[567] Freies Feld. Edgar tritt auf.
EDGAR.
Doch besser so und sich verachtet wissen,
Als stets verachtet und geschmeichelt sein.
Ist man ganz elend,
Das niedrigste, vom Glück geschmäht'ste Wesen,
Lebt man in Hoffnung noch und nicht in Furcht.
Beweinenswerter Wechsel trifft nur Bestes,
Das Schlimmste kehrt zum Lachen. Drum willkommen,
Du wesenlose Luft, die ich umfasse! –
Der Ärmste, den du warfst ins tiefste Elend,
Fragt nichts nach deinen Stürmen. – Doch wer kommt hier?
Gloster, von einem alten Manne geführt.
Mein Vater, bettlergleich geführt? Welt, Welt, o Welt!
Lehrt' uns dein seltsam Wechseln dich nicht hassen,
Das Leben beugte nimmer sich dem Alter. –
ALTER MANN. O lieber, gnäd'ger Herr, ich war Euer Pachter und Eures Vaters Pächter an die achtzig Jahre.
GLOSTER.
Geh deines Wegs, verlaß mich, guter Alter;
Dein Beistand kann mir doch nicht nützlich sein,
Dir möcht' er schaden.
ALTER MANN.
Ach, Herr, Ihr könnt ja Euren Weg nicht sehn.
GLOSTER.
Ich habe keinen, brauch' drum keine Augen;
Ich strauchelt', als ich sah. Oft zeigt sich's, Mangel
Wird uns zum Heil, und die Entbehrung selbst
Gedeiht zur Hülfe. O mein Sohn! mein Edgar,
Den des betrognen Vaters Zorn vernichtet! –
Erlebt' ich noch, umarmend dich zu sehn,
Dann spräch' ich, wieder hab' ich Augen! –[567]
ALTER MANN.
Wer da?
EDGAR beiseit.
Gott, wer darf sagen: Schlimmer kann's nicht werden?
's ist schlimmer nun als je.
ALTER MANN.
Der tolle Thoms! –
EDGAR beiseit.
Und kann noch schlimmer gehn; 's ist nicht das Schlimmste,
Solang' man sagen kann: »Dies ist das Schlimmste.«
ALTER MANN.
Wo willst du hin, Gesell?
GLOSTER.
Ist er ein Bettler?
ALTER MANN.
Ein Toller und ein Bettler.
GLOSTER.
Er hat Vernunft noch, sonst könnt' er nicht betteln,
Im letzten Nachtsturm sah ich solchen Wicht,
Und für 'nen Wurm mußt' ich den Menschen halten;
Da kam mein Sohn mir ins Gemüt, und doch
War mein Gemüt ihm damals kaum befreundet.
Seitdem erfuhr ich mehr; was Fliegen sind
Den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern;
Sie töten uns zum Spaß.
EDGAR beiseit.
Ist mir's denn möglich?
Ein schlecht Gewerb', beim Gram den Narren spielen;
Man ärgert sich und andre.
Laut.
Grüß' Euch Gott! –
GLOSTER.
Ist das der nackte Bursch'?
ALTER MANN.
Ja, gnäd'ger Herr.
GLOSTER.
Dann geh, mein Freund! Willst du uns wieder treffen,
Ein, zwei, drei Meilen weiter auf der Straße
Nach Dover zu, so tu's aus alter Liebe,
Und bring' 'ne Hülle für die nackte Seele:
Er soll mich führen.
ALTER MANN.
Ach! er ist ja toll! –
GLOSTER.
's ist Fluch der Zeit, daß Tolle Blinde führen! –
Tu', was ich bat, oder auch, was du willst;
Vor allem geh!
ALTER MANN.
Den besten Anzug hol' ich, den ich habe,
Entstehe draus, was mag!
Er geht ab.
GLOSTER.
Hör', nackter Bursch!
EDGAR.
Der arme Thoms friert.
Beiseit.
Ich halte mich nicht länger!
GLOSTER.
Komm her, Gesell![568]
EDGAR beiseit.
Und doch, ich muß.
Laut.
Gott schütz' die lieben Augen dir, sie bluten. –
GLOSTER.
Weißt du den Weg nach Dover?
EDGAR. Steg' und Hecken, Fahrweg und Fußpfad. Der arme Thoms ist um seine gesunden Sinne gekommen. Gott schütze dich, du gutes Menschenkind, vorm bösen Feind! Fünf Teufel waren zugleich im armen Thoms: der Geist der Lust, Obidicut; Hoptanz, der Fürst der Stummheit; Mahu, des Stehlens; Modo, des Mords; und Flibbertigibbet, der Grimassenteufel, der seitdem in die Zofen und Stubenmädchen gefahren ist. Gott helfe dir, Herr! –
GLOSTER.
Hier nimm die Börse, du, den Zorn des Himmels
Zu jedem Fluch gebeugt; daß ich im Elend,
Macht dich beglückter. – So ist's recht, ihr Götter! –
Laßt stets den üpp'gen, wollusttrunknen Mann,
Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen,
Weil er nicht fühlt, schnell eure Macht empfinden:
Verteilung tilgte dann das Übermaß,
Und jeder hätte g'nug. Sag, weißt du Dover?
EDGAR.
Ja, Herr!
GLOSTER.
Dort ist ein Fels, des hohe, steile Klippe
Furchtbar hinabschaut in die jähe Tiefe:
Bring' mich nur hin an seinen letzten Rand;
Und lindern will ich deines Elends Bürde
Mit einem Kleinod – von dem Ort bedarf
Ich keines Führers mehr.
EDGAR.
Gib mir den Arm:
Thoms will dich führen.
Sie gehn ab.
Ausgewählte Ausgaben von
König Lear
|
Buchempfehlung
Den Bruderstreit der Herzöge von Gothland weiß der afrikanische Anführer der finnischen Armee intrigant auszunutzen und stürzt Gothland in ein blutrünstiges, grausam detailreich geschildertes Massaker. Grabbe besucht noch das Gymnasium als er die Arbeit an der fiktiven, historisierenden Tragödie aufnimmt. Die Uraufführung erlebt der Autor nicht, sie findet erst 65 Jahre nach seinem Tode statt.
244 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro