Zweiter Auftritt

[35] Florestan, Rocco und Leonore, die man durch die Öffnungen bei dem Schein einer Laterne die Treppe herabsteigen sah, tragen einen Krug und die Werkzeuge zum Graben. Die Hintertür öffnet sich, und das Theater erhellt sich zur Hälfte.


Nr. 12. Melodram und Duett

Melodram


LEONORE halblaut. Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe!

ROCCO. Das ist natürlich, es ist ja so tief.

LEONORE sieht unruhig nach allen Seiten umher. Ich glaubte schon, wir würden den Eingang gar nicht finden.

ROCCO sich gegen Florestans Seite wendend. Da ist er.

LEONORE mit gebrochener Stimme, indem sie den Gefangenen zu erkennen sucht. Er scheint ganz ohne Bewegung.

ROCCO. Vielleicht ist er tot.

LEONORE schaudernd. Ihr meint es?


Florestan macht eine Bewegung.


ROCCO. Nein, nein, er schläft. – – Das müssen wir benutzen und gleich ans Werk gehen; wir haben keine Zeit zu verlieren.

LEONORE beiseite. Es ist unmöglich, seine Züge zu unterscheiden. – Gott steh' mir bei, wenn er es ist!

ROCCO setzt seine Laterne auf die Trümmer. Hier, unter diesen Trümmern ist die Zisterne, von der ich dir gesagt habe. – Wir brauchen nicht viel zu graben,[35] um an die Öffnung zu kommen. Gib mir eine Haue, und du, stelle dich hierher. Er steigt bis an den Gürtel in die Höhlung hinab, stellt den Krug und legt den Schlüsselbund neben sich. Leonore steht am Rande und reicht ihm die Haue. Du zitterst, fürchtest du dich?

LEONORE mit erzwungener Festigkeit des Tones. O nein, es ist nur so kalt.

ROCCO rasch. So mache fort, im Arbeiten wird dir schon warm werden.


Rocco fängt gleich mit dem Vorspiel an zu arbeiten; währenddessen benutzt Leonore die Momente, wo sich Rocco bückt, um den Gefangenen zu betrachten. Das Duett wird durchaus halblaut gesungen.

Duett


ROCCO mit halblauter Stimme während der Arbeit.

Nur hurtig fort, nur frisch gegraben,

Es währt nicht lang, er kommt herein.

LEONORE ebenfalls arbeitend.

Ihr sollt ja nicht zu klagen haben,

Ihr sollt gewiß zufrieden sein.

ROCCO einen großen Stein hebend.

Komm, hilf doch diesen Stein mir heben –

Hab acht! Hab acht! Er hat Gewicht!

LEONORE hilft heben.

Ich helfe schon, sorgt Euch nicht;

Ich will mir alle Mühe geben.

ROCCO.

Ein wenig noch!

LEONORE.

Geduld!

ROCCO.

Er weicht.

LEONORE.

Nur etwas noch!

ROCCO.

Es ist nicht leicht!


Sie lassen den Stein über die Trümmer rollen und holen Atem.


ROCCO weiterarbeitend.

Nur hurtig fort, nur frisch gegraben,

Es währt nicht lang, er kommt herein.

LEONORE.

Laßt mich nur wieder Kräfte haben,

Wir werden bald zu Ende sein.


Sie sucht den Gefangenen zu betrachten; für sich.
[36]

Wer du auch seist, ich will dich retten,

Bei Gott, du sollst kein Opfer sein!

Gewiß, ich löse deine Ketten,

Ich will, du Armer, dich befrein.

ROCCO sich schnell aufrichtend.

Was zauderst du in deiner Pflicht?

LEONORE fängt wieder an zu arbeiten.

Mein Vater, nein, ich zaudre nicht.

ROCCO.

Nur hurtig fort, nur frisch gegraben,

Es währt nicht lang, so kommt er her.

LEONORE.

Ihr sollt ja nicht zu klagen haben,

Laßt mich nur wieder Kräfte haben,

Denn mir wird keine Arbeit schwer.


Rocco trinkt. Florestan erholt sich und hebt das Haupt in die Höhe, ohne sich nach Leonore zu wenden.


LEONORE. Er erwacht!

ROCCO plötzlich im Trinken einhaltend. Er erwacht, sagst du?

LEONORE in größter Verwirrung immer nach Florestan sehend. Ja, er hat eben den Kopf in die Höhe gehoben.

ROCCO. Ohne Zweifel wird er wieder tausend Fragen an mich stellen. Ich muß allein mit ihm reden. Nun hat er es bald überstanden. Er steigt aus der Grube. Steig du statt meiner hinab und räume noch so viel weg, daß man die Zisterne öffnen kann.

LEONORE steigt zitternd ein paar Stufen hinab. Was in mir vorgeht, ist unaussprechlich!

ROCCO nach einer kleinen Pause zu Florestan. Nun, Ihr habt wieder einige Augenblicke geruht?

FLORESTAN. Geruht? Wie fände ich Ruhe?

LEONORE für sich. Diese Stimme! – Wenn ich nur einen Augenblick sein Gesicht sehen könnte.

FLORESTAN. Werdet Ihr immer bei meinen Klagen taub sein, grausamer Mann? Mit den letzten Worten wendet er sein Gesicht gegen Leonore.

LEONORE für sich. Gott! Er ist's! Sie fällt ohne Bewußtsein an den Rand der Grube.

ROCCO. Was verlangt Ihr denn von mir? Ich vollziehe die Befehle, die man mir gibt; das ist mein Amt, meine Pflicht.[37]

FLORESTAN. Sagt mir endlich einmal, wer ist Gouverneur dieses Gefängnisses?

ROCCO beiseite. Jetzt kann ich ihm ja ohne Gefahr genugtun. Zu Florestan. Der Gouverneur dieses Gefängnisses ist Don Pizarro.

FLORESTAN. Pizarro!

LEONORE sich allmählich erholend. O Barbar! Deine Grausamkeit gibt mir meine Kräfte wieder.

FLORESTAN. O schickt so bald als möglich nach Sevilla, fragt nach Leonore Florestan –

LEONORE. Gott! Er ahnt nicht, daß sie jetzt sein Grab gräbt!

FLORESTAN. Sagt ihr, daß ich hier in Ketten liege.

ROCCO. Es ist unmöglich, sag ich Euch. Ich würde mich ins Verderben stürzen, ohne Euch genützt zu haben.

FLORESTAN. Wenn ich denn verdammt bin, hier mein Leben zu enden, o so laßt mich nicht langsam verschmachten.

LEONORE springt auf und hält sich an der Mauer fest. O Gott! Wer kann das ertragen?

FLORESTAN. Aus Barmherzigkeit, gib mir nur einen Tropfen Wasser. Das ist ja so wenig.

ROCCO beiseite. Es geht mir wider meinen Willen zu Herzen. Leonore. Er scheint sich zu erweichen.

FLORESTAN. Du gibst mir keine Antwort?

ROCCO. Ich kann Euch nicht verschaffen, was Ihr verlangt. Alles, was ich Euch anbieten kann, ist ein Restchen Wein, das ich in meinem Kruge habe. – Fidelio!

LEONORE den Krug in größter Eile bringend. Da ist er! Da ist er!

FLORESTAN Leonore betrachtend. Wer ist das?

ROCCO. Mein Schließer und in wenigen Tagen mein Eidam. Er reicht Florestan den Krug. Trinkt! Es ist freilich nur wenig Wein, aber ich gebe ihn Euch gern. Zu Leonore. Du bist ja ganz in Bewegung?

LEONORE in größter Verwirrung. Wer sollte es nicht sein? Ihr selbst, Meister Rocco –

ROCCO. Es ist wahr, der Mensch hat so eine Stimme ...

LEONORE. Jawohl, sie dringt in die Tiefe des Herzens.


[38] Nr. 13. Terzett


FLORESTAN.

Euch werde Lohn in bessern Welten,

Der Himmel hat Euch mir geschickt.

O Dank! Ihr habt mich süß erquickt;

Ich kann die Wohltat nicht vergelten.

ROCCO leise zu Leonore, die er beiseite zieht.

Ich labt' ihn gern, den armen Mann,

Es ist ja bald um ihn getan.

LEONORE für sich.

Wie heftig pochet dieses Herz,

Es wogt in Freud' und scharfem Schmerz.

FLORESTAN für sich.

Bewegt seh ich den Jüngling hier,

Und Rührung zeigt auch dieser Mann.

O Gott, du sendest Hoffnung mir,

Daß ich sie noch gewinnen kann.

LEONORE.

Die hehre, bange Stunde winkt,

Die Tod mir oder Rettung bringt.

ROCCO.

Ich tu, was meine Pflicht gebeut,

Doch haß ich alle Grausamkeit.

LEONORE leise zu Rocco, indem sie ein Stück Brot aus der Tasche zieht.

Dies Stückchen Brot – ja, seit zwei Tagen

Trag ich es immer schon bei mir.

ROCCO.

Ich möchte gern, doch sag ich dir,

Das hieße wirklich zu viel wagen.

LEONORE.

Ach!


Schmeichelnd.


Ihr labtet gern den armen Mann.

ROCCO.

Das geht nicht an, das geht nicht an.

LEONORE wie vorhin.

Es ist ja bald um ihn getan.

ROCCO.

So sei es – ja, so sei's – du kannst es wagen.

LEONORE in größter Bewegung Florestan das Brot reichend.

Da, nimm das Brot – du armer Mann!

FLORESTAN Leonores Hand ergreifend und an sich drückend.

O Dank dir, Dank! O Dank! O Dank!

Euch werde Lohn in bessern Welten,

Der Himmel hat Euch mir geschickt.

O Dank! Ihr habt mich süß erquickt,

Ich kann die Wohltat nicht vergelten.

LEONORE.

Der Himmel schicke Rettung dir,

Dann wird mir hoher Lohn gewährt.[39]

ROCCO.

Mich rührte oft dein Leiden hier,

Doch Hilfe war mir streng verwehrt.


Für sich.


Ich labt' ihn gern, den armen Mann,

Es ist ja bald um ihn getan.

LEONORE.

O mehr, als ich ertragen kann!

FLORESTAN.

O daß ich Euch nicht lohnen kann!


Er ißt das Brot.


ROCCO nach augenblicklichem Stillschweigen zu Leonore. Alles ist bereit. Ich gehe, das Signal zu geben. Er geht in den Hintergrund.

LEONORE. O Gott, gib mir Mut und Stärke!

FLORESTAN zu Leonore während Rocco die Türen zu öffnen geht. Wo geht er hin? Rocco öffnet die Türen und gibt durch einen starken Pfiff das Zeichen. Ist das der Vorbote meines Todes?

LEONORE in der heftigsten Bewegung. Nein, nein! Beruhige dich, lieber Gefangener.

FLORESTAN. O meine Leonore! So soll ich dich nie wieder sehen?

LEONORE fühlt sich zu Florestan hingerissen und sucht diesen Trieb zu überwältigen. Mein ganzes Herz reißt mich zu ihm hin! Zu Florestan. Sei ruhig, sag ich dir! Vergiß nicht, was du auch hören und sehen magst, daß überall eine Vorsehung ist. – Ja, ja, es gibt eine Vorsehung! Sie entfernt sich gegen die Zisterne.


Quelle:
Ludwig van Beethoven: Fidelio. Stuttgart 1970, S. 35-40.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fidelio
Berühmte Opernchöre: Chor der Gefangenen aus
Fidelio : an opera in two acts (1903)

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon