen. Keine Lage ist peinlicher, als wenn der Geist Bedürfnisse hat, die nicht erfüllt werden und doch erfüllt werden könnten und sollten. Was vorkam, waren mir abgedroschene Sachen, und nur selten hatte der Rektor Zeit, sich mit mir besonders zu beschäftigen.[84]
Einmal war ich diese Zeit über zu Hause zum Besuche gewesen. Es war nötig, denn man hatte mir einige Male so unschonend von der traurigen Lage meiner Mutter und Geschwister gesprochen, daß ich ziemlich entschlossen war, den Cicero und Paläphatus im Stiche zu lassen und nach Hause zu gehen, um ihr durch meine Arbeit zu helfen. Ich fand zum Glück, daß man, wie gewöhnlich, übertrieben hatte. M. Schmidt, der gute Mann, mochte so etwas aus einzelnen Äußerungen schließen und aus meinem Gesichte lesen und sprach mit Teilnahme und Wärme. »Wir können deine Mutter nicht wohlhabend machen«, sagte er, »wir können ihr kein gemächliches Leben verschaffen; aber so arm und so entmenscht sind wir doch nicht, daß wir sie und die Ihrigen an den ersten Bedürfnissen Not leiden ließen. Sei darüber ganz ruhig, mein Sohn, und tue deine Pflicht von deiner Seite!« Als ich hier zugleich dem Grafen Hohenthal, meinem Wohltäter und Erzieher, meine Aufwartung machte, war, nach meinen damaligen Begriffen, eine sehr glänzende Gesellschaft von allerhand Ständen zugegen, wo mich dann einer nach dem andern nach Lust und Belieben ins Examen nahm. Es war dabei ein gewisser Herr Leithier, eine pedantisch hofmeisterliche, parasitische Seele, den M. Schmidt, ich weiß nicht aus welcher Antipathie, gewöhnlich ins Neutrum setzte: dieser machte auch, und zwar vorzüglich, den Examinator. Weiß der Himmel, was er für eine barocke Frage aus der babylonischen Geschichte tat; ich stand stumm und verblüfft da. Er fragte weiter und sah geradeaus, als ob er aus dem Aristarch ein Orbilius werden wollte, wenns erlaube wäre. Ich war noch verblüffter und verwirrter. Da nahm sich ein alter Legationsrat Kauterbach, der damals in Leipzig privatisierte, ein Mann von stattlichen Kenntnissen, ansehnlicher Leibesstärke und tüchtiger[85] Stimme, meiner an, nahm den Schulmeister mit einer Derbheit in die Schule, die diesen weit verblüffter machte, als ich armer Schächer vorher war. »Wer zum Teufel«, sagte er, »wird einem jungen Menschen so blitzhagelsdumme Fragen vorlegen? Da müßte Leibnitz verstummen, wenn er nicht disputieren sollte. Lassen Sie mich examinieren.« Der alte Herr trat sein Amt an, fragte dieses und jenes aus der Geschichte, und ich bestand so gut, als ein Mensch bestehen kann der nur erst den Cornelius Nepos ein Jahr bei den Ohren hat. Sogar das Latein ging ex tempore schnakisch genug, ohne daß eben Priscian viel Ohrfeigen bekommen hätte.
Endlich holte man mich von Borna ab und brachte mich zum Antiquar Martini nach Leipzig auf die Nikolaischule. Reiske wäre freilich besser gewesen: der war aber kurz vorher gestorben, und Martini hatte als sein Nachfolger großen Kredit gewonnen. Er mochte ihn auch als eklektischer Gelehrter und Altertumsforscher verdienen; aber Schulmann war er in einem kaum erträglichen Grade. Gleich im Examen fragte er mich Quisquilien, von denen ich ihm halb verdrießlich bemerkte, daß Herr Korbinsky mich dergleichen Dinge nicht mehr gefragt habe. Lieber wäre ich nach Pforte gewandelt, weil Klopstock dort gewesen war und einige meiner alten Kameraden sich dort befanden. Ich kam die Sekunde und hatte nun freilich wieder zu tun, um mit den andern gleichen Fuß zu fassen, zumal, da die erste und zweite Klasse gewöhnlich zusammen waren. Auch ging das Studieren die erste Zeit, wenigstens nach meinem Sinne, recht gut, dem Rektor wollte meine Weise nicht behagen, so wenig mir die seinige, und doch sollte ich mich danach richten. Er hielt viel auf Vorbereitung, und das mit Recht, nur drang er auf sogenannte Präparierzettel, die mir sehr zuwider waren.[86] Denn unnötiges Schreiben war gar nicht meine Sache, da ich auf einige Tage ein musterhaftes Gedächtnis hatte. »Wo haben wir unsere Präparation?« fragte er mich einmal. »Hier«, antwortete ich und zeigte auf die Stirne. »Wir sind etwas keck; wir werden ja sehen.« Sie war wirklich da, und etwas Brummen von Eigendünkel beschloß den Sermon. Ich konnte aber drei Seiten lesen, während ich einige Wörter niederkleckste, die nun doch in meinem Gedächtnisse lagen. Er hatte die Marotte der alten Schulmonarchen, die nicht höflich sind und doch nicht grob sein wollen, immer nur mit Man und Wir zu reden. Daraus entstand dann manches lächerliche Quidproquo. So sagte er einmal im hitzigen Eifer, ich glaube zum jetzigen Buchhändler Sommer: »Wir sind ein Esel.« »Ich meinerseits protestierte«, antwortete dieser ganz lakonisch, und die Klasse wußte nicht, wo sie mit dem Lachen hinsollte. Es saßen damals Haubold und Blümner und einige andere jetzt nicht unbekannte Männer mit in der Klasse, so daß schon Wetteifer des Fleißes stattfand. Auch gab uns der Konrektor Forbiger durch seine ernsthafte gründliche Methode, vorzüglich im Griechischen, reichlich Ersatz. Die weitausgebreiteten Kenntnisse des Mannes in vielen Fächern sind bekannt genug. Nur mußte er sich zu uns sehr herablassen, welches ihn zuweilen verdrießlich zu machen schien. Hübschmann, der Tertius, der uns auch einige Stunden gab, zeichnete sich durch einen großen Bierbaß aus, den er sich auf den Kirmessen erworben hatte. Wenn wir, wie wohl verzeihlich war, bei ihm über Ciceros Pflichten die Aufmerksamkeit verloren und Allotria trieben, nahm er die Sache en gros und donnerte uns in corpore an: »Lumina mundi wollt ihr werden; ja, ihr Halunken, lumpenhundi werdet ihr sein«; und damit bearbeitete er im Eifer mit Hand und Fuß und Buch das morsche Katheder.[87]
Ich war bei dem Rektor in Wohnung und Kost und Holz verdungen, erhielt aber meinen Speiseteil durch die Magd auf mein Zimmer. Das wollte mir schon nicht behagen und schien mir illiberal, denn bei Herrn Korbinsky in Borna war ich wie ein Kind vom Hause mit allen übrigen gehalten worden. Indessen das mochte noch gehen, denn des alten Rektors Würde würde mit mir allein ein barockes tête à tête gemacht haben. Der alte Herr besuchte mich zuweilen auf meinem Zimmer, wahrscheinlich um zu sehen, wie viel ich Holz verbrannte; denn um meine Studien bekümmerte er sich weiter nicht. Nur ein einziges Mal guckte er in meinen Ovid und fand statt der Metamorphose die Amores aufgeschlagen, worüber ich dann einen stattlichen Leviten erhielt. Aber warum stand auch alles in einem Bande beisammen? Ich fand das caetera quis nescit viel leichter und erbaulicher als das in nova vert animus. Das Holz war der große Gegenstand des Zwistes, ohne daß es eben zur deutlichen Erörterung gekommen wäre. Mein Stubengeselle und Quasihofmeister war Herr Korbinsky, der älteste Sohn des Rektors in Borna, der mir noch einigen Unterricht im Hebräischen gab. Neben uns wohnten noch zwei veterane Studenten, der jetzige Professor Dindorf und der Archidiakonus in Borna, Brunnemann. Auch diese hatten sich ins Holz verdungen, und es ging ihnen wie uns. Da man uns spärlich hinlegte, langten wir selbst zu und bargen den Vorrat im Zimmer. Herr Martini entblödete sich nicht, ihn selbst wieder herauszuholen und das Holz zu verschließen. Es war ein Lattengitter davor; wir zwängten so lange, bis eine Latte losging und meine kleinere Personalität, die andern waren große, dicke, stattliche Kerle, hineinschlüpfen konnte. Nun bargen wir das Holz im Koffer unter Verschluß. Nun ließ man es in eine festverschlossene Kammer[88] des alten Gebäudes bringen. Zum Glück oder Unglück schloß aber einer der vielen Schlüssel an den leeren offenen Kammern, und die Gaunerei ging von beiden Seiten fort. Zuletzt ließ er den Vorrat hinunter bringen, und das arme Mädchen mußte alles drei Treppen herauftragen. Auch von unten aus holte ich keck genug von Zeit zu Zeit einen Schlafrock voll; und es muß putzig anzusehen gewesen sein, wie der dicke Hebräer Dindorf und der nicht minder hebräische Korbinsky auf Schildwache standen, ich unten im Holzverschlag lauschte und mich vor dem herabrauschenden Rektor in den Keller versteckte und endlich mit einem Schlafrock voll Scheitholz die Flucht in die Höhe nahm, als der Alte schon wieder über das Tabulat herpolterte. Es wurde eine erkleckliche Summe für Heizung bezahlt, nach der damaligen Zeit, und man ließ uns vor Frost in den Dachstuben zittern, und das Ganze war doch nur Überschuß vom Schuldeputat. Bei dieser Einrichtung waren die Klassen auch nicht überwarm; indessen das dauerte eine kurze Zeit des Tages, und eine Menge junger Leute können die Zimmer schon heiß machen.
Ich kann nicht umhin, hier, trotz der Ehrlichkeit meines Wesens, die Diebsneigung meiner Natur in solchen Kleinigkeiten anzuklagen. Meine Jugend ist voll davon. Man hätte mich unter Goldhaufen sicher lassen können, ich hätte nichts angerührt; aber in dem Garten war trotz aller Verbote doch selten ein Apfelbaum, den ich nicht verstohlen dezimierte. Wenn wir Geschwister Borsdorfer Äpfel zum Braten in der Röhre hatten und sie nun vollendet gut waren, verzehrte ich sehr bald die meinigen und wußte dann die übrigen mit dem Federmesser so zu öffnen, daß der genießbare Inhalt mir zuteil ward. Griff man sie sodann an, so ging die eingeschlossene Luft ins Weite, und die Schale[89] war leer. Wenn ich in die Wurstkammer kommen konnte, wo alles hübsch an Stangen hing, schnitt ich wohl in der Mitte der Wurst etwas heraus und spiekerte sie mit einem Hölzchen wieder ganz. Einmal jagte mich ein Bauer aus einem Schotenfelde von Knauthayn fast bis Lützen, ohne den Flüchtling erwischen zu können. Wegen dergleichen Streichen gab es viel strenge Moralen und auch wohl tätliche Züchtigungen. Nur erst, nachdem ich die Begriffe ernster sichten lernte und das Unstatthafte der Unart einsah, gewöhnte ich mir diese othaheitische Sitte ab. Wenn jeder sich diese Kleinigkeit erlauben wollte, würde dem Eigentümer bald wenigstens nicht der beste Teil zurückbleiben. Bei gewissen Gelegenheiten ist eine furchtbare Strenge hierin keine Ungerechtigkeit. Wenn z.B. jeder Soldat eines marschierenden Korps eine Handvoll Kohlrüben mitnehmen wollte, wie würde man das Feld finden? Man hat also mit Recht hier und da Todesstrafe auf dergleichen Unordnungen gesetzt. Freilich ist das in unsern Tagen nicht mehr, wo die Undisziplin wieder bis zur Barbarei herabgesunken ist. Martini war bekanntlich ein guter Altertumsforscher und hatte vortreffliche Werke in diesem Fache. Die Schüler bekamen selten eins davon zu sehen, und ich lugte und guckte umsonst nach den schönen Bücherschränken, wenn ich zuweilen von ungefähr Zutritt zu dem Adyton seines Museums hatte. Ob mir gleich der Tacitus lieber war als die Prachtantiquitäten von Pompeji, so verdroß es mich doch, mich so ganz nachlässig wegwerfend als einen Laien behandelt zu sehen. Gegen mein Wesen im ganzen hatte nun der Rektor nicht viel, aber desto mehr im einzelnen gegen Kleinigkeiten, die ich sehr ungeschmeidig nach meinem und nicht nach seinem Sinne tat. »Wir sind nun wohl ziemlich fleißig«, sagte er dann und wann, »und es[90] fehlt uns nicht an Talenten, die uns der Himmel gegeben; aber wir sind doch entsetzlich eigensinnig und hartnäckig und wollen immer mit dem Kopfe durch die Wand. Wir werden doch die Welt und ihre Formen nicht anders machen; das wollen wir nur glauben.« Da hatte nun der alte Herr ganz Recht und sprach sich und mir und der Welt zugleich das Urteil; denn er richtete sich so sehr nach der Form, daß fast das Wesen darüber verloren ging. Hier wurde dann auch gedichtert oder vielmehr nur geverselt. Seine Methode war folgende. Er versetzte ein Pensum eigener oder fremder Verse in Prosa, doch so, daß kein Oepidus dazu gehörte, zu sehen, was es gewesen war und wieder werden sollte. Dieses diktierte er und verlangte es in Versen zurück. Das Spielwerk war zu leicht und unterhaltend. Ich pflegte da oft einen Sprung zu machen und die Verse anders aufzubauen, als sie wohl mochten gewesen sein; darüber mußte meine voreilige Weisheit manchmal leiden. Zuweilen mochte ich auch wohl die Verse verdorben haben; das liegt nun so in der Natur, man stolpert einmal lieber über Felsen, als daß man immer auf gleichem Wege fortschleicht.
Meine erste Poeterei war in Borna, wo wir zuweilen aus Gellert und Hagedorn so vel quasi deklamieren mußten. Das hatte mich beschäftigt, da ich sonst eben nichts zu tun hatte; ich setzte mich also hin und machte eine satirische Fabel: der Hasenschwanz. Man pflegte sich nämlich zum Abwischen der schwarzen Tafeln der Hasenpfoten oder auch wohl der kurzen Hasenschwänze zu bedienen. Nun war einer der Allumnen, der sich eben nicht durch Talente und Fleiß auszeichnete, beständig damit beschäftigt, allerhand possierliche Spielwerke mit dem Hasenpörzel zu machen. Dabei blieb der Junge ein Geck, ein Dummkopf und ein Hasenschwanz. Das war die sehr sinnreiche Erfindung,[91] und sie erhielt ungeheueren Beifall, weil denn doch wohl seit der Schwedenzeit in der Klasse von einem Zögling nichts ähnliches war ans Licht gestellt worden. Es liefen Kopien herum; ich hoffe zu Gott, es ist keine mehr vorhanden. Die Erfindung sieht man; der Vortrag wird wohl toll genug gewesen sein, und über der Sprache, die bei mir überhaupt nicht sehr glatt ist, hätte man füglich die Schienbeine brechen können, soviel ich mich noch aus einigen Ausdrücken erinnere. Wenn ich mit Martinis Versen fertig war, fing ich nun zuweilen wohl auch noch an, eigene zu zimmern; sie fielen aber alle sehr hart und holperig aus, und ich war wohl etwas ärgerlich und neidisch, daß einer meiner Nachbarn, der das Handwerk nicht fortgesetzt hat, sie so fließend und rieselnd hervorbrachte. Der Rektor Martini kam einmal dazu, als ich eben einmal einige zu einer Feierlichkeit hatte drucken lassen, und war anfangs höchst aufgebracht über die Keckheit, wie er es billig nannte. Indessen verlängerte er den Strafsermon doch nicht weiter, nachdem er sie gelesen hatte; woraus ich schloß, das sie doch nicht so ganz hundelose in seinen Augen mochten gewesen sein. »Man sollte so etwas doch nicht unternehmen«, sagte er; »man hat noch nicht Gewandtheit und Routine genug.« Mir kam der ästhetische Urteilspruch sehr sonderbar vor nach dem, was ich schon hier und da bei den Alten und Neuern über die Sache gelesen hatte. Ich machte sogar griechische Verse, Gott sei bei uns, die nicht in der Schulordonnanz lagen, denn es wurde nur deutsch und lateinisch geverselt; in dem Deutschen meistens Alexandriner, die ich seit der Zeit nicht recht habe leiden können; und im Lateinischen verstieg man sich nicht über den Hexameter und das Distichon. Ich hatte zwar nicht das Herz, meine griechischen Verse geradezu dem Rektor zu übergeben,[92] legte sie ihm aber doch so in den Weg, daß er sie füglich sehen konnte; er nahm aber keine Notiz davon. Seit der Zeit habe ich nur einige Male im philologischen Übermut einige gedrechselt, aber zum Glück ist keiner übriggeblieben, ob ich gleich mit einigen damals nicht übel zufrieden war und sie mit großem Wohlgefallen wohl zehnmal durchskandierte. Martini pflegte mich selten in meiner Dachstube zu besuchen; und allemal war er Aristarch, der in den Orbilius überzugehen drohte. Ich hatte, wenn ich nicht Lust hatte zu arbeiten, ein gutes Talent zu schlafen, und tat mir etwas Gütliches im Morgenschlaf, da mich vor Mitternacht die Wanzen in dem alten verdammten Baue nicht ruhen ließen. Das sagte ich ihm geradezu, und er brummte. Einmal fand ich, als ich etwas spät aufstand, von seiner Hand mit Kreide an die Stubentüre geschrieben: Sex septemve horas dormisse sat est invenique senique. Ich veränderte das ve in que; und nun lautete es: Sex septemque (sechs und sieben, also dreizehn) horas – So blieb es stehen, bis er wieder kam. »Ei seht doch die Variante«, rief er halb komisch, halb strafend; »nicht übel, gar nicht übel für Faulenzer, wie wir sind.« Hätte er den Hexameter nicht ungebührlich zum Heptameter verlängert, so hätte die Schnurre nicht stattfinden können.
Hier las ich in meinem sechzehnten Jahre den ersten Roman, und zwar den Siegwart, den mir mein Vetter Hahn, ein Weißenfelser Gymnasiast, semmelwarm aus der dortigen Presse zuschickte, und zwar alle drei Bände auf einmal. Diese fertigte ich in einer Nacht ab mit ungeheuerm Heißhunger. Die erste Wirkung war auf die Phantasie gewaltig; als ich aber prüfte, fand ich schon damals alles zu sehr Spielwerk und Tändelei der Einbildungskraft, die des Menschen bessere Zeit ohne Nutzen in Beschlag nimmt. Nur das Wirkliche[93] fing an mich zu interessieren. Warum sollen wir mit solchen leeren Dichtungen ins Blaue hinausgreifen? Ohne mich auf den Wert dieser Dichtungsart einzulassen, kehrte ich von der Konfektnäscherei immer sogleich zu der echt nährenden, gediegenen Diät der Geschichte zurück. Auch Werther, der damals erschien, fiel mir sogleich in die Hände; und ich muß bekennen, er spielte dem jungen Kopfe gewaltig mit, desto mehr, da alles dort der Geschichte so gleich ist und vielleicht meistens Geschichte ist. Da aber meine Seele noch ohne Leidenschaft aller Art war, außer dem allgemeinen Enthusiasmus für das Große, Gute und hohe Schöne, so verflog die Wirkung bald wieder, da ich die Katastrophe nicht in den Annalen der Geschichte verknüpft wiederfinden konnte. Nun hätte man glauben sollen, ich habe mit vieler Anstrengung Geschichte studiert. Das war aber auch nicht der Fall. Das Studieren war mir Bedürfnis, und war dieses gestillt, so pflegte ich fast unwillkührlich lange Zeit das Gelesene zu ruminieren, bis ich wohl zuweilen in das sogenannte selige Farniente den behaglichen, halb dunkeln, ziemlich reinen, bloßen Existenzgenuß zurücksank, der vorzüglich der Kindheit eigen ist. Lange hielt ich natürlich diesen nicht aus, und der Geist schritt zu etwas anderem.
Meine Seele hat von der frühen Kindheit an unbestimmt sehr an der Natur gehangen; dies ward nun zur Neigung. Das Einfachste mir immer das Liebste; ein gutes Butterbrot und reines Wasser mein bester Genuß. Ich erinnere mich darüber eines drolligen Auftritts. Mein Vater nahm mich einmal mit nach Leipzig; ich mochte ungefähr ein Bube von sieben Jahren sein. Er traf einen alten Bekannten, und beide wurden einig, ein Frühstück in einem Italienerkeller zu nehmen. Da ich nicht Lust hatte mitzugehen und er mich nicht nötigen[94] wollte, wies er mir eine Peripherie an, aus welcher ich nicht kommen sollte, und den Eckstein, an welchem man nach einer Viertelstunde mich wieder treffen würde, und gab mir einige Groschen, sie auf dem Markte nach meinem Belieben zu verzehren. Als er zurückkam, hatte sich noch ein Bekannter angeschlossen. »Nun, hast du auch ordentlich gefrühstückt, Junge?« fragte er mich. »Ja, Vater.« »Wie hast du denn dein Geld angewendet?« »Ich habe mir eine Semmel gekauft, und Rüben dazu.« »Was für Rüben?« fragten sie neugierig. »Solche weiße Rüben, wie sie hier haben«; antwortete ich, indem ich hin auf die Gärtner zeigte. Alle lachten laut. Für wie viel denn? »Für zwei Groschen.« »Junge, bist du toll? Für zwei Groschen weiße Rüben? Für einen Dreier bekommst du ja draußen auf dem Dorfe so viel, daß sich sechs Fuhrknechte sattessen können.« »Wo denn?« »Draußen überall.« »Ich habe nichts gesehen.« »Kannst du nicht warten, bis sie groß sind?« »Warten, ja warten«; sagte ich und kratzte mich hinter dem Ohre. Es war noch früh im Jahr, ich hätte wenigstens noch einige Monate auf mein Lieblingsgericht warten müssen. Man lachte immerfort über den Dreier für die Semmel und die zwei Groschen für weiße Rüben dazu. »Ei, so laßt doch den Jungen zufrieden«, sagte der alte Verwandte; »es ist doch wohl besser, als wenn er Pfeffernüßchen und Zuckerbrot gekauft hätte.« Ich war bloß dem Instinkt und der Neigung gefolgt; aber als man vernünftig darüber nachdachte, trat man denn doch auf meine Seite. Der nämliche Alte war auch mein Advokat gegen den Kaffee, der mir sehr zuwider war. Die ganze Familie trank ihn zum Frühstück, ich sollte also auch. »Wir werden dem jungen Herrn ein Süppchen apart kochen«, sagte meine Mutter und wollte mich zur allgemeinen Kaffeepartie nötigen. »Ei, so laßt ihn doch[95] zufrieden«, sagte der Alte; »es wird ihm vielleicht einmal recht lieb sein, wenn er sich nicht an die verdammte Lorke gewöhnt hat.« Meine Mutter glaubte, Butterbrot und kaltes Wasser zum Frühstück ohne etwas Warmes würde mir übel bekommen, da sie aber das Gegenteil sah, ließ sie mich ruhig meinen Weg gehen. An dem Brunnen waschen und trinken war also die nämliche Partie; übrigens lief ich meistens allein in allen Dickichten herum, und kein Elsternest war mir zu hoch, ich mußte hinauf. Das setzte ich denn etwas verändert in Borna und Leipzig fort. Ich trank durchaus weder Wein noch Bier, bekümmerte mich nicht um Backwerk und feinere Gerichte; aber die schönsten Kirschen und Pflaumen wurden immer reichlich gekauft, sie mochten noch so teuer sein, und mein Aufwand darin ging für meine Umstände zuweilen fast bis zur Verschwendung. Jetzt verband ich meine Streifereien mit meinen Studien. Man sah mich seltener auf öffentlichen Promenaden sondern ich lag in irgendeinem Dickicht oder dem versteckten Winkel einer Wiese und las ohne weitere Wahl, was mir in die Hände gefallen war; selten Romane, fast ebenso selten Gedichte im Deutschen, aber desto mehr ausgesuchte Stellen aus den Römern und Griechen. Es freute mich besonders, nun bei den letzten die Schwierigkeiten überwunden zu haben und mit Leichtigkeit vorwärts zu gehen. Die eklektischen Sprüche der Alten verdrängten immer mehr die biblischen; doch hinderte das nicht die Wirkung, die auch hier und da ein tief aus der Seele gegriffenes und in die Seele gesprochenes Wort eines Hagiographen tat.
In dieser Periode gab ich dem jetzigen Professor Höpfner in den Anfangsgründen der hebräischen Sprache Stunde, und wir haben nachher manchmal darüber gelacht, nachdem mir der Schüler als Herausgeber des[96] Golius so gewaltig zu Kopfe gewachsen war. Zuweilen setzt mirs wohl der Eitelkeitsteufel in den Sinn, daß er meiner guten Unterrichtsmethode im Anfange den schnellen Fortgang nachher verdanke.
Die gegenseitige Unzufriedenheit zwischen mir und dem Rektor stieg immer höher. Ich ging durchaus nicht seinen Weg, und er wollte mich den meinigen nicht gehen lassen. Moralische Fehler, außer etwas Geiz, habe ich an dem Manne nicht wahrgenommen; aber desto mehr Grillen und psychologisch-pädagogische Irrtümer und Schwachheiten. Überdies machte mir mein Stubenfreund, Herr Korbinsky, ein Schüler Fischers und ein gewaltiger Purist, dessen lateinischen Stil verdächtig; und man weiß, was eine Sünde hierin bei einem Schulrektor für ein Piakulum ist. Herr Korbinsky hätte wohl besser getan, mir darüber keine Silbe zu sagen, zumal, da die Sache ihre Richtigkeit harte. Man weiß, daß Quisquilien die Welt mehr hudeln als Sachen vom größten Belang.
Um diese Zeit war ein sächsisches Lager bei Schönau, an der Straße nach Weißenfels. Nichts kitzelt einen jungen Menschen mehr als militärische Unternehmungen, wenn auch nur im Schattenriß, zu sehen, wo der menschliche Erfindungsgeist und die menschliche Kraft vereint mit furchtbarer Anstrengung für moralische, politische oder physische Existenz kämpfen. Einen Nachmittag hatte ich Erlaubnis erhalten, hinauszugehen, zu schauen. Ich hatte einen Verwandten im Lager, steckte meinen Julius Cäsar zu mir, um doch auch etwas Militärisches an mir zu haben, und wandelte auf und davon. Im Lager traf ich, ich weiß nicht wo, den Grafen Hohenthal, der mir seinen Beifall über meine Neugierde zeigte und nichts gegen meinen Wunsch hatte, die Nacht hierzubleiben und das Manöver des folgenden Tags zu sehen. Diese Erlaubnis[97] oder Quasierlaubnis, denn eigentlich mußte sie vom Rektor kommen, dehnte ich auf zwei Nächte aus und war in einer ganz neuen Welt, an die bisher meine Phantasie nur wenig gedacht hatte. Ich hatte damals schon mathematischen Sinn genug, mich um den glänzenden, blitzenden Donnereinbruch der Reiterei weniger zu bekümmern, obgleich mein Vetter Dragoner war, und meine ganze Aufmerksamkeit auf die Behandlung und Bewegung des Geschützes und den Marsch vorzüglich der Grenadierbataillone zu richten. Das mucrone res agitur, ubi ad triarios rediit schwebte mir bei jeder Gelegenheit aus den Alten vor; und so verschieden auch unser Kriegssystem von dem ihrigen ist, hierin kommt es ganz gewiß mit demselben überein, wie die ganze Geschichte aller Feldzüge lehrt. Ohne eben Neigung zum Soldatenstande zu haben, las und studierte ich doch schon unwillkürlich solche Bücher, wo der Riesenkampf der menschlichen Natur hell und lebhaft geschildert war, und das fand ich mehr bei den Alten als bei den Neuern und finde es noch. Als ich nach Hause kam, runzelte der Rektor die Stirne und beutelte das Maul mehr als gewöhnlich, sagte aber sehr wenig, und es schien, als ob er mich als einen Refraktarium aufgegeben hätte. Da ich mein Unrecht fühlte, suchte ich durch Fleiß gutzumachen; da aber dieser Fleiß doch nicht über seinen Stock geschlagen war, konnte ich damit nichts gewinnen. Ich erhielt um die nämliche Zeit ein Schulstipendium von zehn Talern. »Wir haben zwar Talente und sind nicht müßig«, sagte er mir beim Auszahlen; »aber unsere Sitten haben diese Belohnung kaum verdient.« Nun machte er Miene, das Sümmchen wieder einzustreichen und es mir zu vier und vier Groschen gelegentlich für die kleinen Bedürfnisse zuzustellen, als ich ihm sagte, der Graf, mein Wohltäter, wolle mir dieses[98] Geld als Aufmunterung zur eigenen Verwendung überlassen und für das übrige Sorge tragen. Das schien er nicht zu billigen, wollte aber doch nichts dagegen haben. Ich erhielt das Geld; und da das für mich eine ungeheuere Summe war, dünkte ich mir damit wenigstens ein Krösus zu sein. Vor allen Dingen wurde Obst gekauft, dann Bücher, hier und da einem Armen reichlicher mitgeteilt; dann ging es zum ersten Male in die Komödie. Man kann denken, wie lange und wie weit ich reichte. Meine Mutter brauchte damals nichts und wollte durchaus nichts als eine Kleinigkeit nehmen, um meine Gutmütigkeit nicht zu beleidigen, wie sie sich ausdrückte. Da sie von meinen Bedürfnissen wenig verstand, so konnte sie über meine Verwendung bestimmt weder Billigung noch Mißbilligung äußern. Man denke, wie ich kaufte, ich glaube vom jetzigen Professor Schäfer, der mein Schulnachbar war, eine Geschichte oder Geographie in neunzehn Bänden, ich weiß nicht von welchem alten Knaster, für einen Speziestaler. Schäfer war froh, daß er das Schweinsleder los wurde, um Platz zu bekommen; und doch studierte ich in den Schwarten so ungeheuer, um die Lücken auszufüllen, daß ich wirklich glaube, ich habe daraus mehr gelernt als aus manchem langen Kollegio von viel Zeit und für viel Geld. Als ich anfing, das Buch taxieren zu lernen, schaffte ich es mit wenig Verlust und viel Gewinn wieder fort.
Das erste Theaterstück, das ich sah, war Ariadne auf Naxos von Benda, die damals neu war. Der bekannte mythologische Text rührte mich wenig, aber desto mehr die allgewaltige Magie der Musik, verbunden mit der schönen Darstellung und der mir ganz neuen zauberähnlichen Maschinerie. Das letzte verschwand bald, aber die Wirkung der Musik blieb und ist geblieben; und noch jetzt kenne ich in der ganzen Peripherie[99] meiner musikalischen Literatur nichts Lieblicheres als Bendas Morgenröthe und nichts Malerischeres als seinen Sonnenaufgang in diesem Stücke. Noch jetzt, wenn es mir bei musikalischen Freunden recht heimisch gemütlich ist, pflege ich zum höchsten Genuß eines seligen Viertelstündchens mit dem Notenbuche in der Hand zu kommen: »Kinder, bringt mir die Morgenröte und laßt mir die Sonne aufgehen!« und nach dem Vortrage und der Aufnahme dieser Stellen die Seelen zu beurteilen. Die Theaterneigung bemächtigte sich bald meiner bis zur Epidemie, vorzüglich, als ich zur Akademie überging.
Der letzte Vorfall, der wahrscheinlich meine Entfernung von der Schule bestimmte, war folgender. Wir lasen Xenophons Denkwürdigkeiten; ich mochte wohl etwas zerstreut gewesen sein, der Rektor war wegen einer andern Veranlassung schon aufgebracht und heftig; er wendete sich unversehens und kurz zu mir und verlangte die grammatische Auflösung eines schweren Wortes: ich machte sie; er schien schon in der Übereilung zu sein und fuhr mich hart epanorthotisch an: »Man ist nie, wo man sein soll; es ist der Infinitiv in diesem und diesem Tempus.« Es war freilich augenscheinlich der Infinitiv, über das Tempus war Differenz. Er fuhr im Hermeneutisieren fort, ich setzte mich, brummte ungläubig und suchte meine alte Grammatik aus dem Winkel hervor, wo ich denn fand, daß ich Recht hatte. Das zeigte ich höchst wahrscheinlich selbstgefällig genug meinem Nachbar: »Was hat man schon wieder?« stürzte der Rektor auf mich zu. »Herr Rektor«, erwiderte ich ganz gelassen, »ich wollte mich bloß überzeugen, daß ich Recht hatte.« Das brachte den Mann ganz aus seiner Fassung, er stürmte und wütete und wollte mich ins Karzer führen lassen. »Herr Rektor, bedenken Sie«, sagte ich ganz ruhig, »es könnte[100] einige Folgen haben.« Er überlas die Periode noch einmal, besann sich und ließ mich ohne Antwort sitzen. Die ganze Klasse war stutzig. Ich wollte heut noch die Stelle im Buche wieder finden. Nach der Stunde ließ er mich rufen, stellte mir etwas gelinde meine widerspenstige Sinnesart vor und gab mit einigen philosophischen Apophthegmen seinen Irrtum zu. Die Neckerei und das halbe Subordinationswesen war mir höchlich zuwider; ich kam förmlich mit der Bitte beim Grafen ein, mich noch einige Zeit nach Grimma oder Pforte zu schicken, hier würde ich nunmehr meine Zeit ohne großen Nutzen zubringen. Man war anfangs mir meiner Unzufriedenheit eher unzufrieden, mochte aber doch bei näherer Nachfrage finden, daß ich so ganz Unrecht nicht hatte, und beschloß eine Änderung zu machen. Auch wenn ich nicht Recht gehabt hätte, wie das vielleicht hier und da der Fall war, forderte es die richtige, psychologische Pädagogik, meinen Wünschen nachzugeben und es auf eine andere Weise mit mir zu versuchen. Außer etwas Chorgesang in den öffentlichen Stunden hatte man mich weiter keine Musik treiben lassen, und ich sah daraus, daß man es mit mir nicht auf die Schulmeisterei anlegte. Ohne eben damit unzufrieden zu sein, bedauerte ich doch im Stillen, daß ich eine so ganz unmusikalische Seele bleiben sollte, zumal da ich glaubte und noch glaube, daß in meinem Geiste sehr viel sehr schöne eigentümliche Musik zu wecken gewesen wäre. Ich selbst konnte den zweckmäßigen Unterricht nicht erschwingen. Ich gerate bei lebendigen, tiefgegriffenen und tief eindringenden, einfach großen Stellen in die größte Rührung, wie das bei Mozart und Haydn und Händel und Bach und einigen andern oft der Fall ist; und eine lange, bloß künstliche Tonverstrickung läßt mich unbeschäftigt und leer. Man schickte mich zu Morus und Wolf in die Prüfung.[101] Der erste ist nachher immer mein guter väterlicher Lehrer geblieben und ward sodann mein Freund bis an seinen Tod; es wäre unnötig, hier seinen moralischen und wissenschaftlichen Wert zu preisen. Von dem zweiten, der ein vortrefflicher Lateiner als Ernestis Schüler war, hielt mich die strenge asketische Orthodoxie des Mannes mehr entfernt. Was sie meinen Kenntnissen für ein Zeugnis gaben, weiß ich nicht, ich erhielt es versiegelt; es kann aber nicht ungünstig gewesen sein, denn statt mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich sogleich auf die Universität getan. Und so war ich denn in einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder, unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabet und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch. »Alles recht gut«, sagte mir der wackere Forbiger, als ich Abschied nahm, »nur etwas zu früh!« ein Urteil, das ich selbst gern unterschrieb. Martini entließ mich mit Kälte und Würde, ohne jetzt weitere Empfindlichkeit zu äußern. Korbinsky blieb mein Stubenkamerad und Studienleiter, ohne weitere Verbindlichkeit auf beiden Seiten. Ich danke der Gesellschaft dieses Mannes manche bessere Einsichten in die Alten und manchen guten Wink, den ich nachher benutzte. Er starb zu früh als Prediger in Waldheim, ich fürchte als Opfer des unmäßigen Tabakrauchens bei seiner schwachen Brust; er wäre gewiß ein ausgezeichneter Orientalist geworden.
Nun tummelte ich mich in der Freiheit herum und brauchte sie zwar nicht ganz weise, aber doch so, daß man es eben nicht Mißbrauch nennen konnte. Ich hatte nachzuholen, das fühlte ich, und tat es redlich und gewissenhaft: nicht eben durch viele Kollegien, sondern durch eigenen, sehr hartnäckigen Fleiß. Vorher hatte ich die Alten nur fragmentarisch gelesen; jetzt fing ich an, sie strenge ganz durchzugehen. Da ich nicht Philolog[102] zu werden gedachte, bekümmerte ich mich weniger um das Partikelwesen und die Sprachnuancen: das kommt nach und nach unmerklich von selbst; sondern es beschäftigten mich die Sachen und die Sprache nur, insofern sie zur Sache gehörte und recht schön war. Über die Griechen hörte ich weniger; und doch tat ich in denselben mehr und war lebendiger in ihnen als in den Lateinern, weil mich ihr Geist besser ansprach. Oft pflegte ich und pflege noch jetzt halb im Scherz, halb im Ernste zu sagen: Was ich Gutes an und in mir habe, verdanke ich meiner Mutter und dem Griechischen. Die dicken Ausgaben mit einem Sumpfe von Noten waren mir als Zeitverderber verhaßt, und meine Meinung, wer mit gehörigen Sprachkenntnissen noch eine große Erklärung einer Horazischen Ode braucht, für den hat Horaz gar nicht geschrieben. Die schönsten Stellen sind immer die einfachsten und es ward mein ästhetisches Glaubensbekenntnis: Wer nicht in wenig Worten ein rührendes Gedicht, in wenig Strichen eine schöne Zeichnung und in wenig Takten eine vielwirkende Musik hervorbringe, sei nie der Liebling der Musen gewesen. So fiel mir damals das dickbeleibte Buch, Fischers Anakreon, in die Hände, wo des Dichters Grazien in einem Ozean von Notenkrämerei zu Grunde zu gehen in Gefahr sind. Man findet nichts; und doch lockt die Neugier, alle Augenblicke nachzusehen. Könnte ich Anakreon nicht besser genießen als durch Fischer, ich ließe sie beide, den alten und den neuen Griechen, bei den Käseweibern liegen. Deswegen verkenne ich Fischers große Verdienste um Literatur und Pädagogik gar nicht. Ich genieße vielleicht, ohne es zu wissen, manches, was die Frucht seiner trockenen schweren Arbeit war.
Von den Kollegien, deren ich mich aus dieser Periode mit vorzüglichem Vergnügen erinnere, waren Morus'[103] Vorlesungen über die Annalen des Tacitus unstreitig das erste. Er war ein Muster von Exegeten in jeder Rücksicht, ausgenommen vielleicht in der Theologie, wo er mit ängstlicher Ehrlichkeit zu sehr an der vorgeschriebenen Formel hing: und so wacker der Mann als Theologe war, hat nach meiner Überzeugung die Theologie an ihm doch nicht so viel gewonnen als die Philologie verloren. Ein sehr gewöhnlicher Mißgriff auf den meisten Universitäten, der auf der Einrichtung beruht! Morus überschüttete uns nicht mit einer Sintflut philologischer Quisquilien, sondern machte seine Bemerkungen kurz, bündig und gediegen, wie sein Autor den Text; er las nicht für Knaben und war nicht schuld, wenn er nicht verstanden wurde. Seine Übersetzung war ein durchdachtes Meisterstück, ich habe nie eine bessere gelesen; dazu wurde sie noch durch einen tiefgefühlten Vortrag und einen Ausdruck großer Herzlichkeit gehoben.
Das Griechische des Neuen Testaments wollte mir nach dem Honig der attischen Biene nicht schmecken. Die Barbarismen, Solözismen und das halb morgenländische Wesen, wovon es voll ist, stießen mich immer zurück; und es gehörte der schöne begeisterte Enthusiasmus Jesu und die lebenswürdige Moral seiner Lehre durch seine Schüler dazu, um mir es wieder in die Hände zu geben. Des Hebräischen hörte ich bei Dathe sehr viel und sehr fleißig; und ich erinnere mich, daß ich damals Dutzende Psalmen und ganze Kapitel aus den anderen Büchern auswendig wußte. Es war bloß Bedürfnis des Wissens und um nicht hinter den andern zurückzubleiben. Und doch hätte mir das Hebräisch bald einen üblen Handel zugezogen. Ich wohnte bei einem Bäcker, wo Mutter und Tochter, ganz angenehme Stückchen Erbsünde, fast immer in ihrem offenen Laden Gesellschaft von jungen Leuten bei sich sahen, die bei[104] ihnen ihr Frühstück hielten. Ich war bis in mein vierundzwanzigstes Jahr ziemlich düster und grämelnd und bekümmerte mich wenig um das Geschlecht. Mein Aufzug war meinen Umständen angemessen und wohl weder glänzend noch zierlich; ich hatte damals einen großen, schweren hebräischen Kodex, ich glaube von van der Hoogt, an dem ich hin und her schwitzte. Ein Edelmann aus Thüringen, der wohl auch einmal vor einer hebräischen Schule vorbeigelaufen sein mochte, glaubte, er habe das Privilegium, den jungen Theologaster zu hänseln, und rief mir beim Durchgehen Mosheh veh Kalephedan (eine Regel aus der Grammatik) zu. Einmal und zweimal litt ich das ruhig, das dritte Mal kehrte ich mich um und sagte ihm, was zu sagen war. Er antwortete nicht artig, ich erwiderte nicht sanft und meinte, die Sache sei ohne Worte gehörig zu schlichten; er mußte zufrieden sein, und ich war im Begriff, den Degen zu holen, um ihm zu folgen; da stürzten die Damen, Mutter und Tochter, als Vermittlerinnen herbei und ließen nicht eher nach, bis sie die hebräischen Streithähne mit gehörigen Gründen auseinandergebracht hatten. Von nun an ließ mich der Baron ruhig fürbaß ziehen; das hätte er auch vorher tun können und sollen.
Jedermann, der mich so Hebräisch treiben sah, mußte glauben, ich würde wenigstens der zweite Michaelis werden, oder gar ein neues, eigenes morgenländisches Licht; es dauerte aber nicht lange; und seit der Zeit habe ich diesen Artikel so ganz vergessen, daß ich kaum mehr weiß, was Schwa und Mappik und Kal und Hithpael ist: denn ich glaube, ich habe seit 1780 kaum wieder eine hebräische Zeile gelesen.
Ich hatte zur Unterhaltung meines Leibes monatlich fünf Taler. Es war damals zwar beträchtlich wohlfeiler als jetzt; doch kann man bedenken, daß ich mit dieser[105] Summe nicht sehr ins Weite greifen oder sybaritisieren konnte. Aber ich hatte auch keine Bedürfnisse, die ich damit nicht hätte befriedigen können, außer der verdammten Theaterepidemie, die sich meiner damals in einem hohen Grade bemächtigt hatte. Ich weiß, daß ich damals monatlich gegen vier Taler ins Theater getragen habe; man denke sich nun dabei meine Kost. Mehrere Tage aß ich trockene Dreilinge, um nur einige Lieblingsstücke zu hören und vorzüglich Reinekes Vortrag zu genießen. Als ich diesen Mann das erste Mal sah, gab er die unbedeutendste Rolle von der Welt, einen Bedienten, der einen Brief zu bringen und kaum sechs Worte zu sprechen hatte. Seine ersten Schritte zeigten, wer er war, und jedes Wort gab ihm seinen Rang. Ich, obgleich damals noch ziemlich Idiot, ärgerte mich über den Mißgriff der Direktion und setzte ihn sogleich bei mir als den ersten Mann der Gesellschaft nieder. Er hatte bloß einmal gemächlich ausruhen wollen, und ich sah ihn einige Tage nachher in seiner besseren Sphäre. Es gewährt mir noch immer einen hohen Genuß in der Erinnerung, diesen Liebling der Natur und der Muse gesehen zu haben. Es konnte von ihm gelten, was Hamlet von seinem Vater sagte: Das ist ein Mann! Die deutsche Bühne hat allerdings Künstler von größerem Verdienst, aber wohl schwerlich von größerem Wert. Seine letzte Rolle schwebt noch lebendig vor meiner Seele. Er gab Hamlets Geist, und sein »Schwört, schwört auf sein Schwert!« war ein ganzes Stück wert. Seit der Zeit habe ich immer und überall kaum Hamlets Gespenst, nie seinen Geist wieder gesehen.
Um diese Zeit fielen mir die Engländer Shaftesbury und Bolingbroke in die Hände, oder vielmehr ich ihnen; man kann sich die Wirkung denken. Die Kirchenformel und meine ehemalige echt orthodoxe Exegese[106] hielten mich nur noch an sehr schwachen Fäden. Mein Stubengeselle Korbinsky hatte einige Freunde, mit denen er dann und wann etwas freimütig über die Wolfenbüttler Fragmente sprach. Einige Artikel aus dem Bayle hatte ich auch schon gelesen. Alles dieses half meinen eigenen skeptischen Ideengang ordnen, oder mich verderben, wie meine orthodoxen Freunde meinten. Es war zum Durchbruch gekommen; nur wagte ich nicht, etwas laut werden zu lassen. Ich glaubte nur, was ich begriff; und ich begriff von den Kirchendogmen nur sehr wenige. Magister Schmidt, der Mittelsmann zwischen mir und dem Grafen und mein wirklich väterlicher Freund, aber ein heftiger Kirchenorthodoxer, hatte, ich weiß nicht wie, doch etwas erfahren und nahm mich nach seiner Weise sehr warm vor. Der Klagepunkte waren viele, vorzüglich folgende, soviel ich mich erinnere: Ich wäre nicht ordentlich in die Kirche gegangen und meistens nur zu Zollikofer, ich hätte mich oft gebadet, ich hätte über einige Dogmen frei und profan gesprochen. Wegen dieser Ruchlosigkeiten sah mich nun der gute Mann schon leibhaft in der Hölle brennen. Das Theater wurde nicht berührt; und das wäre doch wohl das schlimmste gewesen, weil es mich so viel Geld kostete, das ich nicht hatte. Ich leugnete nicht und verteidigte mich nicht, denn die Verteidigung hätte zu Erörterungen geführt, die noch schlimmer gewesen wären. Er goß eine bitter epanorthotische Lauge über mich aus, die ich zwar ärgerlich, aber doch geduldig abtriefen ließ. Vorzüglich drohte er mit dem Grafen, der bei dieser meiner verkehrten Sinnesart seine Hand von mir abziehen würde. Diese letzte Bemerkung war unpsychologisch und wirkte gerade das Gegenteil von dem, was sie wirken sollte. Sie machte mich stolz, statt mich demütig zu machen. Ich nahm das alles mit Stillschweigen[107] hin, ohne Besserung zu versprechen, an die ich gar nicht denken konnte. Meine Mutter wurde gar nicht erwähnt; und doch wäre diese das wirksamste Argument gewesen. Worin hätte ich mich ändern können, ohne den besseren Sinn zu verleugnen? Wen von unsern teuren Kirchenlehrern hätte ich statt Zollikofers hören sollen? Das Bad im Flusse hielt ich für diätetisch gut, und, mit Bescheidenheit gebraucht, nicht für unanständig. Daß ich frei über kirchliche Artikel sollte gesprochen haben, ist wohl möglich; aber gewiß nicht profan, ausgenommen insofern frei und profan eins ist; denn mir ist jeder Volksglaube heilig, der einem ehrlichen Manne Beruhigung gewährt, und sollte er der Philosophie noch so empfindliche Nasenstüber geben. Wer einem leidenden Wanderer seinen alten Mantel nimmt, unter dem Vorwand, er sei übel gemacht und durchlöchert, ist ein Unmensch auf alle Weise. Ich fordere alle auf, mit denen ich jemals in nähere Berührung gekommen bin, ob ich irgend über etwas gespottet habe, das einem andern ehrwürdig und heilig war.
Kurz drauf besänftigte ich den zelotischen Mann ohne Mühe durch die Bitte, mir eine Predigt zu erlauben, indem ich ihm zugleich das Manuskript zur Durchsicht überreichte. Er blätterte nur wenig darin und gab es mir mit der Gewährung der Bitte und der Bemerkung vertraulich zurück, schon das Motto gebe ihm die Versicherung, er dürfe sich auf meine Bescheidenheit verlassen. Es stand darüber, glaube ich, aus dem Quintilian: »Pectus est quod facit disertos.« Ich hielt den Vortrag in Rehbach und Knauthayn mit Beifall, und meine Ketzerei schien vergessen zu sein. Desto tiefer und fester saß sie aber bei mir. Es versteht sich, daß man in der Predigt nicht die leiseste Spur davon fand. Ich weiß nicht mehr, wovon ich sprach; aber es war ein[108] reines Thema der reinen allgemeinen Moral, wo der Mensch mit seiner bessern Natur durch sich selbst in Anspruch genommen wird. Man konnte ihr, wie Zollikofers Vorträgen, nur den Vorwurf machen, daß sie auch für Juden, Türken und Heiden passe. Übrigens maße ich mir nicht an, daß die Rede viel von den Vorzügen der Zollikoferschen gehabt habe.
Es fing nun an, furchtbar in mir zu gären. Ich begriff, daß ich als ehrlicher Mann nicht auf dem Wege fortwandeln konnte. Mit jeder neuen Forschung entstand ein neuer Zweifel, und die Mystik fing an, mir verhaßt zu werden, da ich sie so oft Hand in Hand mit weltlicher Klugheit gehen sah. Ich verehrte die Bibel und versagte dem moralischen Teil derselben den Eingang in meine Seele nicht. Ich verehrte Moses, Christum, aber nach meiner Weise und nicht nach dem System. Heuchelei war mir unerträglich; ich sagte immer nur, was ich dachte, ob ich gleich nicht alles sagte, was ich dachte. Das heilige Palladium der Menschennatur sind die Gedanken unter der Ägide der Vernunft, und es wird hoffentlich niemals jemand gelingen, es zu entreißen.
Meine Lage war sehr prekär und hing von der zufälligen Überzeugung anderer ab. Es war natürlich, daß endlich der Graf alles erfahren mußte; und das schlimmste war, nicht so lebendig, wie es in meinem Innern lag. Ohne seine Unterstützung konnte ich nicht in den Wissenschaften fortleben. Ich wollte der Katastrophe zuvorkommen, zog mich in mich selbst zurück und faßte den Entschluß, auf allen Fall meine eigene Kraft zu versuchen. Das konnte in Leipzig und überhaupt im Vaterlande nicht geschehen. Nach vielen Kämpfen, die mir allerdings wohl das Ansehen eines Melancholischen geben mochten, ging ich auf und davon, ohne einen fest bestimmten Vorsatz, wohin und[109] wozu. Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Wert hatten, und nach Abzahlung meiner kleinen Schulden, die ich notwendig haben mußte, blieben mir ungefähr neun Taler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu tun sei. Von dort aus – wer sieht nicht gern zuvor Paris? – dachte ich nach Metz in die Artillerieschule, da ich eben damals angefangen hatte, etwas ernsthaft Französisch und Mathematik zu treiben. Das übrige überließ ich billig dem Schicksal.
Das Traurigste war der qualvolle Gedanke an meine Mutter; und ich muß bekennen, daß ich mir alle, obwohl vergebliche Mühe gab, ihn zu unterdrücken, da ich die Unmöglichkeit sah, meine Sinnesart zu ändern, und die Unmöglichkeit, bei dieser Sinnesart als ehrlicher Mann hierzubleiben. Sie war zwar keine Zelotin und würde mich nicht sogleich verdammt haben; doch würde ihr ruhiges Wesen es widersprechend gefunden haben, daß ein Kopf sich nicht bei dem beruhigen könne, wobei sich so viele Hunderttausende ehrsam beruhigen. Auf alle Fälle würde ihr meine Lage, wenn ich geblieben wäre, fast ebenso schmerzlich gewesen sein als meine Entfernung. Ich ging also nach Berichtigung meiner Schulden fort, ohne irgend jemand eine Silbe gesagt zu haben. Den Degen an der Seite, einige Hemden auf dem Leibe und im Reisesack und einige Klassiker in der Tasche, marschierte ich zwar ganz rüstig und leicht, aber nichts weniger als ruhig durch die Dörfer nach Dürrenberg, setzte dort über die Saale ging über das Schlachtfeld bei Roßbach und blieb die erste Nacht in einem kleinen Dorf bei Freiburg, das glaube ich, Zeugefeld hieß. Hier schrieb ich in meiner Verlassenheit und mit schwerem Gefühl abends eine gar rührende Elegie über meinen Zustand. Sie gehört[110] zu den Heiligtümern meiner Seele; niemand hat sie gesehen, und sie hat sich bald aus meinem Taschenbuche verloren, sowie meine Stimmung sich erheiterte und einen etwas stoischen Takt erhielt. Den zweiten Abend blieb ich in einem Dorfe vor Erfurt, wo man mich mit vieler Teilnahme sehr gut, sehr wohlfeil bewirtete und mich schonend merken ließ, ich hätte wohl jemand mit dem Instrumente da, man wies auf den Degen, etwas übel behandelt und müsse das Weite suchen. Ich widersprach zwar, aber man schien doch so etwas zu glauben. In Erörterungen mochte ich mich nicht einlassen, und ihre Meinung tat mir weiter keinen Schaden. Den dritten Abend übernachtete ich in Bach, und hier übernahm trotz allem Protest der Landgraf von Kassel, der damalige große Menschenmakler, durch seine Werber die Besorgung meiner ferneren Nachtquartiere nach Ziegenhain, Kassel und weiter nach der neuen Welt.
Ich erfuhr nachher, daß meine Entfernung in Leipzig einiges Aufsehen gemacht hatte, ob ich gleich fast immer für mich und eingezogen wie ein Klosterbruder gelebt hatte. Man hatte ungefähr vierzehn Tage vorher eine ungewöhnliche Stille und Schwermütigkeit an mir bemerkt; sehr natürlich; man machte also den voreiligen Schluß, ich habe mich ganz aus dem Leben hinausbegeben. Vorzüglich war ein alter Graf Ysenburg, der gewöhnlich bei dem Grafen Hohenthal lebte und mich mit vieler Güte immer mit Zwieback gefüttert hatte, sehr beschäftigt, den eigentlichen Zusammenhang der Sache ausfindig zu machen. Der alte Herr ließ sich keine Mühe verdrießen und stieg Treppe auf und Treppe ab, wo er Nachricht von mir zu haben hoffte. Man erfuhr nichts von einem Duell, konnte sonst nichts Ungebührliches gegen mich aufbringen; meine kleinen Schulden waren, und zwar den Tag vorher,[111] alle bezahlt. Es war natürlich, an eine Mädchengeschichte zu denken, und man nannte die Tochter eines ehrsamen Handwerkers, mit welcher ich in Vertraulichkeit sollte gelebt haben. Es war bestimmt eine Lüge, denn die Anmutung zum Geschlecht ist bei mir sehr spät gekommen. Der alte Graf ging wirklich zu dem Handwerksmanne, dessen Name ich gar nicht erfahren habe, und trug seine Gedanken so schonend als möglich vor; aber der heißköpfige Spießbürger nahm die Eröffnung sehr übel auf und geriet in Versuchung, den unbefugten Nachforscher zur Ehre seiner Tochter handgreiflich die Treppe hinabzubefördern. Es blieb also den guten Leuten nichts übrig, als zu glauben, der Melancholikus habe sich ein Leid angetan. In dieser Vermutung ließ man mich sogar in die Zeitung setzen; ich habe das Blatt viele Jahre nachher selbst gesehen. Daß ich meine Schulden vorher bezahlt hatte, schien mit ein starkes Argument gegen meinen Verstand zu sein: ein gräßlicher Gedanke über die Immoralität unserer Jugend!
Als der Graf durch meine Briefe aus Hessen die Geschichte, aber freilich nicht den Grund derselben erfuhr, schien er es für eine gewöhnliche Albernheit zu halten und mich für einen Menschen zu nehmen, den man seinem guten oder bösen Genius überlassen müsse. Ich hatte im allgemeinen nur Drang, die Welt zu sehen, vorgeschützt und nur wenige Hindeutungen auf mein inneres Ich angegeben. Wozu sollten Erörterungen und Auseinandersetzungen führen, die niemanden frommen konnten? Die Herren würden gedacht haben: contra principia negantem non est disputandum. Also war ich eine Prise des Schicksals und mußte nun werden, wozu ich an der Hand desselben mich selbst machte.
Man brachte mich als Halbarrestanten nach der Festung[112] Ziegenhain, wo der Jammergefährten aus allen Gegenden schon viele lagen, um mit dem nächsten Frühjahr nach Fawcets Besichtigung nach Amerika zu gehen. Ich ergab mich in mein Schicksal und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriß man meine akademische Inskription als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muß man überall; wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu sehen gab es jenseits auch etwas. So dachte ich. Während unseres Aufenthalts in Ziegenhain brauchte mich der alte General Gore zum Schreiben und behandelte mich mit vieler Freundlichkeit. Hier war denn ein wahres Quodlibet von Menschenseelen zusammengeschichtet, gute und schlechte und andere, die abwechselnd beides waren. Meine Kameraden waren noch ein verlaufener Musensohn aus Jena, ein bankrotter Kaufmann aus Wien, ein Posamentierer aus Hannover, ein abgesetzter Postschreiber aus Gotha, ein Mönch aus Würzburg, ein Oberamtmann aus Meinungen, ein preußischer Husarenwachtmeister, ein kassierter hessischer Major von der Festung und andere von ähnlichem Stempel. Man kann denken, daß es an Unterhaltung nicht fehlen konnte; und nur eine Skizze von dem Leben der Herren müßte eine unterhaltende, lehrreiche[113] Lektüre sein. Da es den meisten gegangen war wie mir, oder noch schlimmer, entspann sich bald ein großes Komplott zu unser aller Befreiung. Man hatte soviel gutes Zutrauen zu meinen Einsichten und meinem Mut, daß man mir Leitung und Kommando mit uneingeschränkter Vollmacht übertrug; und ich ging bei mir zu Rate und war nicht übel willens, den Ehrenposten anzunehmen und fünfzehnhundert Mann auf die Freiheit zu führen und sie dann in Ehren zu entlassen, einen jeden seinen Weg. Außer dem glänzenden Antrag kitzelte mich vorzüglich, dem Ehrenmanne von Landgrafen für seine Seelenschacherei einen Streich zu spielen, an den er denken würde, weil er verteufelt viel kostete. Als ich so ziemlich entschlossen war, kam ein alter preußischer Feldwebel zu mir sehr vertraulich. »Junger Mensch«, sagte er, »Sie eilen in Ihr Verderben unvermeidlich, wenn Sie den Antrag annehmen. Selten geht eine solche Unternehmung glücklich durch; der Zufälle, sie scheitern zu machen, sind zu viele. Glauben Sie mir altem Manne, ich bin leider bei dergleichen Gelegenheiten schon mehr gewesen. Sie scheinen gut und rechtschaffen, und ich liebe Sie wie ein Vater. Lassen Sie meinen Rat etwas gelten! Wenn die Sache glücklich durchgeht, werden wir nicht die letzten sein, davon Vorteil zu ziehen.« Ich überlegte, was mir der alte Kriegsmann gesagt hatte, und unterdrückte den kleinen Ehrgeiz, entschuldigte mich mit meiner Jugend und Unerfahrenheit und ließ die Sache vorwärts gehen. Der Kanonier-Feldwebel hatte recht; es wurde alles verraten: ein Schneider aus Göttingen, der ein Stimmchen sang wie eine Nachtigall, erkaufte sich durch die Schurkerei eine Unteroffizierstelle bei der Garde, und da man ihn dort gehörig würdigte und er des Lebens nicht mehr sicher war, die Freiheit und eine Handvoll Dukaten. Ich erinnere[114] mich der Sache noch recht lebhaft. Alle Anstalten zum Ausbruch waren getroffen. Wir lagen in verschiedenen Quartieren, in den Kasernen, dem Schlosse und einem alten Rittersaale. Man wollte um Mitternacht auf ein Zeichen ausziehen, der Wache stürmend die Gewehre wegnehmen, was sich widersetzte, niederstechen, das Zeughaus erbrechen, die Kanonen vernageln, das Gouvernementshaus verriegeln und zum Tore hinausmarschieren. In drei Stünden wären wir in Freiheit gewesen, Leute, die Weg wußten, waren genug dabei. Als wir aber den Tag vorher abteilungsweise auf den Exerzierplatz kamen, fanden wir statt der gewöhnlichen zwanzig Mann deren über hundert, Kanonen auf den Flügeln mit Kanonieren, die brennende Lunten hatten, und Kartätschen in der Ferne liegend. Jeder merkte, was die Glocke geschlagen hatte. Der General kam und hielt eine wahre Galgenpredigt. »Am Tore sind mehr Kanonen«, rief er, »wollt Ihr nicht gehen?« Die Adjutanten kamen und verlasen zum Arrest, Hans, Peter, Michel, Görge, Kunz. Meine Personalität war eine der ersten: denn daß der verlaufene Student nicht dabei sein sollte, kam den Herren gar nicht wahrscheinlich vor. Da aber niemand etwas auf mich bringen konnte, wurde ich, und vermutlich noch mehr der Menge wegen, bald losgelassen. Der Prozeß ging an, zwei wurden zum Galgen verurteilt, worunter ich unfehlbar gewesen sein würde hätte mich nicht der alte preußische Feldwebel gerettet. Die übrigen mußten in großer Anzahl Gassenlaufen, von sechsunddreißig Malen herab bis zu zwölfen. Es war eine grelle Fleischerei. Die Galgenkandidaten erhielten zwar nach der Todesangst unter dem Instrument Gnade, mußten aber sechsunddreißigmal Gassen laufen und kamen auf Gnade des Fürsten nach Kassel in die Eisen. Auf unbestimmte Zeit und auf Gnade[115] in die Eisen, waren damals gleichbedeutende Ausdrücke und hießen so viel, als ewig ohne Erlösung. Wenigstens war die Gnade des Fürsten ein Fall, von dem niemand etwas wissen wollte. Mehr als dreißig wurden auf diese Weise grausam gezüchtigt; und viele, unter denen auch ich war, kamen bloß deswegen durch, weil der Mitwisser eine zu große Menge hätten bestraft werden müssen. Einige kamen bei dem Abmarsch wieder los, aus Gründen, die sich leicht erraten lassen; denn ein Kerl, der in Kassel in den Eisen geht, wird von den Engländern nicht bezahlt.
Endlich ging es von Ziegenhain nach Kassel, wo uns der alte Betelkauer in höchst eigenen Augenschein nahm, keine Silbe sagte und uns über die Schiffbrücke der Fulda, die steinerne war damals noch nicht gebaut, nach Hannoversch-Minden spedierte. Unser Zug glich so ziemlich Gefangenen: denn wir waren unbewaffnet, und die bewehrten Stiefletten-Dragoner und Gardisten und Jäger hielten mit fertiger Ladung Reihe und Glied fein hübsch in Ordnung. Ich genoß, trotz der allgemeinen Mißstimmung, doch die schöne Gegend zwischen den Bergen am Zusammenfluß der Werra und der Fulda, die dort die Weser bilden, mit zunehmender Heiterkeit. Das Reisen macht froher, und unsere Gesellschaft war so bunt, daß das lebendige Quodlibet alle Augenblicke neue Unterhaltung gab. So ging es denn auf sogenannten Bremer Böcken den Strom hinab. Nicht weit von Hameln, glaube ich, machte man eine Absonderung der Preußen, die man nicht durch Preußisch-Minden bringen durfte, und ließ sie einen Marsch zu Lande machen, um das Preußische zu vermeiden. Da mir das zusammengedrückte, eingepökelte Wesen auf den kleinen langen Fahrzeugen nicht sonderlich behagen wollte, meldete ich mich als Preuße beim Verlesen. Der Offizier sah in die Liste[116] und sagte: »Hier steht ja ein Sachse.« »So?« sagte ich; »nun, so will ich ein Sachse bleiben.« Er schwieg, ließ mich aber, nachdem alle verlesen waren, mit den Preußen aussteigen. Man stellte sich, und es ging zu Lande weiter. Ich hatte damals die Gewohnheit, ein Buch zwischen Weste und Beinkleider unter den Gürtel zu stecken. Das Buch mochte diesmal etwas zu stark sein und den Leib unförmlich machen. »Was Teufel, ist der Kerl schwanger?« sagte ein Hauptmann Lesthen, der eben vor mir stand, und hob die Weste beim Flügel auf, und es wurde der Julius Cäsar zutage gefördert. »Was Henker, macht er denn mit dem Buche?« fuhr er fort. »Ich lese darin«, war meine Antwort. »Wo hat Er denn das Latein gelernt?« »Das Latein? pflegt man gewöhnlich in der Schule zu lernen.« Er schüttelte den Kopf. Ich hatte in dem Buche eine Menge Randnoten aus dem Vegez, Frontin und andern Alten und Neuen, auch wohl von mir selbst niedergeschrieben. »Von wem sind denn die Bemerkungen hier?« »Von mir und vor mir von den angegebenen Herren.« Er sah mich fest an und endigte mit dem spöttischen Abschied: »Er wird wohl einmal ein recht großer Mann werden.« »Schwerlich«, sagte ich; »das ist unter den Deutschen gar nicht wahrscheinlich; aber wenigstens will ich nicht schuld sein, daß es nicht wird.« Nun ging es fort; und ich las, ohne eben weiter einen Zweck zu denken, in den Ruhestunden zuweilen nach meiner Weise einige Kapitel, aus bloßem Bedürfnis, mich besser zu beschäftigen, als ich in meinen Umgebungen sonst wohl konnte. Hier entspann sich in einem Nachtquartiere wieder ein Komplott und sollte der Kürze wegen, und da unsere Bedeckung nicht sehr stark war, sogleich ausgeführt werden; ich habe aber die Beschaffenheit desselben nicht recht erfahren können. Diese Rekrutenabteilung bestand aus lauter[117] preußischen Landeskindern und preußischen Deserteuren, die beständig vom Alten Fritz und Seidlitz und Schwerin sprachen und sich nichts Kleines dünkten. Aber weiß der Himmel, wie es war laut geworden: der kommandierende Offizier requirierte sogleich die ganze bewaffnete Bürgerschaft und die Bauern aus der Gegend, machte echt militärisch Miene, uns in der alten Kirche, wo wir lagen, zusammenzuschießen; und es ging alles wieder ganz ruhig bis an die Weser auf die Bremer Böcke. Hier half mir meine stoische Genügsamkeit und meine Humanität einen Streich machen, der mir in meiner Sphäre zu keiner kleinen Ehre gereichte. Gewinnsucht und Leidenschaft regiert, wie bekannt, die Welt. Damit wir nicht verhungerten, hatte ein Entrepreneur, ein Marketender im Großen, für keine kleine Summe sich anheischig gemacht, uns zu beköstigen. Man weiß, wie es geht. Wir wollten eben soviel als möglich essen, und er wollte so viel als möglich gewinnen, welches sich zusammen nicht wohl vertrug. Fast unsere ganze Löhnung ging auf die Menage; und der Klagen liefen bei dem Obersten von Hatzfeld, der den Transport kommandierte, viele ein. Der Mann hatte ein Gefühl für Recht und tat, was er konnte, den Speisewirt zur guten Behandlung zu nötigen. Da Ermahnungen bei Gewinnsüchtigen gewöhnlich vergeblich sind, wurden wechselweise von dem Transport nach den Schiffen Deputierte gewählt, die auf dem Kochschiffe nach dem Recht sehen sollten. Indes es ging mit den Deputierten wie im englischen Parlament. Dort besticht man mit Guineen, Stellen und Pensionen, hier bestach man mit Wein, Schnaps und Kuchen; und so ging es denn, hier wie dort, nicht viel besser als vorher. Als die Reihe mein Schiff traf, wurde ich von der Rekrutenschaft einstimmig zum Deputierten erwählt. Auf dem Kochschiffe wollte man[118] mich, wie gewöhnlich, höflich mit dem Weinglase empfangen und mit Konfekt in der Kajüte halten. Ich habe gefrühstückt, war mein Bescheid, und blieb bei den Kesseln stehen, um zu sehen, daß die gehörige Quantität Fleisch und Gemüse hinein kam. Als die Kähne kamen, um zu holen, drang ich darauf, daß die Menagekessel voll gegeben wurden. Wir werden nicht auskommen, sagte man. Wir werden wahrscheinlich auskommen, sagte ich, auf meine Gefahr; denn so viel hatte ich noch rechnen gelernt. Es blieb viel übrig, ich ließ zum zweitenmal holen und alle erhielten eine sehr gute Mahlzeit. Noch blieb viel übrig; doch nicht so viel, daß man noch einmal von vorn hätte anfangen können. Da kamen unsere Zwangswächter, die Dragoner, vom Ufer mit ihren Töpfen. Eine vorlaute schnippische Köchin wollte austeilen und von den armen Teufeln Weißpfennige dafür einnehmen. »Was soll das?« rief ich. »Das Essen ist unser, wir haben es bezahlt; die Leute müssen den Rest unentgeltlich haben.« Das Liebchen ward böse, und ich ergriff im Amtseifer den Schöpflöffel und teilte aus bis auf den Boden, ohne einen Heller zu nehmen oder nehmen zu lassen. Die alten Kerle drückten mir freundlich die Hand. »Wir sehen leider deutlich genug«, raunte mir einer zu, »wie Ihr betrogen werdet; können aber nicht helfen.« Als die belobte Kesselprinzessin es noch einmal wagte, mich zu stören, schlug ich sie im Ärger so heftig mit der Schöpfkelle auf die Hand, daß sie laut schreiend und drohend zum Prinzipal in die Kajüte sprang. Da man mich aber so fest entschlossen sah unterstand man sich nicht, mich weiter anzutasten. Ich bekam vom Ufer und von den Böcken eine Menge Dankadressen, mit der Versicherung, daß man noch nicht so gut und so reichlich gespeist habe; und diese Dankadressen hatten wohl wenigstens einen ebenso[119] guten Grund als die im Parlamente. Man nehme es, wie man will, ich halte diesen Tag für einen der schönsten meines Lebens; und das Bewußtsein macht mich stolz, daß ich als erster Volksdeputierter, trotz jeder Versuchung, Schmeichelei oder Drohung, mit eben der beharrlichen Entschlossenheit würde gehandelt haben. Die Sache lief unter den Offizieren herum, und ein jeder machte seine Glossen darüber nach seiner Sinnesweise. Die Reihe, Deputierter zu sein, kam nicht wieder an unsern Bock, also auch nicht wieder an mich.
So fuhren wir denn den ganzen Strom hinab von Minden bis zu Bremerlee, wo uns die englischen Transportschiffe erwarteten. In Minden auf der Wiese besichtigte uns der Makler Fawcet, und es gab von den Dragonerunteroffizieren und Gardisten einige freundliche Rippenstöße, weil wir nicht laut und voll und sonorisch genug: Es lebe der König! schrien. Da ich als ein kleiner Kerl im Ranzengliede, das heißt im mittelsten, stand, entging ich den Puffen, ohne eine Silbe zu sagen genötigt zu sein. Aber den Hut mußte ich wenigstens mitschwingen.
Es würde mir ein hoher Genuß gewesen sein, an der Hand eines Freundes und Geschichtskenners die Partien der Weser von Korvei bis Bremen zu besehen, wo die Schönheiten der Natur durch den Gedanken der alten, jetzt verlorenen Nationalehre magisch beleuchtet werden; aber damals war unsere Reise ein sklavisches, dumpfes Hinstarren auf die Gegenden, wo ehemals Männer für ein besseres, nicht so üppiges Vaterland kämpften. Von Varus bis zu Bonifaz herab schwebten mir dunkel die Szenen vor, Bonifaz, der mit heiliger Einfalt die heroische Tugend vertrieb und die feiner gewebte Sklaverei spann, die uns zum Spielwerk anderer gemacht hat. Von Bremen bis Bremerlee[120] fuhren wir in anderen Fahrzeugen, die schon See halten können, aber sich nicht weit von den Küsten entfernen. Unbekümmert legte ich mich abends hin und schlief mitten auf dem Strome und war sehr verblüfft, als unsere ganz kleine Flotte des Morgens am Ufer ganz trocken dasaß, und wartete, bis die Flut sie wieder emporhob: doch waren wir alle nicht halb so verblüfft, als bei der ähnlichen Erscheinung Alexanders Soldaten auf dem Indus.
In den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschläge in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war, und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann; man denke die Menage. Wenn viere darin lagen, waren sie voll; und die beiden letzten mußten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt: es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: »Umgewendet!« und es wurde umgeschichtet; hatten wir nun auf der andern Seite quantum satis ausgehalten, rief das nämliche der linke Flügelmann, und wir zwängten uns wieder in die vorherige Quetsche. Das war eine erbauliche, vertrauliche Lage, ungefähr wie im hohen Paradiese, wenn auf der Bühne des Volks Lieblingsstück gegeben wurde.
Ich habe vor vielen, vielen Jahren diese liebliche Fahrt als Ouvertüre meines Schriftstellerwesens in Archenholzens[121] nun fast vergessenem Journal »Literatur- und Völkerkunde« mitdrucken lassen, will aber hier, um den Faden nicht zu unterbrechen, das Wesentlichste wieder hersetzen. Daß das obengenannte Menschenragout die Unterhaltung unterhielt, wird man nicht zweifeln. Die Seele derselben war ein dort vergessener ehemaliger französischer Offizier aus dem Siebenjährigen Kriege, mit dem Namen Dechar, der seit der Zeit abwechselnd gemeiner preußischer Dragoner und Füsilier-Unteroffizier und Sprachmeister und Fechtmeister, Unteroffizier und polnischer Revolutions-Hauptmann gewesen war, abwechselnd Gassen gelaufen, unter dem Galgen gestanden und im Felde Kanonen genommen hatte, der in Frankfurt am Main und Kassel, Berlin und Warschau, Breslau und Jauer alle Winkel kannte, alles Gute und Schlechte wußte, wie ein Achill focht und wie Heliogabal fraß und soff, wie Aristarchus sprach und wie Epikurs Küchenjunge lebte. Das Leben dieses Abenteurers allein würde Stoff zu einem großen Gemälde geben. Der schlechteste, gelehrteste und traurigste Gesellschafter war der gute Exmönch aus Würzburg, von dessen entsetzlichem Ende ich hernach noch einiges sagen will.
Es war mir doch ein sonderbares Gefühl, als ich den andern Morgen auf das Verdeck trat und zum ersten Mal nichts als Himmel und Wasser um mich sah. Der Ozean wogte majestätisch, und die Schiffe tanzten magisch wie kleine Spielwerke auf der unbegrenzten, ungeheuren Fläche; der Himmel war bewölkt und teilte dem Wasser seine tiefe, ernsthafte Farbe mit. Ich war wirklich in einer andern Welt und fühlte mich abwechselnd größer und kleiner, nachdem eine erhabene oder bange Empfindung eben in der Seele herrschte. So war es, als unter meinem Fuße Gewitter rollten und furchtbar schöne Zauberwelten bildeten, neben mir[122] die schwarz-roten Wolkensäulen des Ätna stürmten und über mir die milden Sonnenstrahlen Wärme umhergossen und weithin die ganze große Insel mit ihrer Fabelwelt magisch färbten. Bald kam Sturm und mit ihm die Seekrankheit. Beide waren weiter nicht gefährlich, aber doch den Neulingen furchtbar genug. Fünfe von der sechsmännischen Menage waren krank; ich blieb leider allein gesund. Die Seekrankheit ist nichts als die Wirkung der ungewöhnlich heftigen Bewegung, der man nicht Einhalt tun kann. Man hat ähnliche Erscheinungen genug auf dem Lande. Reiten und Fahren, vorzüglich rücklings, Schaukel, Karusselldrehen und ähnliche gymnastische Übungen sind die besten Vorbereitungen zu Seereisen. Die nächsten Vorkehrungen sind, wenig essen und hart und kalt, und wenig trinken und kalt und säuerlich: also ist Wurst, Schinken und dergleichen und Limonade und Wein vielleicht die gemessenste Diät die ersten Tage zur See. Ich sage, ich blieb leider gesund; auch für mich leider! Die Seeluft gibt gewaltigen Appetit; die Schiffsportionen waren klein. Da niemand aus der Menage essen konnte, hatte ich die Fülle zur Sättigung und konnte Vorrat von Zwieback sammeln, so daß ich wirklich eine ganze große Nachtmütze voll hatte. Bald kam einer und forderte seine Portion, dann der andere, dann der dritte, und so fort; in kurzer Zeit war ich auf mein eigenes kleines Kontingent gesetzt. Die Genesenen waren durch die Krankheit und das Fasten gehörig auf die beschränkte Portion vorbereitet; die Gesunden hingegen hatten eine sehr unangenehme Speisekapazität gewonnen. Bald war mein kleiner Vorrat aufgezehrt, und mein Magen war bei der ganzen Portion auf ein sehr unbehagliches Halbfasten reduziert. Hier sorgte dann zufällig die Muse für ihren Zögling. Ich saß auf dem Quarterdeck und las[123] eben Horazens »Angustam, amici, pauperiem«, als der dicke Steuermann mich sehr unfreundlich von der Bank schleudern wollte. Ich brummte meine Unzufriedenheit in meinem bißchen Englisch, das ich von Rogler gelernt hatte, so gut ich konnte, und wollte hinunter in meinen Kasten schleichen, wo ich mich von niemand hudeln ließ. Der Kapitän kam dazu, guckte mir in das Buch und hieß mich sitzenbleiben. Als er einige Anordnungen gemacht hatte, kam er zurück und fing eine Art von Unterhaltung mit mir an: »You read latin, my boy?« – »Yes, Sir.« – »And you understand it?« – »I believe, I do.« »Very well; it is a very good diversion in the situation, you are in.« »So I find, Sir; indeed a great consolation.« So ging es denn freundlich und teilnehmend weiter. Er nahm mich mit in seine Kajüte und zeigte mir seine Reisebibliothek, die aus guten Engländern und einigen Klassikern bestand, und versprach mir, wenn ich die Bücher gut halten würde, mir zuweilen eins daraus zu leihen. Durch seine Freundschaft erhielt ich etwas mehr Freiheit auf dem Schiffe, zumal da ich etwas Vergnügen am Seewesen zeigte und in wenigen Tagen mir die Nomenklatur der Taue und Segel merkte und sehr flink und sicher oben in dem Mastwerke mit herumlief. Es war wieder das Bedürfnis der Tätigkeit, die mir allerhand kleine Vorteile schaffte und mich vorzüglich gesund erhielt. Da der Kapitän wohl merkte, daß die Schiffsportion meinem exemplarischen Appetit nicht zureichend war ließ er mir großmütig heimlich zuweilen eine Nachtmütze voll Zwieback und Rindfleisch zukommen, welches[124] in der Tat im eigentlichsten Verstande ein sehr wohltätiges Stipendium war.
Die Kost war übrigens nicht sehr fein, sowie sie nicht sehr reichlich war Heute Speck und Erbsen und morgen Erbsen und Speck; übermorgen peas and pork und sodann pork and peas: das war fast die ganze Runde. Zuweilen Grütze und Graupen, und zum Schmause Pudding, den wir aus muffigem Mehl halb mit Seewasser, halb mit süßem Wasser und altem Schöpsenfett machen mußten. Der Speck mochte wohl vier oder fünf Jahre alt sein, war von beiden Seiten am Rande schwarzstriefig, weiter hinein gelb und hatte nur in der Mitte noch einen kleinen weißen Gang. Ebenso war es mit dem gesalzenen Rindfleische, das wir in beliebter Kürze oft roh als Schinken aßen. In dem Schiffsbrote waren oft viele Würmer, die wir als Schmalz mitessen mußten, wenn wir nicht die schon kleine Portion noch mehr reduzieren wollten: dabei war es so hart, daß wir nicht selten Kanonenkugeln brauchten, es nur aus dem gröbsten zu zerbrechen; und doch erlaubte uns der Hunger selten, es einzuweichen; auch fehlte es oft an Wasser. Man sagte uns, und nicht ganz unwahrscheinlich, der Zwieback sei französisch; die Engländer haben ihn im Siebenjährigen Kriege den Franzosen abgenommen, seit der Zeit habe er in Portsmouth im Magazine gelegen, und nun füttere man die Deutschen damit, um wieder die Franzosen unter Rochambeau und Lafayette, so Gott wolle, totzuschlagen. Gott muß aber doch nicht recht gewollt haben. Das schwergeschwefelte Wasser lag in tiefer Verderbnis. Wenn ein Faß heraufgeschroten und aufgeschlagen wurde, roch es auf dem Verdeck wie Styx, Pflegethon und Kozytuk zusammen; große, fingerlange Fasern machten es fast konsistent; ohne es durch ein Tuch zu seihen war es nicht wohl trinkbar, und dann[125] mußte man immer noch die Nase zuhalten, und dann schlug man sich doch noch, um nur die Jauche zu bekommen. An Filtrieren war für die Menge nicht zu denken. Guten, ehrlichen Landmenschen kommt dieses ohne Zweifel schrecklich vor, aber wer Feldzüge und Seefahrten mitgemacht hat, findet darin nichts Ungewöhnliches. Rum wurde gegeben und zuweilen etwas Bier, welches dem Porter ähnlich war und bei den Matrosen strong beer hieß. Da ich den ersten nicht genießen konnte, tauschte ich ihn gegen das letzte aus, welches mir Wohltat war. Zuweilen wurde mir auch eine Flasche Porter zugesteckt, da ich am Wein durchaus keinen Geschmack fand.
Stürme hatten wir oft und einmal so stark, daß uns der Aufsatz des Vordermastes und die große Rahe zerbrach. Die Türmung der Wogen, das Heulen der Winde durch die Segel, das Schlagen und Klirren der Taue, das Donnern der Wellen an die Borde, das Geschrei und Lärmen des Schiffsvolks, der ganze furchtbar empörte Ozean, alles ist in dem Neuling schrecklich, aber bald wird man es gewohnt und schläft ruhig unter dem Kampfe der Elemente. Der sybaritische Amtmann am Rheine, der die Nachtigallen wegschießen ließ, weil sie ihn im Schlafe störten, könnte keine bessere Kur brauchen als eine Reise über den Ozean – zumal in einem englischen Transportschiffe. Nichts gibt aber auch dem Sinn ein größeres Bild von der Kraft des menschlichen Geistes als das Regiment eines großen Schiffes. Man nehme eines aus der Linie. Man gebe ihm neunzig Kanonen; es ist noch keines von den ersten. Sie sind alle von dem größten Kaliber. Für jedes Stück habe man zweihundert Schüsse an Pulver und Kugeln: welcher Vorrat! Segel und Taue und Stangenwerk; vieles doppelt; eine Besatzung von tausend Mann, welche ungeheure Masse für ein Auge, das sie[126] zusammen auf dem Lande sieht! Für diese Mannschaft Lebensmittel an Essen und Trinken für viele Monate. Dieses alles in einer einzigen Maschine beisammen, mit welcher die Wogen wie mit einem Federballe spielen; und dieses ungeheure Ganze führt der menschliche Geist stolz und ruhig durch empörte Elemente hin und her nach seiner Wahl. Kurios Theater, die sich mit halb Rom auf einem Schwerpunkt drehten, als ob sie der Weltbeherrscher spotteten, waren kaum eine größere Erscheinung.
Wir fuhren nicht durch den Kanal und die spanische See, weil damals noch die Franzosen und Spanier dort mit Flotten kreuzten und auf uns lauerten, sondern segelten um die Inseln nördlich an den Orkaden weg. Der Sturm trieb uns weit weit nordwärts: und der Sicherheit wegen gab man vielleicht mehr nach, als nötig war. Wir konnten mutmaßlich nicht weit von Grönland sein; wir froren tief im Sommer, daß wir zitterten Tag und Nacht. Alles ging schlecht genug; wir brachten über einer Fahrt, die sonst gewöhnlich nur vier Wochen dauert, zweiundzwanzig zu. Die Portionen wurden noch knapper an Brot und Fleisch und Wasser; und meine Bekanntschaft mit dem Kapitän war mir noch wohltätiger. Krankheiten nahmen sehr überhand; doch starben von ungefähr fünfhundert Mann nur siebenundzwanzig, wenn ich nicht irre. Einige meiner näheren Bekannten waren darunter, und unter andern der Exmönch aus Würzburg. Er hatte für einen Mönch recht artige Kenntnisse, wußte viel Geschichte und Mathematik und sprach besser als gewöhnlich Latein. Er war von Anfang an meine Zuflucht gewesen, wenn die Langeweile sich meiner zuweilen zu bemächtigen drohte; aber von Anfang an zeigte er einen Mißmut und eine Gleichgültigkeit gegen das Leben, die ich für nichts weniger als philosophisch[127] hielt. Perfer et obdura war schon damals eines meiner Schibbolethe, und ich hielt es billig für entehrend, mich von gewöhnlichen Streichen des Schicksals niederschlagen zu lassen. In Ziegenhain und auf dem Marsche hatte ich alle Mühe, den Kleinmütigen aufrecht zu halten. Auf dem Flusse waren wir getrennt, und als wir auf dem Schiffe wieder zusamenkamen, hatte er so völlig Verzicht auf das Leben getan, daß keine Kraft mehr zu wecken war. Das Kloster ist freilich keine Vorbereitung zum Felde. Es fehlte ihm nichts als Lebensmut; aber Faulheit und Indolenz, die er wohl Resignation und Apathie nannte, hatten sich seiner in einem solchen Grade bemächtigt, daß er sich fast nicht mehr von der Stelle bewegte. Ein Faultier war die Tätigkeit selbst gegen ihn. »Wenn ich auch über den Ozean komme«, sagte er, »so geht dort drüben das Elend erst recht an. Not und Mangel und Mühseligkeit ist die ganze Aussicht, bis uns ein Rifleman durch die Lunge schießt oder ein Mohak skalpiert.« Da hatte die Klosterseele freilich nicht ganz unrecht; aber ein braver Kerl hält aus bis zuletzt, und es ist doch wohl der schändlichste Tod, aus reiner, absoluter Faulheit zu sterben. Nur im Kloster kann eine solche Gedankenmißgeburt entstehen. Er blieb entschlossen, dem Elend nicht entgegenzuleben und mir war es eine neue Erscheinung, von welcher mir keine Erfahrungsseelenkunde etwas gesagt hatte, daß man ohne alle weitere Krankheit und Veranlassung aus bloßer Indolenz sterben könne. Kein Arzt konnte die geringste Krankheitsanzeige finden, und er klagte über nichts als über das jämmerliche Leben und die noch jämmerlichere Aussicht. Man prügelte ihn zur Bewegung, zum Luftschöpfen, zum Waschen, zum Essen sogar; ohne Prügel tat er von alledem nichts, nur Rum trank er noch ein wenig ungeprügelt. Endlich ward[128] man das Prügeln überdrüssig und ließ ihn liegen: von dem Augenblicke an wurde nichts mehr gewaschen, gekämmt und gebürstet, und fast nichts mehr gegessen. Er lag in den Hinbrüten des Todes. Solange ich konnte, besuchte ich ihn in seinem Kasten neben den Aufgegebenen und versuchte noch, was Vernunft vermochte; endlich machte es mir die Selbsterhaltung zur Pflicht, mich zu entfernen. Nach dem Tode wollte das Klosterkadaver niemand anrühren, welches sehr zu entschuldigen war. Man suchte die schmutzigsten Gesellen aus und gab ihnen zur Belohnung Rum, daß sie den Toten über Bord warfen. Ich hatte doch noch so viel Teilnahme oder Neugierde, man nenne es, wie man will, mich zu nähern und die Erscheinung zu sehen. Es war ein gräßliches Bild menschlichen Elends und menschlicher Verworfenheit, das ich, Gott sei Dank, bei aller meiner Erfahrung nie wieder gesehen habe. Einige Monate hatte sich der Mensch nicht rasiert und in seinem Unrat gelegen. Das Hemd, dessen Farbe man nicht mehr erkennen konnte, das Kopfhaar, der Bart und die Augenbrauen und Wimpern wimmelten von Insekten, als ob er an der Phthiriasis gestorben wäre, welches doch bestimmt der Fall nicht war, denn vorher hielt er sich leidlich reinlich.
Einige Monate ist das Herumschwimmen auf dem Ozean, bei gehörigen Veränderungen, solange die Erscheinungen neu sind, keine üble Partie, zumal wenn man so in zahlreicher Gesellschaft segelt wie wir. Unsere Flotte von Transportschiffen aller Art, begleitenden Kriegsschiffen und Kaufmannsfahrzeugen, die die Gelegenheit der Sicherheit benutzten, mochte sich wohl auf siebzig Segel belaufen; und der Abend und Morgen einer solchen schwimmenden Kolonie hat sein Angenehmes, wenn die See nicht zu hoch und zu still ist. Besonders hat das Geläute etwas traulich Heimisches[129] und doch etwas sehr Feierliches auf der unermeßlichen Fläche, daß ich nicht selten zu einem sehr innigen Gebet gestimmt wurde. Was weder Vernunft noch Gefahr bewirken, bewirkt oft die magische Psychagogie der Töne durch das Gefühl.
Wenn ich nicht mit den Matrosen arbeitete, lag ich bei schönem Wetter mit dem Virgil oben im Mastkorbe und verglich unsern überstandenen Sturm mit dem seinigen und fand ihn nie so lebendig wahr als eben jetzt, wo ich an den vorigen dachte und den kommenden erwartete. Sein »Insequitur clamorque virum, stridorque rudentum« ist einfach malerisch schön, daß es den ganzen Auftritt gibt. Das hat er selbst gefühlt, weil es mit wenigen Veränderungen in allen seinen Beschreibungen eines Seesturms wieder kommt. Wenn wir auch nicht wüßten, daß er zur See war, aus diesen Stellen würden wir es fast untrüglich schließen können, sowie ich aus seiner Beschreibung des Atlas schließe, daß er nie auf einem Berge erster Höhe war. Ob ich gleich viele Hilfsmittel der Beschäftigung in und außer mir hatte, die den andern fehlten, so fing das Einerlei der Szenen doch endlich an, mir lästig zu werden. Das Kabeljauangeln und das Einsalzen zu Laberdan auf einigen Bänken in der Nähe von Amerika gab einige Tage wieder gutes Essen und gute Unterhaltung. Ich erinnere mich, daß wir einmal so reichlich fingen, daß außer der Verteilung elf Tonnen in einem Nachmittag eingesalzen wurden. Keine Leber von irgendeinem Tier zu Wasser und zu Lande ist mir feiner und schmackhafter vorgekommen als die Leber vom Kabeljau, sowie der Fisch selbst, frisch zubereitet und genossen, einer der köstlichsten ist. Ich würde ihn gleich nach dem Sterlet und Thunfisch setzen und ihn dem Lachse vorziehen, zumal da er auch viel zarter und gesünder ist.[130]
Endlich bekamen wir das Ufer von Akkadien zu Gesichte und liefen unter ungemeinem Freudengeschrei in der Bucht von Halifax ein. Halifax ist unstreitig einer der besten Häfen am Ozean, vielleicht der beste, für eine unzählige Menge Schiffe; sicher gegen alle Stürme. Die Insel und das Fort St. George nebst einigen starken Landbatterien verteidigen den Eingang, und es gehört schon eine ziemliche Menge dazu, ihn zu forcieren. Seine Lage ist so, daß er mit Fleiß und Aufwand unbezwinglich gemacht werden kann, wenn man nur die Landseite zu verteidigen imstande ist.
Man brachte uns wahrscheinlich nach Halifax, weil es in New York und den anderen Provinzen schon höchst mißlich mit den Royalisten stand und man das Ausschiffen kaum wagen durfte. Der Tag der Ausschiffung war einer der schönsten und einer der schlimmsten. Zweiundzwanzig Wochen waren wir herumgeschwommen, ohne das geringste Land gesehen zu haben. Da wir keine britischen Amphibienseelen waren, sehnte sich alles ohne Ausnahme nach festem Fuße, zumal da der Scharbock empfindlich zu werden anfing. Es war ein Hungertag, da uns die Schiffe an das Land wiesen und das Landkommissariat, zumal da das Ausschiffen sich sehr spät verzögerte, noch nicht geliefert hatte. Doch vergaß jeder in der Freude gern die Forderung des Magens, wenn er nur den Boden begrüßen konnte. Ich erinnere mich dabei eines sehr wehmütigen Auftritts. Ich war einer der ersten am Lande und hatte nebst einigen andern eine kleine Quelle herrlichen Wassers am Ufer im Sande entdeckt. Lange hatten wir diese köstliche Erquickung entbehrt, wir tranken mit Wollust und großen Zügen. Schnell erscholl die Entdeckung, und die Hungrigen und Durstigen stürzten in Haufen nach dem kleinen spiegelhellen Wasserschatze, drängten sich, stießen[131] sich, jeder wollte gierig der erste Teilnehmer sein; in dem Getümmel geriet der Sand des abschüssigen Ufers in Unordnung, gab nach, und in einem Augenblick war die ganze kleine herrliche Quelle versandet. Sie brauchte Stunden, um sich wieder zu läutern, und die Menge stand traurig um sie herum und betrachtete lechzend den Verlust.
Als ich vom Schiffskapitän Abschied nahm, drückte er mir mit herzlicher Freundlichkeit die Hand. »It is a pity, my boy«, sagte er, »you do not stay with us; you would soon become a very good sailor.« »Heartily I would«, sagte ich, »but you see, it is impossible.« »So it is«, rief er, »God speed you well!« Mit einem dankbaren Wunsche für den menschenfreundlichen Mann stieg ich die Leiter hinab ins Boot und ruderte dem Ufer zu. Das Ufer um Halifax her ist unfreundlich, ziemlich öde und unfruchtbar. Der Ort, der uns zum Lager angewiesen wurde, war abhängiger Felsenboden. Wir kamen spät an Land, und ehe die Bedürfnisse herbeigeschafft wurden, ward es fast Nacht. Die Zelte kamen an und sollten aufgeschlagen werden. Man hatte mich zum Unteroffizier ernannt, ich sollte also für das Aufschlagen sorgen. Nun hatte ich in meinem Leben nur ein einziges Lager ganz nahe gesehen und wußte von der Maschinerie eines Zeltes nicht einen Pfifferling. »Schlippe«, sagte ich zu einem alten preußischen Grenadier, der mir zugeteilt war, »Latein und Griechisch verstehe ich so ziemlich, aber wenig vom praktischen Militär; helfe Er mir durch, vielleicht kann ich wieder durchhelfen.« Der alte Satyr lächelte, ergriff[132] das Beil, nahm einige mit sich, tat, als ob er meine weisen Befehle ausführte, und in einer Stunde stand unser Zelt trotz den übrigen so gut da, als es der harte Boden erlauben wollte. Die Schwierigkeit war nicht klein, da die Zeltstangen und Zeltpflöcke erst aus dem Walde geholt und gehauen werden mußten. Die Nacht kam ein Sturm, wie ein Orkan, der unserer Architektur weidlich spottete. Den folgenden Morgen standen vom ganzen Lager nicht zehn Zelte mehr fest das unsrige stand nur halb; viele hatte der Wind in den Morast hinabgetrieben. Nun fingen wir an, etwas solider zu bauen, wozu uns auch die Kälte trieb; denn es war schon spät im Jahr und ein kimmerisches Wetter auf der verdammten Landzunge.
Da man den Transport nicht zu den Regimentern bringen konnte, wurden wir in ein Bataillon von fünf Kompanien formiert und sollten für uns Dienste tun. Das ging toll genug; der Oberste Hatzfeld tat sein möglichstes, das Gesindel in Ordnung zu bringen. Fast die Hälfte waren gediente Leute, das machte die Sache etwas leichter; nur waren, wie natürlich, die besten Soldaten fast immer die liederlichsten Kerle. Ich als Unteroffizier sollte nun den Exerziermeister machen und wußte selbst noch blutwenig. »Schlippe«, sagte ich wieder, »Er sieht wohl, daß es mit mir noch etwas hapert. Wir wollen täglich eine Stunde in den Wald gehen, als ob's zur Jagd wäre; da ist Er wohl so gut, mir einige Handgriffe gründlicher zu zeigen, als ich sie bis jetzt gefaßt habe.« Der alte Satyr lächelte und meinte: »Es würde schon gehen, zur Not auch ohne ihn.« Es ging; gerade wie bei einem Professor, qui docendo discit, ward es täglich mit mir besser, und bald galt ich für einen Kerl, der sein Gewehr meisterhaft zu handhaben verstand und sich in die kleinen Evolutionen geschickt genug zu finden wußte.[133] Es gehört nur einige Kenntnis mathematischer Figuren und etwas Geistesgegenwart zu dem letzten.
Das Leben im Lager im Spätjahr war schlecht genug; keine gute Kost und Kälte bis zum Heulen und Zähneklappern. Unser Bataillon sah aus, buntscheckig wie eine Harlekinsjacke, da es aus den Uniformen aller Regimenter bestand. Wir hatten weder Fahnen noch Kanonen, da es täglich hieß, wir sollten zu unseren Regimentern stoßen. Ich nebst ungefähr zwanzig andern war dem Regiment Erbprinz zugefallen, habe aber das Regiment nie gesehen.
In dieser Zeit machte ich Münchhausens oder er vielmehr meine Bekanntschaft. Ich saß im Zelt und wärmte mich gegen die nasse Kälte etwas an Flaccus Odenfeuer, da schlug ein Offizier den Zeltflügel zurück und fragte, ob ich der Sergeant Seume wäre. Da ich denn der war, hieß er mich herauskommen. Ich warf mich in die Ordonnanz und trat hervor; er belugte mich etwas neugierig, faßte mich am Arm, und fort ging's durch mehrere Kompaniegassen dem Ende des Lagers zu, wo sein Zelt stand. Ich wartete der Dinge, die da kommen sollten, da der Herr unterwegs ziemlich einsilbig war. In seinem Zelt lagen auf dem Tische einige Verse, die er mir hingab, und mich fragte, ob sie von mir wären. Ich besah sie und sagte ja. Es war eine tragikomische Elegie über unser Leben im Lager, die wie der Gegenstand selbst, lächerlich-weinerlich genug sein mochte. »Wir müssen bekannter werden«, sagte er. »Sehr gern«, sagte ich. Er bat mich auf ein Stückchen Wildbraten, denn er ist bekanntlich ein trefflicher Waidmann, den Abend zu Tische; und da in meinem Zelte Schmalhans Küchenmeister war, so kam mir die Einladung sehr willkommen. Seitdem waren wir fast überall zusammen, wenn uns der Dienst nicht trennte, welches leider denn oft genug geschah.[134] Münchhausen war damals, wie Johnson sich ausdrückt, a man of sound strong unletter'd sense, ein Mann von gesundem, gediegenem, ungelehrtem Verstande, welches ihm und mir sehr zustatten kam; denn ich hatte verdammt viel Schulstaub und nicht wenig Schuldünkel an mir, Obgleich meine klassischen Kenntnisse noch sehr seicht waren. Sein Beifall war nun meine beste Belohnung und seine Kritik meine beste Belehrung. Ich begriff, daß bloße Schule nicht alles sei; und er fand, daß die Schule doch vieles sei und desto mehr, wenn sie durchaus Zögling und Folgerin der besseren Natur ist.
Es hat sich ein freundschaftlicher Zirkel von Offizieren gebildet, in den man mich unvermerkt fast unzertrennlich hineinzog und mit vieler Herzlichkeit behandelte. Münchhausen war stillschweigend durch seine Mischung von Ernst, Bonhommie und heiterer Laune darin die Hauptperson. Jeder trug das Seinige dazu bei, die Unterhaltung und die Menage zu würzen. Die meisten jungen Herrn waren tüchtige Nimrode; und so fehlte es uns selten an etwas frischem Wild auf dem Tisch, denn die Lieferungsartikel, ausgenommen das Brot, welches vortrefflich war, waren nicht viel besser als auf dem Schiffe. Die Lieblingsneigung eines jungen Mannes, welcher Buttlar hieß, zur Konditorei machte besonders unsere Desserte sehr reich und köstlich, da es uns an Ingredienzen nicht fehlte; und ich erinnere mich, selten besseres Backwerk genossen zu haben als aus seiner Offizin. Es war keine uninteressante Gruppe, wenn einer eine wilde Ente spickte, der andere Madeira brachte, der dritte das Gewehr putzte, der vierte Dienstaudienz gab, der fünfte mit Schürze und Geschirr vor dem Kamine Pastetchen schuf, der sechste den possierlichen Ansteher machte und der siebente im Julius Cäsar las, aber mehr auf die Ente[135] und die Pasteten als auf den Text sah. Der Dominus Konditor hatte eine paradiesische Freude und ein ganz verklärtes Antlitz, wenn wir seinem Machwerk durch heroisches Essen und kräftige Lobsprüche Ehre erwiesen; denn er genoß selten etwas davon. Nun gab es aber undankbare Schäker, die zuweilen nach dem Genuß eine bittere Kritik darüber anfingen; und dann geriet nicht selten der junge Künstler in so heftiges Feuer, daß er Pfannen, Kasserolle, Kuchenformen und alle Gerätschaften zornentflammt durcheinanderwarf und dreimal heilig schwur, er wolle für uns undankbare Gesellen keine Schürze mehr umbinden; welches er dann nach echter Dilettantenart gewöhnlich drei Tage hielt, wo ihn die Naturschwachheit und Gutmütigkeit wieder besiegte. Es gelang den Herren nicht, mich zum Jäger zu machen, ob ich gleich zuweilen aus Gefälligkeit mitzog oder auch wohl allein mit dem Gewehr am Wasser herumstreifte, woran vorzüglich mein kurzes Auge Schuld haben mochte. Denn von Jugend auf konnte ich nur auf eine kleine Entfernung bestimmt sehen, ob ich gleich in der Nähe sehr scharf sah und die kleinste Schrift bei Mondschein las, welches noch jetzt ziemlich unverändert ebenso ist. In der alten Welt habe ich nie gefischt, außer zuweilen als Knabe mit meinem Vater in der Gippach, welche herrliche Schmerlen enthielt; in Amerika verführte mich der Reichtum des Fischzugs nicht selten zu diesem Vergnügen, wo ich in einer Stunde manchmal mehr Hummer und black salmon, eine Art kleinere schwarzbraune Lachse, fing, als ich nach Hause zu bringen imstande war. Da beide Arten nicht zu meinem Geschmack gehörten, schenkte ich sie gewöhnlich dem ersten, der sie haben wollte. Für Hummer wählte ich kleinere, zartere Krebse; und von den Fischen waren Aale, Makrelen, Kabeljaus und einige Schollenarten[136] meine Lieblinge, die alle sehr reichlich und sehr wohlfeil dort zu haben waren; denn für einen englischen Stüber wurde ein Kabeljau gekauft, der mit dem Kopf auf der Schulter lag und mit dem Schwanze nicht selten die Erde berührte. Die Fische waren zwar im Lager als Fieber erzeugend verboten; aber ich ließ mich nicht abhalten meiner Liebhaberei zu folgen, und mußte selbst einmal dafür auf der Brandwache sitzen. Sie haben mir nie geschadet; vielleicht weil ich sie sehr einfach und meistens gebraten aß. Das war besonders der Fall mit einer sehr großen Sorte Heringe, die zum Einsalzen, wenigstens für die dortige Kunst, zu mächtig waren, aber einen herrlichen Bratfisch gaben. Ich bin nicht Naturhistoriker; aber es macht mir oft ein eigenes Vergnügen, das Geschlecht der Heringe nach meiner Meinung durchzugehen, von dem großen ellenlangen, amerikanischen Heringen herab bis zu der athenischen Aphye, die nur das Feuer zu riechen brauchte, um gekocht zu sein, und die auch mit zu den Heringen zu gehören scheint. Dazwischen liegen der englische, der holländische, der schwedische, der dänische Hering; die Strömlinge und Killoströmlinge, vorzüglich aus der Peipussee; die Sprotten;, die Anchovie, die Sardelle, die mit der Aphye fast eins zu sein scheint; und weiß der Himmel, wie viele Arten noch in den indischen Meeren leben, mit denen ich unbekannt bin.
Münchhausen munterte mich beständig auf zur Arbeit, das hieß zum Dichten, wozu ich aber weder viel Zeit noch Lust hatte. Auch kann ich mich nur weniger Kleinigkeiten erinnern, die ich damals geschrieben hätte, und keiner einzigen, die verdient hätte, aufbewahrt zu werden, wäre es auch nur als Beleg der Bildungsgeschichte; alles war höchst mittelmäßig. Dafür lief ich, wenn ich Zeit hatte, mit Horaz oder Virgil in der[137] Hand, oder auch wohl mit einem Homer, in den Wäldern herum, lagerte mich in einer Grotte oder alten Baumgruppe und vergaß nicht selten über meinen Lieblingsstellen den Sonnenuntergang, so daß ich sehr spät in das Lager oder die Kasernen zurückkam. Daneben war ein alter Hagedorn und ein Exemplar von Hölty, die ich irgendwo aufgetrieben hatte, meine Begleiter. Das Beste von Hölty wußte ich damals auswendig, wozu noch jetzt bei mir seine berühmten Traumbilder nicht gehören. Die Elegie am Grabe eines Dorfmädchens und am Grabe seines Vaters sind für mich noch jetzt die lieblichste Wehmut, die ich in der Literatur kenne. Ich zeigte Münchhausen die Schönheiten und ihre Gründe, welches mir bei ihm sehr leicht ward, denn ich habe selten eine Seele für wahre Schönheit empfänglicher und enthusiastischer gefunden als die seinige. Er bedauerte, daß er mir in den Klassikern nicht folgen konnte; aber was ich ihm daraus übersetzte, so wenig meisterhaft auch die Übersetzung sein mochte, bewies ihm doch, daß meine Vorliebe für sie kein Vorurteil war und weckte ganz leise die Neigung, die bald Entschluß und Ausführung ward, selbst bekannt zu werden mit diesen reichen Schätzen echter Kunst. Er überraschte mich einige Jahre nachher mit einer Kenntnis, die in Erstaunen setzte. In manchem Alten, vorzüglich im Flaccus, den er etwas hyperbolisch verehrte, hatte er mich zurückgelassen.
Der Dienst war, zumal für mich als Unteroffizier, beschwerlich genug und ließ nicht viel Zeit übrig. Überdies spannte mich noch dazu der Oberste Hatzfeld in das Joch als Schreibersknecht, so daß ich die noch übrigen Mußestunden beim Adjutanten als Adjuvant saß, mir fast die Finger krumm schmierte und weiter nichts erntete als ein freundliches »Wir bleiben euch in Gnaden gewogen«; wovon doch am Ende selbst[138] Taubmanns Katze ihr bischen Geist aufgab. Ich hatte bei dieser Veranlassung einen sehr tragikomischen Auftritt auf meine Unkosten. Niemand bemerkte die Runzeln und den Murrsinn auf meiner Stirne; das hieß tagaus, tagein, schreib, Teufel, schreib; bis ich in meinem verkehrten Sinn auf ein verzweifeltes Mittel geriet, mich zu befreien. Sowie ich von der Wache kam, nahm ich mein Gewehr und ging in den Wald, um nicht zugegen zu sein, wenn, wie ich vermutete, die Botschaft zu Schreiberei kommen sollte. Das geschah; meine Entfernung wurde sogleich auch als absichtlich mit ziemlich boshaften Zusätzen durch die gehörigen Instanzen rapportiert. »Du wirst den Teufel auf den Hals bekommen«, riefen mir meine Kameraden zu, als ich zurückkam; »der Oberste hat zweimal geschickt; du sollst schreiben.« »So«, sagte ich; »es ist gut.« »Ich glaube vielmehr, es ist nicht gut«, meinte der Feldwebel. »Auch kommen Sie morgen wieder auf die Wache; es sind zwei auf Kommando gegangen.« Den andern Morgen stand ich in der Front der Wachtparade, als der Oberste ziemlich grimmig auf mich zukam und mir im Eifer einen Knopf vom Rocke drehte. Der Oberste war ein kolossalischer Mann, der auftrat wie ein Herkules, mit dem Blicke Funken sprühte und eine Stimme sprach wie eine Quartposaune, übrigens aber noch ziemlich human und wohlwollend war. Er soll zu seiner Zeit, wie man sagte, zu Rinteln mächtig renomiert haben. »Wo ist der Herr gestern gewesen?« donnerte er mich an. »Auf der Jagd.« Jedermann wußte, daß ich sonst eben kein Jäger war. »Ich will den Sakrementer jagen«, fing er an und hielt eine kurze Art von energischer Galgenpredigt, deren Finale war, daß ich aus der Front ohne Säbel sogleich in die Wache befördert wurde. Nach der Parole wurde Exekution mit dem kalten Eisen gehalten, immer unter[139] Fortsetzung des obigen erbaulichen Sermons von Distinktion und Unerkenntlichkeit und Halsstarrigkeit, mit einigen starken Donnerwettern durchschossen, die sein furchtbarer Baß ziemlich gut nachmachte. Sodann ging es wieder in die Wache. Den andern Morgen, als ich freigelassen wurde, oder vielmehr, als man die Kette etwas länger ließ, meldete ich mich ordonnanzmäßig bei den Instanzen und also auch bei dem Obersten. »Sind wir nicht ein Paar recht dumme deutsche Dorfteufel«, kam er mir komisch polternd entgegen, »daß wir uns nicht friedlich vertragen können und uns da so zanken und streiten müssen!« »Ich darf nicht widersprechen, Herr Oberster«, brummte ich halblaut mürrisch, skoptisch durch den Bart. »Zum Teufel, Herr, sei Er nicht impertinent!« rief er. Nun fing ich an, zu exponieren in aller Ordnung mit Bestimmtheit, daß der Dienst hart und strenge sei, daß ich von Wachen Visitieren, Kommandos wenig Nächte frei habe, daß wenn meine Kameraden ausruhten, ich halb schlaftrunken mich am Schreibtische quälen müsse, daß ich das nicht aushalten könne usw. Der Oberste rieb die Stirne, meinte, dem Dinge könne wohl abgeholfen werden; nur habe ich eine sehr schlechte Methode ergriffen. Da hatte er Recht. Nun frühstückten wir zusammen; er befahl, mich vom gewöhnlichen Dienst zu befreien, außer wenn das Bataillon manövrierte, um nur schreiben zu helfen; und dazu gab er mir monatlich einige spanische Taler Zulage. Die Ausgleichung war besser als der Prozeß. Die größte Freude über meinen Unfall hatte wohl das Zöfchen, dem ich auf der Weser auf dem Speiseschiffe im Amtseifer so strenge mitgespielt hatte, und das jetzt recht stattlich bei dem Major, wie man sagte, eine Art von haushälterischer Liebschaft machte. Sie lächelte mich so schadenfreundlich an, als ich mich vom Arrest meldete, als ob sie mir[140] den ganzen Auftritt bei Bremen zurückgeben wollte. Nun ging es gut; ich schrieb eine lange Zeit viel Regimentslisten und tat übrigens sehr wenig. Die Arbeit war zwar trocken und langweilig genug, da oft wegen eines alten, morschen Pfanndeckels, der nicht zwei Pfennige wert war, einige Bogen umkopiert werden mußten; dafür fing aber eben auch damals dort das papierne Jahrhundert recht praktisch an und hat seit der Zeit gehörige, reichliche Früchte getragen. Bei Münchhausen konnte ich nun nicht so oft sein, als ich wünschte und er zu wünschen schien; und die guten Leute hoben mir manchmal mein Stück wilde Ente und einige Pastetchen auf, bis ich erst spät zur Partie kommen konnte. Ich tat abwechselnd Dienste, nach dem Behuf, als Korporal, Sergeant, Fourier und Feldwebel, so daß ich alle Süßigkeiten des kleinen Soldatenlebens recht auskosten konnte. Als Fourier war ich ein reicher Mann, weil bei den Lieferungen immer etwas an Brot, Butter, Fleisch, Rum usw. übrigblieb; nur ein einziges Mal mußte ich über zehn spanische Taler zusetzen; da hieß es denn: »Tut der Herr nicht die Augen auf, so tue er den Beutel auf.«
An eigene Arbeit wurde jetzt wenig gedacht, so sehr mich auch Münchhausen antrieb; einige Kleinigkeiten verdienen nicht Erwähnung. Nur ein einziges Stück, das eine Art von Jagdstück war, wäre vielleicht nicht ganz unwert, als Bildungsanfang mit aufbehalten zu werden, wenn nur noch irgendwo etwas davon zu finden wäre als in den Winkeln meines Gedächtnisses, wo nicht viel davon übrig ist. Einiger Verse erinnere ich mich; sie lauteten, glaube ich, so:
Laß uns ruhen, Freund, in dieser Höhle,
Auf dem grauen Steine da,
Den vielleicht noch keine Menschenseele[141]
Seit dem ersten Tag der Erde sah.
Ha, wie schauervoll und furchtbar siehet
Hier das Antlitz unsrer Mutter aus!
Wie die Allmacht sie dem Nichts entziehet,
Liegt sie hier, Natur, in Schreck und Graus.
Felsen, seit der Flut noch unbestiegen,
Heben schwer ihr schwarzes Haupt empor,
Und um ihre dunkeln Schädel fliegen
Ungewitter aus der Kluft hervor.
Kreuzend liegen tausendjähr'ge Eichen
Durcheinander, die das Alter fraß;
Morsche, eingeborstne Stämme zeigen,
Daß den Wald hier nie ein Förster maß.
Kein gesellig Tier besucht die Klüfte,
Wohin nie der Fuß des Wandrers dringt,
Wo kein Vogel durch die leeren Lüfte
Eine Melodie der Freude singt.
Nur zuweilen brummt mit tiefem Grimme
Ein bejahrter Bär aus seiner Gruft
Durch die Felsen, wo mit heisrer Stimme
Nur ein alter grauer Adler ruft.
Doch vielleicht kann noch ein Wilder lauschen,
Der zum Mord sein krummes Messer schleift,
Und sodann in blitzgeschwindem Rauschen
Uns den Schädel von dem Hirne streift usw.
Das übrige ist verwischt und wohl schwerlich irgendwo wiederzufinden oder des Aufsuchens wert. Das Skalpieren der Wilden ist bekannt genug, und man erzählt davon fürchterliche Beispiele. Mir selbst ist keines bekannt geworden. Sie skalpieren sehr ehrlich nur ihre Feinde, und unsere Wilden waren durchaus nur freundschaftliche Leute. Ich kann wenig von ihnen sagen, was nicht schon bekannt wäre. Sie kamen sehr häufig in großer Anzahl in die Stadt, um ihre[142] Jagdbeute zu verkaufen, die meistens aus Moostieren, Geflügel und zuweilen Fischen, vorzüglich Aalen, bestand. Dafür bekamen sie Rum, europäische Bedürfnisse und spanische Taler. Sie wußten den Wert des Geldes schon sehr gut zu schätzen und betrogen ebensooft, als sie betrogen wurden. Das Moostier, oder das Elent, ist ein majestätisches Geschöpf, das an Größe dem größten Holsteiner Pferde nichts nachgibt, Schaufelgeweihe wie der Damhirsch hat, die prächtig und furchtbar ausgreifen und ihm ein schreckbares Ansehen geben. Das Fleisch ist nicht immer gut; von einem jungen kann man es zu den Leckerbissen zählen, wenn es gut zubereitet wird. Man kann sich die Menge dieser Tiere denken, die dort müssen gewesen sein, da ganze englische Regimenter Tornister von Elentsfellen hatten. Die sogenannten Wilden waren nicht viel schlechter gekleidet, als ich die Letten, Esten und Finnen gefunden habe. Ein grobes graues Tuch, künstlich genug um den Körper gewickelt, machte das Hauptkleidungsstück. Sie kamen gewöhnlich zur See, in ihren bekannten Booten von Birkenrinde, die meisterhaft gebaut waren, und die sie mit ihren kleinen Rudern meisterhaft zu führen verstanden. Die englischen Matrosen, die es ihnen nachtun wollten, verloren sehr oft das Gleichgewicht und fielen in die See worüber denn die Indier und über das europäische schwerfällige Schwimmen recht herzlich lachten. Sie machen mit diesen Booten große Küstenreisen und stechen damit außerordentlich weit in die See. Ich erinnere mich eines Falles, der uns wenigstens ziemlich unterhaltend war. Ich hatte auf einer kleinen Außenbatterie die Wache, saß auf einer Kanone und schaute behaglich in die See hinaus, die eben ziemlich hoch und hohl ging. Da entdeckten wir in großer Ferne etwas, worüber jeder seine eigenen Mutmaßungen[143] hatte, was es wohl sein könnte. Keiner riet die Wahrheit. Als es näher kam, sahen wir, es war ein indisches Birkenboot, das der Wind grade zu uns ans Ufer trieb. Wir eilten hinab, und es lag ein ziemlich alter Uramerikaner darin, der in Sturm und Wogenbruch recht ruhig schlief. Neben ihm lag eine leere und eine halbleere Rumflasche, die seinem Schlummer sehr behilflich gewesen sein mochten. Er war nicht zu ermuntern, denn sein Zustand ist leicht zu erraten. Wir führten ihn hinauf ins Wachthaus, legten ihn auf dem ruhigsten Ort der Pritsche nieder, wo er lethargisch fortschlief. Das Boot zogen wir ans Land, die Flaschen bargen wir; den Beutel, den er am Gürtel trug und in dem vierzig spanische Taler waren, schloß ich aus Vorsicht in den Schrank. Als er ernüchtert erwachte, blickte er wild verwundert um sich, daß er sich auf einer europäischen Wache befand. Da wir ihm aber die gefährliche Lage bedeuteten, in welcher er sich befunden hatte, ward er heiter und schien im Begriff zu sein, uns danken zu wollen; da er aber auf den Gürtel blickte und seinen Beutel vermißte, ward sein Gesicht länger und breiter, und ein Gemisch von Gefühlen schien in seiner Seele zu arbeiten, die alle besagten: Ha, ha! so ists? Du bist unter die weißen Leute geraten. Als ich ihm aber den Beutel aus dem Schranke darreichte und er schnell am Anblick merkte, daß wohl nichts fehlen würde, er wohl auch eilig den Schluß machen mochte, daß man nicht einen Teil behalten würde, wo man des Ganzen Meister war, ward seine Freude urpatriarchalische Ausgelassenheit. Er umarmte einen nach dem andern, und man sah ihm an, daß ihm das Geld nicht so lieb war als die Gesellschaft ehrlicher Leute; und als er die Summe endlich vollzählig fand, bestand er durchaus darauf, die Wache sollte eine Handvoll Taler nehmen. Ich hatte gute[144] Gründe, das zu verweigern; aber einige mußten wir behalten. Nun bugsierten wir ihn wieder in sein Boot, mit guten Erinnerungen und Warnungen vor der Rumflasche. Er schien ganz Dankbarkeit; das Wetter war besser, und er ruderte guten Mutes durch die Bucht in den Ozean hinaus. Ein andermal hatte ich auf dem nämlichen Platze den grauenvoll großen Anblick, daß ein schönes, herrliches Schiff aus Unkunde des Weges bei starkem, widrigem Winde auf einen verborgenen Felsen lief. Ich hatte lange mit ängstlicher Teilnahme zugesehen, wie es mit Mühe und Schwierigkeit hereinlavierte. Meine Augen waren mit gespannter Aufmerksamkeit dahin geheftet; meine Seele war ganz auf dem Schiffe, da setze es in keiner großen Entfernung mit einem furchtbar krachenden Stoß auf das versteckte Riff, so daß die Maste zusammenbrachen und die ganze Maschine in Trümmer zu zerbersten drohte. Das Geschrei der Leute war herzschneidend. Sogleich fielen einige Notschüsse und sogleich eilten einige größere Schiffe, an ihrer Spitze eine Fregatte, und eine Menge kleinere Fahrzeuge zur Hilfe heraus. Von der Mannschaft wurde alles gerettet, aber von der Ladung fast nichts, da sie aus lauter Artikeln bestand, die nicht das Wasser vertragen konnten. Das schöne, fast ganz neue Schiff saß fest auf der Spitze, die ein ungeheures Leck gerade unten mitten am Kiel eingebrochen hatte, und weder menschliche Kraft noch Kunst war es heranzubringen imstande, bis endlich eine sehr einfache Maschinerie es mit der großen Springflut herunterhob. Man legte nämlich bei der niedrigsten Ebbe auf beiden Seiten eine Menge großer leerer Rumfässer, befestigte sie korrespondierend unter dem Kiel weg mit Tauen, und auf diese Weise hoben die vielen leeren Gefäße mit Hilfe der hohen Flut das Schiff aus dem Riff heraus[145] und brachten es glücklich hinein auf den Werft. Ich war durch einen glücklichen Zufall eben wieder gegenwärtig, als es herabgehoben und hineinbugsiert wurde. Die Wilden benahmen sich, so viel ich habe beobachten können, immer anständig; doch soll das nicht stets der Fall gewesen sein, und der Gouverneur soll sie militärisch haben einstecken lassen müssen, um ihren Natürlichkeiten in Hinsicht des Geschlechts Einhalt zu tun. Wenn sie des Rums etwas voll und lustig wurden, führten sie drollig genug sogleich am Ufer den Ball auf und tanzten nach einer Art von brummendem Gesang, wozu einige mit Kieselsteinen aus dem Stegreife den Takt schlugen. Wir kamen nicht selten auf unsern größern Streifereien in ihre Hütten an Felsen und Bächen; die meisten hatten sich tiefer zurückgezogen; ich habe aber nie gehört, daß sie einem von den Unsrigen etwas zuleide getan hätten, und dann wäre es wahrscheinlich bloß die Schuld des Europäers gewesen. Einige hielten es mit uns, einige mit den Republikanern, nachdem ihre Stimmung und Lage war; und es wäre wohl schwer zu entscheiden, ob sie hier oder dort mehr betrogen wurden. Mit dem Feuergewehr wußten sie schon seit langer Zeit sehr geschickt umzugehen und hatten gemeiniglich alte, große, lange, holländische Schießprügel, mit welchen sie mehrere hundert Schritte vortrefflich das Ziel traten und manchen Posten im Gebüsche wegschossen, ohne daß man gewahr werden konnte, woher die Kugel kam. Als die Franzosen noch Herren von Kanada waren, ließen sie sichs angelegen sein, durch ihre Missionarien die Amerikaner ins Christentum einzupferchen: daher noch mancher Alte unter ihnen, wenn er die Glocken hört, sein Kreuz schlägt und »au nom de dieu, du pére, du fils et du saint esprit« dazu sagt. Das schien indessen auch der ganze Überrest von[146] Kenntnis in Sprache und Religion zu sein. Die Engländer kümmern sich um das Bekehrungsgeschäft wenig oder gar nicht: das hätte nichts zu sagen, da man die Neubekehrten nur gar zu gern in die Verhältnisse der Letten und Esten treten läßt; wenn man die armen Urbewohner nur nicht echt europäisch-christlich von allen Seiten so zurückzwänge, daß ihnen im Kurzen nichts als der Hals von Kalifornien oder die unbekannten Eisländer übrigbleiben werden. Die ich gesehen habe, waren alle ein großer, schöner, nerviger Menschenschlag, mit länglich regelmäßigen Gesichtern, ungefähr wie die alten, echten Brandenburger. Ich erinnere mich nicht, einen unter ihnen gesehen zu haben, der über fünf Fuß neun Zoll oder unter fünf Fuß drei Zoll gewesen wäre, also sehr selten war einer so klein wie meine eigene Personalität, die doch unter uns noch nicht zwergenhaft ist. Die kupferbraune Farbe kleidete die Männer sehr anständig ernsthaft; ungefähr wie bei uns ein Grenadier, der ein halbes Dutzend Feldzüge mitgemacht hat, eine Farbe bekommt, die von seinem Feldkessel nicht sehr verschieden ist. Aber die nämlichen Züge und die nämliche Farbe sind den weiblichen Reizen nichts weniger als günstig, und ich habe keine Indianerin gesehen, die durch ihre Erscheinung den geringsten gefälligen Eindruck auf meinen europäischen Sinn gemacht hätte, ob ich gleich eine Menge junger Mädchen gesehen habe und damals selbst ein junger, rüstiger Kerl war. Die meisten sprechen jetzt etwas Englisch, da sie vom höchsten Norden bis an die spanische Grenze hinab von lauter ursprünglich englischen Kolonien umgeben sind. Kriegerische Vorfälle haben wir außer einigen Märschen nicht gehabt; ein einziges Mal schien es zu etwas Ernsthaftem kommen zu wollen, da die Franzosen den Ort anzugreifen drohten. Aber außer einigen Schüssen[147] von den äußersten Batterien fiel nichts vor; es blieb bei den Drohungen, vermutlich da sie die Engländer stärker und in besserer Bereitschaft fanden, als sie vermuteten. Mich ärgerte das; denn ich sah der Landung und dem blutigen Handel mit aller Neugier eines jungen Menschen entgegen, bei dem Kraftgefühl und Tätigkeitstrieb die natürliche Furchtsamkeit überwand. Wenn ich zuweilen von einigen Kriegsvorfällen gesprochen habe, als ob ich dort gegenwärtig dabei gewesen wäre, so ist das weniger jugendliche Eitelkeit gewesen, als vielmehr, weil mich die Leute durch ihr ungestümes Fragen hineinzwangen, und ich manchmal aus Ärger Ja sagte, weil ich beständig Nein gesagt hatte. Auch habe ich keine einzige Unwahrheit gesprochen, soviel ich mich erinnere: nur geschah nicht alles unter meinen Augen. Es tat mir nachher manchmal leid, da es doch gegen den Charakter der Wahrhaftigkeit ist, der immer mein Ziel war; aber ich wollte nicht gern zurücknehmen und habe mich seit der Zeit gehütet, eine Silbe über die strengste Wahrheit zu sagen; gegen dieselbe sprach ich nie.
So kam denn endlich die Nachricht vom Frieden uns eben nicht erwünscht, denn junge, tatendurstige Leute sehen nicht gern ihrer Bahn ein Ziel gesteckt. Man hatte mir geschmeichelt, ich könnte Offizier werden und mir eine Laufbahn eröffnen. Mit dem Frieden war alles geschlossen, denn nach unserer Ordnung konnte kein Bürgerlicher in der Regel weiter aspirieren als bis zum Feldwebel; ein Ehrenposten, dessen lebenslängliche Dauer ich eben nicht sehr beneidete. Bei uns mußte man Edelmann sein oder viel Geld haben, um im Staate ein Mann zu werden, zwei Verdienste, deren Gültigkeit jedem Vernünftigen sogleich in die Augen springt. Zuweilen tat Verbindung und Empfehlung auch etwas, und noch seltener wurde zufälligerweise[148] auch wohl wirkliches Talent bemerkt. Im Kriege, wo oft periculum in mora ist, wo man Männer für Ämter und nicht Ämter für Männlein sucht, sind die Ausnahmen häufiger, und es tritt da, dem Kastengeist zum schweren Ärger, nicht selten das alte, primitive, impertinente Menschenrecht wieder ein, daß jeder nur das gilt, was er wert ist. Doch hat es bei uns noch lange Zeit, ehe es dahin im allgemeinen kommt; der Mensch gilt durchaus nur das, wozu ihn der Staat stempelt, und es ist keine Gefahr, daß Vernunft die Stempelordnung machen und halten werde.
Ich hatte in Amerika einen Freund, von dem ich nicht weiß, wo ihn das Schicksal hingeschlagen hat, der zu den besten gehört, die ich je gehabt habe: einen gewissen Serre aus Halberstadt, von der französischen Kolonie, der einige Zeit bei seinem Anverwandten Lavater in der Schweiz gewesen war und dessen besseren, vernünftigern Enthusiasmus glühend heiß besaß. Dieser war Unteroffizier wie ich, ein junger, mutvoller, leichtsinniger Kerl. Das Leben englischer Söldlinge war uns eben nicht angenehm, und wir beide hatten uns mit dem Gedanken getröstet, wir würden uns gelegentlich den Republikanern anschließen können ein sehr natürlicher, verzeihlicher Gedanke für junge Leute, die mehr mit Plutarch als mit Hobbes lebten. Die Gelegenheit wollte nicht kommen; Serre suchte sie also herbeizuführen, und er hatte eben den Entwurf gemacht, durch die großen Waldungen über die Buchten von Halifax nach Boston zu gehen; freilich eine Unternehmung auf Tod und Leben. Er hatte sich schon über die englischen Posten unterrichtet, für Munition und notwendige Bedürfnisse gesorgt, und die Ausführung war beschlossen, als eben der Friedensbote kam. Mich hatte nichts so sehr zurückgehalten als der Gedanke, Münchhausen zu verlassen, der[149] mit so redlicher Freundschaft an mir hing; und die Sache war von der Beschaffenheit, daß sie durchaus keine Mitteilung litt. Die einzige Bedenklichkeit in unsrer Freundschaft war, daß Münchhausen ein Edelmann war, der den Kopf voll alten Ritterwesens hatte welches ich auf alle Fälle für halbe Barbarei hielt und noch halte. Freiheit und Gerechtigkeit hat bei Edelleuten einen ganz andern Sinn, als uns Philosophie und Staatswissenschaft lehrt; und das »verba valent sicut nummi« ist nirgends mehr anwendbar als in unserm sogenannten öffentlichen Rechte. Unserer Freundschaft stand also der Mangel endlicher Übereinstimmung entgegen, welches der Fall bei Serre nicht war, der übrigens weder Münchhausens moralischen Wert noch feinen Lebenstakt hatte. Der Friede zerschlug unsere Unternehmung, da wir nur nach Tätigkeit junger Leute geizten und nicht gesonnen waren, neben und unter Huronen und neuen Republikanern unser Leben fortzuvegetieren. Auf dem Schiffe wurde ich von Münchhausen getrennt; er kam auf ein anderes Fahrzeug. Der Guignon des Lebens wollte, daß ich ihn seit der Zeit nur zweimal wiedersah; einmal, als sich auf dem Meere unsere Schiffe so näherten, daß wir mit der größten Anstrengung uns einige Worte zurufen konnten; das anderemal, als ich aus Italien und Frankreich kam und ihn in Schmalkalden besuchte.
Unser Leben in Halifax bestand in einem Drittel deutscher Gewöhnlichkeit, einem Drittel huronischer Wildheit und einem Drittel englischer Verfeinerung; und nach dem verschiedenen Charakter der Individuen stach eins von diesen Dritteln hervor. Bei mir blieb wohl meistens der Deutsche sitzen, obgleich Briten und Huronen mein Studium waren und bald diese bald jene den Vorzug behielten. Ich habe schon oben[150] gesagt, daß Halifax vielleicht einer der besten Häfen des Erdbodens ist. Diese Insel und das Fort St. George am Eingange ist eben stark genug, mit gehöriger Besatzung jeder beträchtlichen Flotte die Annäherung zu verwehren. Die Stadt selbst, am Ufer hin, tief in die Bucht hinein, hat ungefähr zehntausend Einwohner. Der englische Preis aller Artikel ist immer etwas höher als in andern Ländern, und im Kriege war er es dort ungewöhnlich. Ich erinnere mich, daß ich manchmal zum Abend nach unserm Gelde fast für acht Groschen Brot, für acht Groschen Butter und für acht Groschen Kartoffeln gegessen, und einmal für ein Stückchen Kälberbraten und einen Gurkensalat eine halbe Guinee bezahlt habe. Während eines ganzen Winters bestand mein Abendbrot fast immer aus geröstetem Butterbrot mit geräuchertem Lachs, dem wohlfeilsten Artikel der Gegend. Das Pfund frisches Fleisch kostete nicht selten nach unserm Gelde einen halben Taler; frisches Gemüse war kaum zu bezahlen. Dafür konnte aber auch ein Handarbeiter am Hafen täglich drei spanische Taler verdienen. Alles kam ins Gleiche. Verschiedene sparsame Kerle haben auf diese Weise mehrere hundert spanische Taler gesammelt und, wenn sie der Zufall verschonte, sie mit in die Heimat gebracht. Ich selbst hatte von dem Ertrag der Arbeitskommandos, welche von der Krone bezahlt wurden, einige schwere Goldstücke zurückgelegt. Einige echt soldatische Kameraden, in deren Taschen sich kein blindes Kupferstück hielt, hänselten mich aber so lange und droheten mir, mir bei meinem seligen Ende mit meinem eigenen Golde tüchtig das Maul zu zerschlagen, daß ich sie sehr bald wieder in Umlauf gesetzt hatte. Wenn Münchhausen nichts Wildes lieferte und ich den schwarzstreifigen Kommißspeck und auch den Rauchlachs zum Überdruß gegessen[151] hatte, schoß uns Serre in den Außengegenden auch wohl einen fetten Hund oder einen feisten Kater, deren frisches Fleisch und Fett uns nicht selten leckere Mahlzeiten gaben.
Unsere Hinfahrt dauerte, wie ich oben sagte, zweiundzwanzig Wochen, eine ungeheure Länge; den nämlichen Weg machten wir rückwärts in dreiundzwanzig Tagen; also machte ich eine der besten und eine der schlimmsten Fahrten mit. Heimwärts segelten wir, als flögen wir davon; und es gewährte ein eigenes großes, kühnes Vergnügen, auf den ungeheuern Maschinen im Sturm dahergeschleudert zu werden. Es hatten sich eine große Menge Schiffe aller Arten und aller Nationen zuerst nach dem Frieden gesammelt, und wir liefen wohl über zweihundert zusamen in dem Kanal ein, unter denen sich auch zwei amerikanische Fregatten mit der neuen freien Staatenflagge befanden, für einen Alt-Engländer wohl das größte Herzeleid, seitdem die britischen Flotten die Meere besegelten. Die letzte Nacht gehört zu den schönsten, die ich auf dem Wasser erlebt habe. Es war ein gewaltiger Gewittersturm auf dem Kanale in der Gegend von Portsmouth. Die zusammengeengte Flotte, das Heulen des Sturms, das Schlagen des Tauwerks, das Rollen des Donners, das Leuchten der Blitze, das grelle Aufhellen der glühenden Wogen und das augenblickliche Schließen zur schwärzesten Nacht, das Rufen und Schreien der Matrosen, das Geläute der Glocken, der ferne, dumpfe Hall der Signalschüsse, das Dröhnen und Krachen der Schiffsfugen und die Angst, daß wir vielleicht über Klippen stürzten – man denke sich die Wirkung des Ganzen auf die entzündete Einbildungskraft! Und mit dem sich heiternden Morgenhimmel waren wir wirklich in der Nähe der Kreideberge, die dem Lande den Namen Albion geben. Es war still und frisch und[152] freundlich wie nach einer Gewitternacht, und die Schiffe schaukelten nur noch unwillkürlich heftig auf der empörten See. Bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten war es mein gewöhnliches Vergnügen, mich im Raum unter die Öffnung zu setzen und in die Höhe an den Horizont hinaus zu sehen; da sah ich denn die Schiffe rechts und links oben auf den Wellen tanzen. Man denke die Winkel, welche die Schiffe auf der Woge machen mußten, damit dieses möglich war. Oft war die Täuschung so groß, daß man minutenlang glaubte, ein Schiff sei von den Wellen verschlungen, das plötzlich mit Blitzesschnelle wieder auftauchte und ebenso wieder verschwand. Bei Deal lagen wir einige Zeit in den Dünen vor Anker, und da wurde uns denn wohl einzeln erlaubt, an das Land zu gehen; das ist also das Ganze meines Aufenthaltes in Alt-England und kaum der Erwähnung wert. Die Fahrt über die Nordsee war diesmal sehr stürmisch und langweilig, welches desto verdrießlicher war, da die Reise über den Ozean so schnell ging und wir das übrige nur noch für einen Katzensprung hielten. Auf einmal befanden wir uns bei Cuxhaven und Ritzebüttel, vermutlich weil wir nicht in die Weser einlaufen konnten. Ich erinnere mich hier eines Vorfalls, der die außerordentliche Gewalt der Flut beweist. Ein Mensch saß auf dem Verschlage, der als Bequemlichkeit diente. Die Flut war im Ablaufen, er mochte sichs bequem machen, und sein ganzes Gewicht ruhte auf dem Seitenstücke; das Stück brach, er fiel hinunter, und obgleich zwei der besten Schwimmer sogleich nachsprangen, so war er doch augenblicklich verschwunden und wurde nicht wieder gesehen. Mit vieler Mühe rettete das ausgesetzte Boot nur die beiden Matrosen und hatte einige Stunden zu arbeiten, ehe es wieder an das Schiff kam. Nach einigen Tagen segelten wir wieder[153] nach Bremerlee, wo wir Fahrzeuge wechselten und ebenso wieder heraufbugsiert wurden, wie wir hinunter fuhren.
Hier schreckte uns die Besorgnis, daß wir bei Minden würden an die Preußen verkauft werden. Es wurde laut gesprochen, und der bekannte gewissenlose Seelenschacher des alten Landgrafen machte die Sache nicht unwahrscheinlich. Serre also, ein gewisser Wurzner aus Gotha und meine Personalität hatten bei Elsfleth den löblichen Entschluß gefaßt, uns den Fesseln der schändlichen Dienstbarkeit zu entziehen. Einige Nächte lauerten wir ohne Erfolg auf Gelegenheit, denn die Büchsenschützen hatten ihre geladenen Läufe überall hin gerichtet. Aus Verdruß und Müdigkeit war ich auf meinem Habersack eingeschlafen, und als ich den Morgen erwachte, waren die beiden Hechte fort und hatten mich vermutlich mit Sicherheit nicht wecken können. Ich kratzte mich hinter den Ohren und sah ärgerlich nach dem Kahne, der sie in die Freiheit geführt hatte. In Bremen versuchte ichs indessen allein auf meine eigene Hand, und es gelang mir am hellen lichten Tage unter ziemlicher Gefahr. Die nächste Veranlassung war ein Gezänk mit dem Feldwebel über Brotlieferung, in welches sich der kommandierende Offizier etwas diktatorisch handgreiflich mischte. Das Gespenst der Preußen saß mir fest im Gehirn; ich hatte ganz gegen meine Gewohnheit ohne alle Absicht in einigen Gläsern Wein mich etwas warm getrunken und machte kurz und gut auf und davon, am Ufer hin, über die Brücke weg, in die Altstadt hinein. Ein guter, alter, ehrlicher Spießbürger mochte mir doch wohl einige Verwirrung ansehen; er kam freundlich zu mir und fragte: »Freund! Ihr seid wohl ein hessischer Deserteur?« »Und wenn ich denn einer wäre?« sagte ich. »Da muß ich Euch sagen, unser Magistrat hat Kartell mit dem Landgrafen.« Und nun –[154]
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