|
[18] Die schönen Räume der Wohnung des Ministerialdirektors Sudenburg hatten seit einer halben Stunde angefangen, sich mit den eingeladenen Gästen zu füllen. Die ersten waren, wie stets, die jungen, unverheirateten Offiziere gewesen, die mit dem Glockenschlage acht sich einfanden – Kameraden, zumeist der beiden älteren Söhne des Hauses, Fritz und Franz, Sekondelieutenants: Fritz in der Artillerie, Franz in der Infanterie. Zum Glück für Stephanie, die kaum noch wußte, was sie mit dem uniformierten, wenig ausgiebigen Schwarm beginnen sollte, waren dann auch bald, beinahe gleichzeitig, ihre liebste Freundin Klotilde mit Viktor, und Adele mit ihrem Gatten gekommen, und sie mußte vorerst einmal Adele, welche ganz neu in diesen Kreis trat, »ein wenig lancieren«. Adele hatte es ihr nicht schwer gemacht. Von der Furcht, die sie heute vormittag angesichts ihres Debüts in der Berliner Gesellschaft gehabt haben wollte, war schlechterdings nichts zu bemerken. Jeder der ihr Vorgestellten, gleichviel, ob Herr oder Dame, schien für sie eine intime Bekanntschaft zu sein, deren Anfang bis in ihre Kinderjahre zurück datierte. Eine entzückende kleine Person, sagte Hauptmann von Luckow[18] zu ein paar jüngeren Kameraden. Diese lachen den, blauen Augen, diese lustig blitzenden, weißen Zähne, dies fröhliche Geplauder – wahrhaftig, das wirkt wie eine Oase auf den verschmachtenden Wanderer in der Wüste.
Das Wort machte die Runde. Es dauerte nicht lange, bis – mindestens unter den jüngeren Herren – keiner von Adele anders, als von der »Oase« sprach.
Inzwischen hatte sich Elimar ebenfalls sein Terrain erobert, ohne daß man von ihm, so wenig wie von Adele, sagen konnte, er habe es darauf abgesehen gehabt. Aber seine gehaltene, gegen Höher- und Niedrigerstehende gleich liebenswürdige Freundlichkeit; seine große Unterhaltungsgabe, der jedes Thema genehm, und die doch niemals nach Beifall und Bewunderung zu haschen schien; die Melodie selbst seiner immer nur halblauten und immer gleich verständlichen Stimme – es wäre nicht erst nötig gewesen, daß der Kriegsminister, der eben erschienen war, ihn, sobald er nur erst die Wirte begrüßt, sofort durch ein längeres, augenscheinlich sehr intimes Gespräch auszeichnete, um die Gesellschaft von der Bedeutenheit des Mannes zu überzeugen.
Die Gesellschaft war jetzt beinahe vollzählig; es schien sogar ein wenig an Raum zu fehlen, aber nur, weil in der langen Flucht der Zimmer einige so gut wie leer blieben, während die Herrschaften sich in einigen wenigen zusammendrängten.
Mama hat gut reden, sagte Fritz zu Franz, sich heimlich den Schweiß von der Stirn wischend; ich kann sie nicht auseinander bringen; sie stehen wie die Mauern.
Wenn man die kleine Meerheim da loseisen könnte! Es laufen dann gleich ein Dutzend nach.[19]
Wird sich kaum noch der Mühe verlohnen. Endlich müssen wir doch einmal zum Souper kommen. Bist Du mit der Tischordnung fertig?
Hat sich was mit Tischordnung, wenn Stephanie mir die ganze Geschichte wieder umkrempelt. Sagt, ich hätte lauter dummes Zeug gemacht!
Wirst Du auch, alter Sohn!
Meinetwegen. Ich bekümmere mich nicht mehr darum. –
An einen Schwarm von Herren, der Klotilde umringte, trat Viktor eilfertig heran.
Verzeihung, Ihr Herren! Ich möchte meiner Frau –
Bitte! bitte!
Was giebt's? fragte Klotilde.
Hast Du mit Excellenz schon gesprochen?
Welcher? Es sind ein halbes Dutzend hier.
Mein Gott, mit unsrer natürlich.
Ich weiß noch gar nicht, daß sie hier sind.
Schon seit einer Viertelstunde. Er ist allein da und hat mich schon nach Dir gefragt. Bitte, komm' gleich mit!
Er hatte ihr den Arm geboten, den sie ihm willig reichte. Excellenz war einer ihrer wärmsten Verehrer, und von Excellenz allein hing es ab, ob Viktors Ernennung zum Regierungsrat bereits zu Neujahr, oder erst zu Ostern erfolgte.
Du kannst ihm auch sagen, flüsterte Viktor, während sie sich durch die Menge drängten, daß ich die halben Nächte über den Akten sitze.
Laß mich nur machen, flüsterte Klotilde zurück, und bei sich sagte sie: meinetwegen die ganzen.[20]
Es mußte für diesmal bei ihrem guten Willen bleiben. Als sie endlich bis in die Nähe des allmächtigen Mannes gelangten, fanden sie ihn in einer, wie es schien, sehr eifrigen Unterhaltung mit dem Kollegen vom Kriegsministerium, einem andern hohen Offizier und dem Wirt des Hauses. Für den Augenblick war an eine Annäherung nicht zu denken.
Dann aber unter allen Umständen nach Tisch, sagte Viktor ärgerlich. Wirst Du tanzen?
Sonderbare Frage!
Ich wollte nur sagen: richte es so ein, daß Du für einen, oder ein paar Tänze frei bleibst. Nach Tisch ist er immer am zugänglichsten.
Nachgerade weiß ich wirklich, was ich zu thun habe.
Ich wäre der Letzte, der daran zweifelte.
Also! – Wollten Sie etwas von mir, liebe Stephanie?
Etwas sehr Dringendes. Bitte, Herr von Sorbitz!
Viktor war mit einer Verbeugung zurückgetreten; Stephanie hatte die Freundin unter den Arm gefaßt und ein paar Schritte seitwärts aus dem Schwarm in eine leere Fensternische geführt.
Um was handelt es sich? fragte Klotilde.
Liebes Herz, Du kannst mir aus einer großen Verlegenheit helfen. Wie ich eben die Tische revidiere, sehe ich, daß Franz neben anderm Unsinn – man kann dem Jungen wirklich nichts überlassen – einen Gast, den wir heute zum erstenmale hier haben, ganz falsch placiert hat.
Meinen Cousin Meerheim?
Den habe ich für mich genommen. Nein! Aber Klotilde, nun kannst Du einmal wirklich zeigen, daß Du mich lieb hast.[21]
Mein Gott, das klingt ja ganz feierlich.
Feierliches ist nun schon gar nicht dabei. Aber Franz hatte Dir Fernau gegeben, und ich weiß, daß Du ihn gern hast.
In allen Ehren.
Aber, Schatz, das versteht sich doch von selbst! Er soll jetzt Deine Cousine führen. Ich habe eben Franz zu ihm geschickt: er habe Euch beide verwechselt.
Fernau wird entzückt sein.
Das gerade nicht, obgleich die kleine Dame wirklich ganz allerliebst ist, trotz ihres mindestens dreimal neu garnierten Kleides. Für Dich nur, Du armes Opferlamm –
Ich bin auf alles gefaßt.
Das heißt: so schrecklich ist er gar nicht – im Gegenteil! ich kann mir denken, daß es Damen giebt, die für ihn schwärmen, ebenso wie seine Jungen. Gott sei Dank! nun ist es heraus! Es ist also der Ordinarius von Oskars Klasse, der sich Oskars sehr annimmt. Und Papa, der sehr große Stücke auf ihn hält – was Du ja schon daraus sehen kannst, daß er heute abend eingeladen ist – hat mir auf die Seele gebunden, ihn auf irgend eine Weise auszuzeichnen. Nun, Schatz, wie könnte ich das besser, als wenn Du die kolossale Liebenswürdigkeit hättest –
Ich habe die kolossale Liebenswürdigkeit. Her mit dem Mann! Wo ist er?
Er ist eben erst gekommen – diese Leute denken, es ist vornehm, wenn man spät kommt – und spricht – oder sprach vorhin nebenan mit Mama. Ich hole ihn Dir.
Noch eins! Wie heißt er?[22]
Winter. Doktor Winter, oder Professor. Ich weiß nicht. Finde ich Dich hier wieder?
Stephanie war davongeeilt.
Adieu! te quitter c'est mourir, sagte hinter Klotilde, nicht eben weit von ihrem Ohr, eine leise Stimme.
Aber es muß doch nicht gleich sein, rief Klotilde, sich lachend wendend.
Auf der Stelle, erwiderte Fernau. Hélas, madame!
– un présage terrible
Doit livrer mon coeur à l'effroi:
J'ai cru voir dans un songe horrible
Un échafaud dressé pour moi.
Sollte das nicht etwas zu spät kommen? Mir scheint, Sie haben Ihren Kopf bereits verloren.
Wer ihn über gewisse Dinge nicht verliert, hat keinen zu verlieren. Also:
Adieu, charmant pays de France!
Adieu, Sie Unverbesserlicher! Sie –
Klotilde kam nicht weiter; die Stimme versagte ihr und das Blut schoß ihr in die Wangen: neben ihr stand Stephanie mit einem Herrn, der sich eben tief verbeugte, und in welchem sie trotz der veränderten Kleidung und der andern Beleuchtung sofort jenen Passagier in der entgegengesetzten Ecke des Pferdebahnwagens erkannte.
Hier, liebe Klotilde, bringe ich Dir Herrn Professor Albrecht Winter, der glücklich ist, Deine Bekanntschaft zu machen. Herr Professor Winter – Herr Legationsrat von Fernau.
Ich habe die Reisebriefe des Herrn Legationsrats durch die südlichen Provinzen Frankreichs mit Entzücken gelesen, sagte Albrecht verbindlich.[23]
Sehr obligiert, Herr Professor. Die Tage des seligen Thümnel mit ihrem sentimentalen Posthornschall und lustigem Peitschenknall sind leider vorüber.
Was wir an Sentimentalität und Humor verloren, haben wir an der scharfen Beobachtung von Land und Leuten reichlich gewonnen.
Und so weiter – nach Tisch! rief Stephanie. Herr Professor, Sie wissen, daß Ihnen das große Los zugefallen ist, die gnädige Frau zu führen. Da kommen die älteren Herrschaften schon. Schließen Sie sich, bitte, hernach an! Machen Sie, daß Sie zu Ihrer Dame gelangen, Herr von Fernau! Ich muß auch nach meinem Herrn sehen.
Stephanie hatte Fernau mit sich genommen.
Da das große Los nun einmal auf mich Unwürdigen gefallen – sagte Albrecht, Klotilde den Arm bietend.
Ich glaube, ich bin verrückt, sagte Klotilde bei sich, als sie fühlte, daß die Hand, die sie auf ihres Begleiters Arm legte, zitterte.
Sie hörte auch kaum etwas von dem, was der Professor sagte, während sie so auf den Moment warteten, wo sie sich dem paarweisen Zuge, der aus den Nebenzimmern nach dem Speisesaale strömte, anschließen konnten. Das Geschwirr der Stimmen, welches vorhin die Räume sinnverwirrend erfüllt hatte, konnte nicht schuld daran sein: es herrschte eben jetzt eine fast lautlose Stille. Aber auf ihrer Seele lag es wie eine Betäubung, die ihr sonst völlig fremd war, und für die sie vergebens nach einer Erklärung suchte. Diese so unerwartete Wiederbegegnung noch an demselben Tage war ja überraschend, nur daß sie für Überraschungen eine große Vorliebe hatte;[24] und die verblüffte Miene von Fernau bei der Vorstellung dessen, der ihn aus dem »charmant pays« verdrängte – das war eigentlich furchtbar komisch gewesen. Weshalb dann also dies alberne Herzklopfen und diese bängliche Empfindung, wie vor einer hereindrohenden Gefahr? Es war positiv lächerlich, und der Herr Professor mußte wirklich glauben, sie sei ein Gänschen von Buchenau, das zum erstenmal von Sterne und sentimental yourney reden hörte. Sie wollte, wenn sie erst einmal saßen, schnell ein Glas Sekt trinken. Das würde ihr den Kopf schon wieder in Ordnung bringen.
Als die letzten der jüngeren Herrschaften, zu denen Klotilde und ihr Begleiter gehörten, den Speisesaal betraten, hatten die älteren bereits in dessen kleinerem, nur durch ein paar Säulen von dem größeren vorderen getrennten Teil ihre Plätze eingenommen. Der gewaltige, von dem blendenden Licht der Kronenleuchter und der zahlreichen Wandkandelaber durchflutete Raum bot einen zauberhaften Anblick, zumal als alle nun in ihren schmucken Uniformen, tadellosen Gesellschaftstoiletten, lichten Gewändern, um die vielen, reich servierten, blumengeschmückten Tische gruppiert, lachend und plaudernd saßen, und die Menge der Diener in schmuckhaften Livreen lautlos geschäftig die Schüsseln präsentierte und die Gläser füllte.
Albrechts Herz schwoll. Da war doch einmal einer seiner Träume zur Wirklichkeit geworden! Er in diesem fürstlichen Saal, inmitten der besten Gesellschaft der Residenz, an der Seite einer schönen Frau! Da würden ja vielleicht auch die andern nicht immer Träume bleiben! sich ihm die Pforten des königlichen Schauspielhauses[25] öffnen, an die er nun bereits seit zwei Jahren vergebens ungeduldig pochte! Und die kaiserliche Loge, in die ihn der General-Intendant führte, huldreiche Worte über sein gelungenes Werk aus allerhöchstem Munde zu vernehmen! Evoe, Bakche! evoe! rief es in ihm, während er den Schaum von seinem Champagnerglase schlürfte und dabei in die prachtvollen Augen seiner reizenden Nachbarin blickte.[26]
Buchempfehlung
Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.
82 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro