Vierundzwanzigstes Capitel.

[269] Vielleicht läßt sich das Ideal eines jungen Paares, möglichst einsam zu leben, wenn der Aufenthalt auf einer wüsten Insel aus irgend welchen Gründen nicht wohl ausführbar ist, nirgends besser realisiren, als in einer sehr großen, volkreichen Stadt. Es kommt nur darauf an, daß man im Besitz des Geheimnisses ist, sich auch hier ein Eiland zu schaffen, an dessen Gestade die bewegten Fluthen des gesellschaftlichen Lebens vorüberrauschen. Die Ergründung dieser Kunst wird nun allerdings für den Adepten wesentlich erleichtert, wenn die große Welt, wie es nur zu häufig der Fall ist, keinerlei Veranlassung findet, sich um ihn zu bekümmern; im entgegengesetzten, allerdings viel schwierigeren Falle besteht das Geheimniß darin, sich seinerseits nicht um die Welt zu bekümmern.

Ich hatte nach der ersten Seite hin eine ziemlich reiche Erfahrung. Die Welt hatte sich in der That verzweifelt wenig für den jungen Maschinenschlosser interessirt, als er in dem ruinenhaften Häuschen auf dem ruinenhaften Hofe seine arbeitreiche, köstliche Lehrzeit durchmachte. Er hatte ganz der Lessing'schen Windmühle geglichen, die einfach das[269] Korn mahlte, das ihr aufgeschüttet wurde, die zu Niemand kam und zu der Niemand kam. Jetzt stand die Sache freilich anders.

Jener Hof war keine Trümmerstelle mehr. Die Ruinen waren abgetragen oder zu stattlichen Gebäuden ausgebaut; die Mauer, welche den alten Hof von dem neuen getrennt hatte, war niedergerissen, und die alte Fabrik mit der neuen zu einer einzigen, großen, mächtigen Werkstatt der Betriebsamkeit und des Fleißes vereinigt. Das war eine große Veränderung die in den betreffenden Kreisen von den Einen freudig begrüßt, von den Andern hämisch bekrittelt wurde, aber doch kaum so viel von sich reden machte, als die, welche mit mir selber vorgegangen war.

Aus der unscheinbaren Chrysalide eines ganz gewöhnlichen Maschinenschlossers hatte sich der glänzende Schmetterling des gebietenden Chefs dieses großen neuen Etablissements entwickelt, und dieser glückliche Schmetterling war der Schwiegersohn eines Millionärs, der Gatte einer jungen Frau, deren pikante Schönheit, wo sie sich zeigte, den Neid der Frauen, die Bewunderung der Männer, die Aufmerksamkeit Aller erregte. Für eine so wunderbare Metamorphose hat selbst das blasirte Publikum einer Weltstadt noch einige Empfindung; und wenn sich ein so merkwürdiger Mensch, über dessen Vergangenheit noch dazu die verschiedensten, kaum glaubhaften Geschichten circulirten, dennoch der von allen Seiten auf ihn gespannten Neugier entziehen will, muß er eben alle die Künste verstehen und ausüben, deren er sich in seinem früheren dunklen Puppenstadium allerdings entrathen mochte.

Ich kann nicht sagen, daß ich in der Ausübung dieser mir so neuen Künste immer das Rechte traf, oder immer vom Glück begünstigt wurde.

Wir hatten, als wir nach einem vierzehntägigen Aufenthalt in Zehrendorf nach der Stadt zurückkehrten, eine keineswegs kostbare, aber schöne und geräumige Miethswohnung bezogen, an welcher ich für meinen Theil nichts auszusetzen wußte, als daß sie allzuweit von der Fabrik entfernt lag, die aber Herminen, gewohnt wie sie von Jugend auf es war, ein Haus allein inne zu haben, gründlich mißfiel. Nun glaubte ich, da ich Herminens Wünsche kannte und theilte, es recht gut zu machen, und hoffte nebenbei einen Lieblingstraum zu realisiren, wenn ich in aller Stille, aber mit um so größerem[270] Eifer, unter der Beihülfe meines treuen Architekten, das Häuschen auf dem Fabrikhofe, das ich so lange bewohnt, seiner eigentlichen Bestimmung wiedergab und es mit Benutzung des alten Planes zu der reizendsten kleinen Villa ausbaute. Ich hatte unendliche Künste anwenden müssen, um mehrere Monate hindurch das Geheimniß zu bewahren, und eine ganz kindische Freude empfunden, als ich von einer Winterreise nach Zehrendorf, auf welcher mich Hermine begleitete, vorläufig allein zurückkehrend, Alles und Jedes nach Wunsch ausgeführt fand. Ich hatte in der Freude meines Herzens den guten Architekten, der sich als ein ebenso geschmackvoller Decorateur erwiesen, umarmt und den Tag zum Voraus gesegnet, an welchem ich Herminen aus der ihr so verhaßten Stadtwohnung in dieses kleine Paradies führen könnte.

Ich sollte nur zu bald erfahren, daß Niemand, aber am allerwenigsten ein junger Ehemann, die Rechnung ohne den Wirth, oder vielmehr ohne die liebenswürdige Wirthin, seine Frau, machen darf.

»Du lieber Junge!« sagte Hermine, als ich ihr am Tage nach ihrer Rückkehr im Triumph meine neue Schöpfung zeigte: »Du lieber Junge, das ist ja Alles recht schön und gut; und später im Sommer, auf ein paar Wochen oder Monate, die wir nicht in Zehrendorf, sondern hier in der leidigen Stadt zubringen müssen, ist es gewiß ein ganz passender Aufenthalt, aber jetzt, mitten im Winter – nein, Georg, das geht wahrlich nicht! Mich friert, wenn ich nur daran denke. Und dann die großen kahlen Gebäude rings umher! und die hohen Schornsteine, die aussehen, als wenn sie uns jeden Augenblick über dem Kopf zusammenfallen wollten – der eine wackelt wirklich; sieh doch nur einmal genau hin! – ich könnte keine Nacht hier ruhig schlafen. Und Du bist so schon in den greulichen Wirrwarr und den abscheulichen Lärm, der uns hier umgiebt, mehr als billig, verliebt, so daß ich mich immer mit dem schrecklichen Gedanken trage, Du könntest Dich eines Tages in so eine entsetzliche Riesenmaschine verwandeln, Du Ungeheuer! Nein, Du mußt mehr unter Menschen, in Gesellschaft; mußt auch endlich einmal anfangen, das Leben zu genießen, Du armer, arbeitgeplagter Mensch! Das ist denn doch eher möglich in unserer alten Wohnung, und in der, denke ich, wollen wir den Winter über wenigstens bleiben. Die Miethe ist ja ohnedies bezahlt und wir müssen sparsam sein, wie es[271] sich für solche Anfänger schickt. Habe ich das nicht aus Ihrem eigenen allerhöchsten Munde, mein Herr? und nun neigen Sie Ihren allerhöchsten Mund und geben Sie mir einen Kuß und die Sache ist abgemacht.«

Natürlich war die Sache abgemacht; hatte ich doch dabei wahrlich mehr an Hermine, als an mich gedacht! Und wenn sie wirklich den Wunsch hatte, von unserer einsamen Insel aus ein oder die andere Vergnügungsfahrt auf das Meer des großstädtischen Lebens zu machen, so war ich gewiß nicht der Mann, nein zu sagen. Sah ich doch nur zu wohl, daß ich in meiner jetzigen Stellung gewisse gesellschaftliche Pflichten durchaus erfüllen mußte, wenn nicht zu meinem Vergnügen, so doch im Interesse meines Geschäfts, und daß ich nach dieser Seite hin bereits nur zu viel nachzuholen hatte!

So kehrte ich denn ohne Seufzen in unsere Stadtwohnung zurück und noch über Tisch wurde unter mancherlei Scherzen die Liste der einflußreichen Personen entworfen, mit welchen wir, wie Hermine sagte, vorläufig einmal ein gesellschaftliches Experiment machen wollten.

Ich wüßte nicht, daß dies Experiment von besonderem Erfolg gekrönt gewesen wäre. Allerdings kam man uns auf das Freundlichste entgegen; ich meinerseits gab mir die mögliche, und, wie ich mir schmeichelte, nicht ganz vergebliche Mühe, einen guten Gesellschafter und angenehmen Wirth zu machen, und Hermine brauchte sich wahrlich keine Mühe zu geben, um in der Gesellschaft die liebenswürdigste der Liebenswürdigen zu sein. Ueber diesen letzteren Punkt schien auch soweit ein junger Ehemann in einem solchen Falle sich ein unbefangenes Urtheil zutrauen darf, in der Gesellschaft nur eine Stimme. Die Herren waren voll aufrichtiger Bewunderung ihrer Erscheinung, ihres Benehmens und was sich denn sonst noch an einer reifenden jungen Frau bewundern läßt; und wenn die Bewunderung der Damen vielleicht nicht eben so aufrichtig war, so wußten sie derselben einen um so enthusiastischeren Ausdruck zu geben, daß es eines viel feineren Kopfes, als dessen ich mich rühmen konnte, bedurft hätte, um für all die schönen Dinge, die mir über meine Frau laut in die Ohren geflüstert wurden, immer eine passende Antwort zu finden.

»Warum bist Du nur so unmenschlich liebenswürdig!« sagte ich dann wohl, wenn wir aus einer solchen Feuertaufe[272] nach Hause kamen und Hermine noch in ihrer Gesellschaftsrobe, wie es ihre Gewohnheit, in unserem Wohnzimmer auf- und abging, oder, sich an den Flügel setzend, ein paar Accorde griff, während ich im Schaukelstuhl meine geliebte Cigarre rauchte. Dann konnte sie plötzlich stehen bleiben, oder vom Stuhle aufspringen – je nachdem – und mir die Gesellschaft, die wir eben verlassen hatten, in den ergötzlichsten, drolligsten Carricaturen noch einmal vorführen. Da war der geheime Commerzienrath Zieler, unser Banquier, der fortwährend auf die drei Hausorden in seinem Knopfloche schielte, mit welchen ihn drei verwandte kleine Fürstenhäuser für eine Anleihe, die er ihnen vermittelte, begnadigt hatten; da rauschte die geheime Frau Commerzienräthin herein in der schwersten Atlasrobe, die stumpfe Nase nach den Kronleuchtern, deren Licht so herrlich auf dem Brillantschmuck spielte, welcher ihren stattlichen Busen schmückte; hinter der corpulenten Mama schwebte die ätherische Tochter, ganz Gaze und Eßbouquet und selige Erinnerung der drei Hofbälle an den drei verwandten Fürstenhöfen. – Da war der Eisenbahndirector Schwelle, der vor dem Souper nicht sprechen mochte, um sich nicht aufzuregen, während des Soupers keine Zeit zum Sprechen hatte und nach dem Souper meistens nicht mehr sprechen konnte. – Da waren die beiden Fräulein Bostelmann, die geistreichen Töchter des Gastgebers – eines steinreichen Steinlieferanten – zwischen denen Hermine heute eine Zeit lang gesessen und von denen die eine sie fortwährend von Heine unterhalten, während die andere ihr gleichzeitig mit derselben Ausdauer und demselben Enthusiasmus von Lenau vorgeschwärmt hatte. »Heine – Lenau; Lenau – Heine! Es war zum Tollwerden!« rief Hermine, »und das soll nun ein Vergnügen sein. Wagen Sie das wirklich zu behaupten, mein Herr?«

»Ich hatte nichts dergleichen behauptet, Madame!«

»In der That! und warum schleppen Sie Ihre arme kleine Frau unter diese entsetzlichen Menschen und rauben ihr die schönen Stunden, die sie im reizendsten tête-à-tête mit ihrem Ungeheuer von Mann hätte zubringen können? Ist das recht? Ist das die Liebe, die Sie mir geschworen haben in der Nicolai-Kirche von Uselin, in Gegenwart sämmtlicher Useliner und Uselinerinnen? Heine, Lenau! Lenau, Heine! oh!«

Ich lachte und wurde dann plötzlich sehr ernsthaft, denn[273] es schwebte mir die Bemerkung auf den Lippen, daß es vielleicht nicht schwer halte, zu beweisen, man könne keine lieben Menschen finden, mit denen es sich leben lasse, wenn man mit den Menschen nicht leben mag, die man lieb hat.

Wo waren die lieben Menschen, an die ich in diesem Augenblick dachte?

Das gute Fräulein Duff, Herminens treueste Freundin, bei ihren Verwandten in Sachsen. Es hatte nur ein kurzer Besuch sein sollen, – auf acht Wochen höchstens! Aus den acht Wochen waren jetzt beinahe eben so viele Monate geworden. Wo war Paula? Ein paar hundert Meilen entfernt, unter einem anderen Himmel, der hoffentlich so hold auf sie herabsah, wie sie es verdiente. Ach, wie lange war es nun schon, daß Paula mit ihrer Mutter, mit ihrem jüngsten Bruder Oskar, in Begleitung selbstverständlich des alten Süßmilch, nach Italien gereist war, »hatte reisen müssen,« sagte Doctor Snellius. »Was wollen Sie, Herr? Es war unumgänglich nothwendig. Eine Künstlerin wie Paula kann unmöglich hier werden, was sie zu werden bestimmt ist: in dieser kleinen, kleinlichen, engen, düsteren Nebelwelt. Sonne, Licht, Luft; das ist es, was ihr fehlte; Venedig, Rom, Neapel, Capri – was weiß ich! ich bin niemals dagewesen, werde auch wohl nie hinkommen, wüßte auch nicht, was ich da sollte; aber sie, sie wird es jetzt schon wissen und wir werden es wissen, wir werden es sehen, mit Händen greifen, auf der nächsten Kunstausstellung, wenn die Menge zu ihren Bildern wallfahren wird, wie zu Mirakeln. Auch ihrer Mutter, diesem Engel von einer Frau, wird der Aufenthalt in dem milden Klima vortrefflich bekommen; und nun gar dem Burschen, dem Oskar! So ein junges Krokodil kann nicht früh genug in's Wasser gebracht werden. Nur im Wasser lernt man schwimmen, Herr, nur im Wasser! selbst wenn man ein Krokodil von Geburt ist, das heißt: ein so fabelhaftes Talent hat, wie der Junge. Ein Heidengeld wird es kosten, freilich, aber sie kann es jetzt, Gott sei Dank, und es ist ja auch schließlich nur eine goldene Saat, die ihr hundert- und tausendfältige Frucht bringen wird. Sie hatte allerdings im Anfang nach dieser Seite hin Bedenken, aber ich habe es ihr ausgeredet; und sie schreibt mir in ihrem letzten Brief – wo habe ich nur gleich den Brief? ich wollte Ihnen die Stelle noch vorlesen – nun, es thut nichts, das nächste Mal erinnern Sie[274] mich – kurz, sie schreibt mir ganz glücklich, ganz glücklich, so glücklich, daß es auch mich ganz glücklich gemacht hat. Gott segne sie.«

So hatte der gute Doctor zu mir gesprochen, als Paula Anfang October, drei Monate nach meiner Hochzeit, abgereist war, während einer Geschäftsreise, die ich nach St. in Angelegenheiten der Fabrik zu machen und auf welcher mich ebenfalls Hermine begleitet hatte. »Denn, wissen Sie,« sagte der Doctor, »man muß in dergleichen Fällen die Gelegenheit benutzen, wie es die Natur thut, wenn sie zum Beispiel den Leib von der Seele durch einen Gehirn- oder Herzschlag trennt, während der Betreffende schläft, oder das Band zwischen beiden durch eine längere Krankheit bereits hinreichend gelockert ist, so daß die Trennung kaum noch etwas Schmerzliches hat, vielleicht sogar herbeigesehnt wird. Es wäre der armen Paula vielleicht doch schwer geworden, sich von Euch zu trennen, hätte sie von Euch direct in den Eisenbahnwagen gemußt; so waret Ihr einmal nicht da, und ob nun zwanzig Meilen oder zweihundert dazwischen liegen, das kommt schließlich auf eins heraus.«

Wenn sie den Leib von der Seele trennt! Es war eines der physiologischen Exempel, mit welchen der Doctor seine Reden zu illustriren liebte; aber es traf mich seltsam. Den Leib von der Seele! Und ich blickte dem Doctor starr in die Augen, der sich mit einem energischen Ansatz schnell zwei Octaven tiefer stimmte, um im gleichgültigeren Tone fortzufahren. »Und dann wird nicht blos unseren lieben Reisenden, sondern auch den Jungen, die zurückbleiben, eine zeitweilige Trennung gut thun. Benno und Kurt mußten endlich einmal von den Bändern der schwesterlichen Schürze losgelöst werden. Junge Leute müssen lernen, für sich selbst zu denken und zu sorgen und auf ihren Füßen zu stehen. Ich habe es an mir erfahren. Hätte mich mein Vater nach Heidelberg oder Bonn geschickt, anstatt mich hier in dem Schatten seiner Kirche, in dem alten, wurmstichigen Superintendentenhause vier Jahre zu claustiren, ich hätte meine Flügel besser gelüftet und wäre nicht der schnurrige Kauz geworden, der ich jetzt bin, notabene, wenn ein Mann, der einem seit zweihundert Jahren schlafen gegangenen Vorfahren zu Liebe mit dem hübschen Vornamen Willibrod – Willebrord, wie es eigentlich heißen sollte – getauft wird, überhaupt eine Chance hat, etwas anderes zu werden als ein schnurriger Kauz.«[275]

Ich hatte den Brief, in welchem Paula dem Doctor geschrieben, wie glücklich sie sich in dem fernen Lande fühle, nie zu sehen bekommen. Er hatte ihn das nächste Mal vergessen, und mittlerweile war ich es gewohnt geworden, daß der Doctor die Briefe, die Paula aus Venedig, aus Rom, aus Neapel an ihn schrieb, mir regelmäßig zeigen wollte und ebenso regelmäßig zu Hause liegen ließ.

Ich weiß nicht, welche sonderbare Verlegenheit mich jedesmal befiel, so oft der Doctor jenes resultatlose Suchen nach Paula's Briefen begann und warum ich ihn dann jedesmal so schnell als möglich auf ein anderes Thema zu bringen suchte. Nicht, als ob ich an dem Glück, das Paula empfinden sollte, gezweifelt hätte! lauteten doch die kurzen, seltenen Briefe, die ich selbst oder Hermine von ihr empfing, nicht anders; aber über die Quelle, aus welcher jenes Glück floß, war ich nicht eben so sicher, und die Briefe, mochten sie nun an mich oder Hermine gerichtet sein, hatten immer dieselbe Physiognomie, in der ich nur hin und wieder eine Spur von Paula's theuren Zügen erkannte, und sie wurden, je länger die Trennung dauerte, immer kürzer und seltener, fast so kurz und selten, wie die Besuche des Doctors.

»Das ist nun nicht anders,« sagte der Doctor, als ich ihm einmal über den letzten Punkt freundschaftliche Vorwürfe machte; »so ein junges Paar ist wie eine junge Pflanze, die am besten gedeiht, wenn man sie unter eine Glasglocke setzt und so wenig wie möglich daran rührt. Die Menschen nennen die Liebe eine Göttin; ich für mein Theil sehe in ihr einen Gott, den strengen, unnahbaren Gott der alten Juden, der keine anderen Götter haben will neben sich, und der die Collegen, die er in seinem gelobten Lande vorfindet, mitleidslos über die Klinge springen läßt, mögen sie nun liebenswürdige Astarten sein oder häßliche Fitzliputzli. Und er thut vermuthlich ganz recht daran. Das menschliche Herz ist ein trotzig-verzagtes Ding und braucht verzweifelt lange Zeit, bis es die zehn Gebote auch nur buchstabiren lernt.«

Der Doctor sagte das und Aehnliches derart immer in einem freundlichen Ton, in demselben Ton, in welchem ich ihn noch stets mit seinen Kranken hatte sprechen hören, und war überhaupt voller Güte und Aufmerksamkeit, und das noch mehr gegen Hermine, als gegen mich. Zwischen Hermine und ihm bestand ein eigenthümliches Verhältniß. Hermine hatte in[276] ihrer lebhaften Art Anfangs aus der Abneigung, mit der sie meinen alten Freund betrachtete, kein Hehl gemacht und oft genug seine wunderlichen Manieren verspottet, sogar in seiner Gegenwart. Aber der Mann, der sonst gegen einen Angreifer, er mochte kommen, von woher er wollte, und sein, wer er wollte, stets die schärfsten Pfeile in seinem Köcher trug, und der nicht leicht einem Gegner Pardon gab, – er hatte gegen sie auch bei keiner Gelegenheit von seinen gefährlichen Waffen Gebrauch gemacht; und diese sich stets gleichbleibende Milde, die dem schneidigen Sonderling gewiß nicht immer leicht wurde, hatte zuletzt Herminen, wie sehr sie sich auch innerlich dagegen sträubte, gerührt und gefangen genommen. Vielleicht, daß zu dieser glücklichen Wendung der Umstand beitrug, daß sie den Doctor in der letzten Zeit nicht blos als meinen Freund, sondern auch als ihren Arzt zu empfangen hatte.

»Er ist doch gar gut,« sagte sie ein oder das andere Mal, mit nachdenklicher Miene auf die Thür schauend, durch welche die wunderliche Gestalt meines Freundes eben verschwunden war.

»Ihrer Frau geht es nicht schlechter, als es andern jungen Frauen unter diesen Umständen zu gehen pflegt!« sagte der Doctor zu mir, wenn er mich wegen ihres veränderten Aussehens besorgt fand: »nur daß sie von Jugend auf an freiere Bewegung und frischere Luft gewöhnt ist, als man ihr hier in dem steinernen Babel verschaffen kann.«

»Ich ginge gerne mit ihr nach Zehrendorf,« sagte ich; »aber jetzt im Winter, und wie kann ich von hier fort?«

»Und weil Sie es nicht können, wollen wir uns auch nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen;« erwiederte der Doctor. »Wir müssen eben sehen, wie wir uns helfen. Etwas mehr geistige Motion ersetzt manchmal bis zu einem gewissen Grad den Mangel der körperlichen. Es ist schade, daß Ihre Frau das gesellschaftliche Treiben so schnell satt bekommen hat. Gehen Sie doch einmal in die Oper. Ihre Frau ist ja eine so große Musikfreundin.«

»Ich mag nicht mehr in die Oper gehen,« sagte Hermine, nachdem wir einige Male dort gewesen waren: »die Leute singen schlecht und spielen noch schlechter. War das heute eine Zerline! Und dieser Don Juan! Lieber Himmel, Du hättest lange auf mich warten können, wärest Du ein so hölzerner Liebhaber[277] gewesen! Und dabei diese Selbstgefälligkeit! der Masetto war wahrhaftig der bessere Mann!«

»Versuchen Sie es einmal mit dem Schauspiel,« sagte der Doctor.

Ich blickte ihm starr in die Augen.

»Die Bellini ist seit acht Tagen zurück,« sagte der Doctor und richtete seine runden Brillengläser auf mich.

Meine Augen und die Brillengläser sahen sich eine Zeit lang an.

»Ihre Frau weiß nicht, daß Fräulein Bellini und eine gewisse andere Dame identisch sind?« fing der Doctor wieder an.

»Nein,« sagte ich.

»Und Sie wollen es ihr auch nicht mittheilen? nicht mittheilen, was ich weiß, der ich Ihr Freund bin, und sehr wahrscheinlich auch noch andere Leute wissen, die nicht Ihre Freunde sind?«

»Es ist das ein eigen Ding, Doctor!«

»Es giebt viel eigene Dinge, besonders in einer jungen Ehe.«

»Die man aber vielleicht besser für sich behält.«

»Oder auch nicht. Was man mittheilen kann, sollte man immer sagen, und es giebt Weniges, beinahe Nichts, das ein junger Ehemann seiner Frau nicht sagen könnte. In einem Fluß, der zwischen sandigen Ufern seinem Ende entgegenschleicht, bleibt jeder Stein liegen; in einen jungen Strom, der freudig von den Bergen stürzt, kannst Du die größten Felsblöcke wälzen – er schleudert und reißt in seiner frischen Kraft Alles mit sich fort. Denken Sie darüber nach, lieber Freund!«

Ich hatte darüber nachgedacht; aber ich konnte mich nicht entschließen, dem Rathe des Doctors zu folgen. Es war nicht Feigheit, was mich schweigen hieß, vielmehr ein Gefühl der Scham, das ich nicht überwinden konnte, und eine Scheu, die Herminens eigen geartetes Wesen und der leidende Zustand, in welchem sie sich befand, erklärlich machten. Dennoch schwebte mir ein paar Mal das Wort auf den Lippen, aber es kroch immer scheu zum Herzen zurück, das unruhig schlug, wenn ich fast in jeder Nummer der Zeitungen dem ominösen Namen begegnete, und Hermine ein oder das andere Mal sagte: »Wir sollten uns doch auch einmal diese Bellini ansehen, von der jetzt so viel die Rede ist.«[278]

Ja, man machte viel Redens von Fräulein Bellini! »Sind Sie ein Bellinist oder ein Antibellinist?« fragte man in den Salons: »die Bellini ist ein Wunder;« »die Bellini ist gar nichts!« sagten die Zeitungen. Ich wußte nicht, ob diese oder jene Recht hatten, und wollte es nicht wissen und war sehr froh, daß Hermine nicht neugieriger zu sein schien, bis sie eines Tages, als ich ihre Frage, ob ich für den Abend frei wäre, bejaht hatte, mich mit den Worten überrraschte: »Dann wollen wir endlich einmal die Bellini sehen.«

»Wie Du willst,« sagte ich, mit der Entschlossenheit eines Menschen, der vor einer Fatalität steht, von der er weiß, daß sie stärker ist, als er.

Und wir gingen in das Theater und sahen Fräulein Ada Bellini als Julia in Shakesspeare's Tragödie. Ich kann nicht behaupten, daß ich Neigung verspürt hätte, weder in den donnernden Beifall einzustimmen, welcher der Künstlerin von dem übervollen Hause reichlich gespendet wurde, noch in das Zischen, das sich hier und da vernehmen ließ, um regelmäßig von dem Applaus übertönt zu werden. Ich kann aber auch nicht sagen, daß ich im Verlaufe des Abends so weit gekommen wäre, mir über die Künstlerin irgend ein Urtheil zu bilden. Ich sah eben, wenn ich auch noch so eifrig nach der Bühne blickte, nicht viel mehr, als wenn ich in das Leere gestarrt hätte, träumend von Zeiten, die vergangen, und höchstens zwischendurch wünschend, daß dieser Abend auch bereits zu den vergangenen Zeiten gehöre. Ich erinnere mich, daß, als ich einmal aus diesen unerquicklichen Träumereien erwachte und Hermine anblickte, ich ihr Auge mit einem sonderbaren Ausdrucke auf mich gerichtet fand; aber sie scherzte nur über meine Gleichgültigkeit, als wir nach Hause fuhren, und erklärte, daß es für sie keine Frage mehr sei, ob man Bellinistin oder Antibellinistin zu sein habe.

»Nun?« fragte ich, indem ich mir an dem Licht eine Cigarre anzündete.

»Und Du willst noch rauchen, Du schlechter Mensch? Glaubst Du, daß Romeo sich vergiftet haben würde, wenn er neben seiner Phiole noch eine Cigarre in der Tasche gehabt hätte? Möge Ihnen die Cigarre wohl bekommen, lieber Romeo; Julie wird zu Bette gehen.«

Ich mußte heute meine Abendcigarre zum ersten Male allein rauchen und ich hatte nie vorher eine nachdenklichere[279] Cigarre geraucht. Der Doctor hat Recht, sagte ich bei mir selbst, indem ich den Stumpf auf die verglimmenden Kohlen des Kamins schleuderte und mich seufzend aus dem Lehnsessel aufrichtete; er hat vollkommen Recht; man muß einen gelegenen Augenblick abwarten.

Aber wie denn das so zu sein pflegt, es vergingen acht, es ergingen vierzehn Tage und der Augenblick kam nicht. Auch schien mich nichts zu drängen, denn Hermine hatte nicht wieder nach dem Theater verlangt. Sie befand sich nicht besonders und der Doctor kam häufiger als sonst.

»Haben Sie Ihrer Frau gesagt, wer die Bellini ist?« fragte er mich eines Tages.

»Nein.«

»Aber sie weiß es!«

»Unmöglich.«

»Sie weiß es; ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Hat sie es Ihnen gesagt?«

»Nein.«

»Und dennoch?«

»Dennoch! Ein Arzt, lieber Georg, hat scharfe Ohren, und ein Arzt, der ein Freund des Hauses ist, wie er es immer sein sollte, doppelt scharfe. Er hört zwischen den Worten, und ich kann Ihnen nur wiederholen: ich habe zwischen den Worten Ihrer Frau herausgehört, daß sie weiß: die Bellini ist Konstanze von Zehren, und daß sie noch mehr weiß. Ob Alles, ob auch nur das Richtige, das weiß jedenfalls nur der, der es ihr gesagt hat.«

»Und der wäre?«

»Unser gemeinschaftlicher Freund Arthur.«

»Athur ist seit acht Wochen nicht in der Stadt gewesen.«

»Unsere Post befördert mit bewunderungswürdiger Genauigkeit alle Briefe, die man ihr anvertraut, selbst anonyme.«

»Aber, um Gotteswillen, Doctor, welches Interesse könnte Arthur daran haben?«

»Die Rache ist süß,« sagte der Doctor.

»In diesem Falle wäre sie auch dumm, denn –«

»Sie ist auch manchmal dumm.«

»Denn der Steuerrath lebt jetzt fast ausschließlich aus der Tasche meines Schwiegervaters, und ich habe für Arthur erst noch, als er zuletzt hier war, einen bedeutenden Posten[280] bezahlt, und auf dem Tisch dort liegt ein Brief, in welchem er mich abermals um ein größeres Darlehn bittet.«

»Thut Alles nichts. Der Jude wird verbrannt. Nun, lieber Georg, lassen Sie den Kopf nicht hangen! Sie sind doch sonst ein Mann, und das ist wahrlich keine Veranlassung, um zu verzweifeln. Man muß die Dinge nur nicht schwerer nehmen, als sie sind; die wirklich schweren lassen sich doch nichts abhandeln, und ich dächte, Sie wären mit diesem Artikel hinreichend assortirt.«

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 269-281.
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