Neunundsechzigstes Kapitel.

[296] Die Kunde von Lygias wunderbarer Befreiung hatte sich rasch unter den zerstreut lebenden Christen verbreitet, die bisher der Verfolgung entgangen waren. Gläubige erschienen in Petronius' Hause, um die zu sehen, an der sich Christi Gnade so sichtbarlich erwiesen hatte. Zunächst kamen der junge Nazarius und Mirjam, bei denen sich der Apostel Petrus verborgen hielt; später folgten ihnen andere. Alle,[296] Vinicius, Lygia und die christlichen Sklaven des Petronius mit eingeschlossen, hörten mit Spannung zu, wenn Ursus von der Stimme erzählte, die er in seinem Innern vernommen und die ihm befohlen habe, mit dem wilden Stiere zu kämpfen, und alle gingen mit dem Trost und der Hoffnung im Herzen fort, Christus werde es nicht zulassen, daß der Rest seiner Bekenner von der Erde vertilgt werde, bevor er selbst zum schrecklichen Gericht erscheine. Und dieses Vertrauen stärkte ihre Herzen, denn die Verfolgung war noch nicht zu Ende. Jeder, den die Stimme der öffentlichen Meinung als Christen bezeichnete, wurde von der Stadtwache ergriffen und sofort ins Gefängnis abgeführt. Der Opfer wurden allerdings weniger, denn die Mehrzahl der Gläubigen war schon verhaftet und gemartert worden, und die übriggebliebenen hatten entweder Rom verlassen, um in entfernten Provinzen das Ende des Sturmes abzuwarten, oder hielten sich sorgfältig versteckt und wagten es nicht, sich anders als in den Sandgruben vor der Stadt zu gemeinsamem Gebete zu versammeln. Gleichwohl wurden sie aufgespürt, und da die Spiele beendet waren, entweder für künftige Schaustellungen aufbewahrt oder sofort hingerichtet. Obgleich das römische Volk nicht mehr glaubte, die Christen seien die Urheber des Brandes der Stadt, wurden sie doch für Feinde der Menschheit und des römischen Reiches erklärt, und das Edikt gegen sie blieb beständig in Kraft.

Der Apostel Petrus wagte es lange Zeit nicht, sich in Petronius' Hause zu zeigen, endlich kündigte jedoch Nazarius eines Abends seinen Besuch an. Lygia, die schon wieder allein gehen konnte, und Vinicius eilten zu seinem Empfange herbei und fielen ihm zu Füßen. Er begrüßte sie mit um so größerer Bewegung, als ihm nur wenige Schafe aus der Herde geblieben waren, deren Leitung Christus ihm anvertraut hatte und deren Schicksal sein großes Herz jetzt beklagte. Als ihm daher Vinicius sagte: »Herr, nur um deiner Fürsprache willen hat der Heiland sie mir wieder geschenkt,« antwortete er:[297] »Um deines Glaubens willen hat er dir sie zurückgegeben, damit nicht jeder Mund schweige, der seinen Namen bekennt.« Offenbar gedachte er dabei jener tausende seiner Kinder, die von wilden Tieren zerrissen worden, jener Kreuze, mit denen die Arenen angefüllt gewesen waren, jener Feuerpfähle in den Gärten des »Tieres,« denn er sprach jene Worte mit tiefem Schmerze. Auch bemerkten Vinicius und Lygia, daß sein Haar ganz weiß geworden, seine ganze Gestalt gebeugt war, sein Antlitz den Ausdruck einer solchen Trauer und Niedergeschlagenheit zeigte, als habe er selbst all die Qualen und Martern ausgestanden, die die Opfer von Neros Grausamkeit und Wahnwitz zu erdulden gehabt hatten. Beide verstanden aber auch, daß, weil Christus selbst Marter und Tod auf sich genommen hatte, Petrus sich dem gleichen Schicksale nicht entziehen dürfe. Doch schmerzte sie der Anblick des durch die Last der Jahre, des Kummers und der Sorge gebeugten Apostels. Vinicius, der schon nach einigen Tagen Lygia nach Neapel zu bringen beabsichtigte, wo sie Pomponia erwarten wollten, um sich von da weiter nach Sizilien zu begeben, bat ihn daher, mit ihnen zusammen Rom zu verlassen.

Der Apostel legte die Hand auf den Kopf seines jungen Freundes und antwortete: »Ich höre in meinem Innern stets die Worte des Herrn, die er mir am See Tiberias sagte: Als du jung warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wohin du wolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hand ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. Daher ist es meine Pflicht, meiner Herde zu folgen.«

Als sie schwiegen, weil sie den Sinn seiner Worte nicht verstanden, fuhr er fort: »Das Ende meiner Arbeit naht; Ruhe und Rast werde ich aber erst im Hause des Herrn finden.«

Dann wandte er sich zu ihnen und sprach: »Gedenket meiner; denn ich habe euch geliebt wie ein Vater seine Kinder;[298] alles, was ihr im Leben tut, das tut zur Ehre des Herrn.«

Bei diesen Worten legte er seine welken, zitternden Hände ihnen aufs Haupt und segnete sie, während sie sich an ihn schmiegten, da sie wohl wußten, daß dies der letzte Segen sei, den sie aus seinen Händen empfingen.

Doch war es ihnen beschieden, ihn noch einmal zu sehen. Einige Tage später brachte Petronius furchtbare Nachrichten vom Palatin mit. Man hatte dort entdeckt, daß einer von Neros Freigelassenen Christ war, und hatte bei ihm Briefe der Apostel Petrus und Paulus von Tarsos, ebenso von Jakobus, Judas und Johannes gefunden. Petrus' Aufenthalt in Rom war Tigellinus schon früher bekannt geworden, er glaubte aber, dieser sei mit den vielen tausenden der übrigen Gläubigen ums Leben gekommen. Jetzt erfuhr man, daß die beiden Verkündiger der neuen Religion noch am Leben seien und sich in der Hauptstadt befänden. Man beschloß daher, sie um jeden Preis aufzuspüren und zu verhaften, da man hoffte, mit ihrem Tode die verhaßte Sekte bis zur letzten Wurzel ausrotten zu können. Petronius hatte von Vestinus gehört, der Caesar selbst habe den Befehl gegeben, Petrus und Paulus von Tarsos müßten sich binnen drei Tagen im mamertinischen Gefängnisse befinden, und ganze Prätorianerabteilungen seien ausgesandt worden, um jedes Haus am jenseitigen Ufer des Tiber zu durchforschen.

Auf diese Nachricht hin faßte Vinicius den Entschluß, sofort zu dem Apostel zu gehen. Am Abend legten er und Ursus gallische Mäntel um, die ihr Gesicht verhüllten, und begaben sich nach Mirjams Hause, bei der Petrus wohnte; es lag an der Grenze des Stadtteils am Fuße des Janiculus. Unterwegs sahen sie, wie die Häuser von Soldaten umstellt und unbekannte Leute daraus abgeführt wurden. Das ganze Viertel war in Unruhe, und hier und da standen Scharen Neugieriger herum. Mitunter wurden die Gefangenen[299] von den Centurionen nach Simon Petrus und Paulus von Tarsos ausgefragt.

Ursus und Vinicius hatten die Soldaten überholt und kamen glücklich nach Mirjams Hause, wo sie Petrus umgeben von einem kleinen Häuflein Gläubiger antrafen. Timotheus, Paulus' Gehilfe, und Linus befanden sich ebenfalls in der Gesellschaft des Apostels.

Bei der Kunde von der drohenden Gefahr führte Nazarius alle Anwesenden auf einem versteckten Wege zur Gartenpforte und dann nach einem verödeten Steinbruch, der einige hundert Schritt vom Janiculustore entfernt lag. Ursus mußte Linus tragen, dessen Beine bei der Folter gebrochen und noch nicht wieder hergestellt waren. Einmal jedoch im Steinbruch angelangt, fühlten sie sich sicher und berieten sich leise beim Scheine einer von Nazarius angezündeten Fackel, auf welche Weise das teure Leben des Apostels zu retten sei.

»Herr,« sagte Vinicius zu ihm, »laß dich morgen in aller Frühe von Nazarius aus der Stadt nach den Albanerbergen führen. Dort werden wir dich treffen und mit nach Antium nehmen, wo das Schiff vor Anker liegt, das uns nach Neapel und Sizilien bringen soll. Gesegnet sei der Tag und die Stunde, wo du mein Haus betreten und meinen Herd segnen wirst.«

Die übrigen hörten ihm voller Freude zu, drangen in den Apostel und sagten: »Verbirg dich, du unser Hirt, denn deines Bleibens ist nicht länger in Rom. Predige die lebendige Wahrheit, damit sie nicht mit uns und dir untergeht. Höre auf uns; wir bitten dich wie einen Vater!«

»Tu es im Namen Christi!« riefen andere und drängten sich an ihn.

Er antwortete jedoch: »Meine Kinder! Wer weiß es, wann der Herr meinem Leben ein Ende setzt!«

Er erklärte aber nicht, in Rom bleiben zu wollen und, wußte selbst nicht, was er tun sollte, da schon seit längerer Zeit eine gewisse Unsicherheit, ja Furcht sich seiner Seele[300] bemächtigt hatte. Seine Herde war zerstreut, das Werk vernichtet, die Kirche, die vor dem Brande der Stadt grünte wie ein üppiger Baum, von der Macht des »Tieres« in den Staub getreten. Nichts war übriggeblieben als Tränen, nichts als die Erinnerung an Marter und Tod. Die Saat war herrlich aufgegangen, aber der Satan hatte sie in die Erde gestampft. Die Legionen der Engel waren den Sterbenden nicht zu Hilfe gekommen, und Nero, schrecklicher und mächtiger als je, regierte als Gebieter sämtlicher Meere und Länder ruhmvoll über die Welt. Mehr als einmal schon hatte der gottgesandte Fischer in seiner Vereinsamung die Hände zum Himmel emporgehoben und gefragt: »Herr, was soll ich tun? wo soll ich bleiben? wie kann ich schwacher alter Mann die Macht des Bösen bekämpfen, dem du die Herrschaft und den Sieg eingeräumt hast?«

Er hatte es aus der Tiefe seines unermeßlichen Schmerzes heraus gerufen und wiederholte nun in seinem Innern: »Jene Schafe, die du mir zu weiden befohlen hast, sind nicht mehr, deine Kirche ist nicht mehr, Öde und Trauer herrschen in deiner Stadt – was befiehlst du mir also nun zu tun? Soll ich hier bleiben oder den Rest deiner Herde hinwegführen, damit wir jenseit des Meeres deinen Namen im verborgenen preisen?«

Er schwankte. Zwar glaubte er, daß die lebendige Wahrheit nicht untergehen könne, sondern siegen müsse, aber zuweilen dachte er, er werde diese Zeit nicht mehr erleben, die erst dann kommen werde, wenn der Herr am Tage des Gerichtes auf Erden in einer Macht und Herrlichkeit erscheine, die hundertmal größer sei als die Neros.

Oft verweilte er bei dem Gedanken, daß, wenn er Rom verlasse, die Gläubigen ihm folgen würden. Er führte sie dann weit hinweg zu den schattigen Hainen Galiläas, an den stillen Spiegel des Sees von Tiberias, zu Hirten, friedfertig wie Tauben oder die Schafe, die sie inmitten von Thymian und Narde weideten. Ein immer mächtigeres Verlangen[301] nach Stille und Ruhe, eine immer stärkere Sehnsucht nach dem See und Galiläa bemächtigten sich des Herzens des alten Fischers, und immer häufiger füllten sich seine Augen mit Tränen.

Als er jedoch nach einiger Zeit die Wahl treffen sollte, befiel ihn plötzlich Angst und Unruhe. Wie konnte er diese Stadt verlassen, wo so viel Märtyrerblut zur Erde geflossen war und wo so viele Lippen noch im Sterben Zeugnis für die Wahrheit abgelegt hatten? Sollte er allein sich der Gefahr entziehen? Und was sollte er dem Herrn erwidern, wenn dieser ihn fragte: »Jene sind für ihren Glauben gestorben, und du bist geflohen.«

Tage und Nächte waren ihm in Kummer und Sorge vergangen. Andere, die man den Löwen vorgeworfen, ans Kreuz geheftet, in den Gärten des Caesars verbrannt hatte, waren nach kurzer Qual im Herrn entschlafen, während er keinen Schlummer fand und heftigere Qualen erduldete, als die Henker sie für ihre Opfer aussinnen konnten. Oft graute schon der Morgen über den Dächern der Häuser, wenn er noch aus der Tiefe seines verzweifelten Herzens heraus rief: »Herr, warum befahlst du mir, hierherzugehen und deine Stadt in der Höhle des Tieres zu errichten?«

Die vierunddreißig Jahre hindurch, die nach dem Tode seines Herrn verflossen waren, hatte er sich keine Ruhe gegönnt. Mit dem Stabe in der Hand hatte er die Welt durchzogen und die »frohe Botschaft« verkündet. Seine Kräfte waren durch die Mühseligkeiten der Wanderung erschöpft, bis er endlich, in der Hauptstadt der Welt, das Werk seines Meisters festigte, über das dann der Feueratem des Bösen hinwegbrauste, so daß er erkennen mußte, daß ein neuer Kampf bevorstehe. Und welch ein Kampf! Auf der einen Seite der Caesar, der Senat, das Volk, die Legionen, die die Welt wie ein eiserner Reif zusammenhielten, zahllose Städte und Länder, eine Macht, wie sie Menschenaugen noch nicht erblickt hatten; auf der anderen Seite er, so vom Alter und von[302] den Mühen gebeugt, daß seine zitternden Hände kaum den Wanderstab zu halten vermochten.

Zuweilen sagte er sich daher, daß es nicht seine Sache sei, sich mit dem römischen Caesar zu messen und daß dies nur Christus allein vermöge.

All diese Gedanken gingen jetzt durch sein sorgenschweres Haupt, als er die Bitten des letzten Häufleins seiner Gläubigen hörte, die sich immer dichter um ihn drängten und in flehendem Tone unablässig wiederholten: »Rette dich, Rabbi, und führe auch uns hinweg aus dem Machtbereich des Tieres.«

Endlich wandte ihm auch Linus sein gequältes Haupt zu: »Herr,« sprach er, »der Heiland hat dir aufgetragen, seine Schafe zu weiden; aber es gibt hier keine mehr, und morgen wird es mit ihnen zu Ende sein. Ziehe daher dorthin, wo du sie noch finden kannst. Noch lebt das Wort Gottes in Jerusalem, in Antiochia, in Ephesos und in anderen Städten. Was erreichst du, wenn du in Rom bleibst? Wenn du fällst, so vergrößerst du nur den Triumph des Tieres. Für Johannes hat der Herr keine Lebensgrenze bestimmt, Paulus ist ein römischer Bürger und kann ohne Richterspruch nicht verurteilt werden. Wenn aber die Macht der Hölle sich gegen dich erhebt, geliebter Lehrer, dann werden alle, die verzagten Herzens sind sprechen: Wer kann es mit Nero aufnehmen? Du bist der Fels, auf den die Kirche Gottes gebaut ist. Laß uns sterben, aber räume dem Antichrist nicht den Sieg über den Stellvertreter Gottes ein und kehre nicht hierher zurück, bis der Herr den zerschmettert hat, der unschuldiges Blut vergossen hat.«

»Sieh unsere Tränen,« wiederholten alle Anwesenden.

Tränen rannen auch über Petrus' Antlitz. Nach einiger Zeit erhob er sich, breitete seine Hände über die Knieenden aus und sagte: »Der Name des Herrn sei gepriesen, und sein Wille geschehe!«

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 296-303.
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