|
[110] Es fehlten nur noch wenige Minuten an vier, und er würde gewiß pünktlich kommen, während Viktor nicht wohl vor ein viertel fünf da sein konnte.
Sie saß in einem Fauteuil ihres Salons, auf dem Tischchen neben sich ein geöffnetes Buch, das sie in dem Augenblicke, wo es draußen klingelte, ergreifen konnte.
Noch kurz vorher war das Arrangement ein anderes gewesen. Sie hatte eine Näharbeit in der Hand gehabt, und vor ihr auf dem Teppich hatte Liesbeth, ihr »Zeigekind« gespielt. Aber sie fürchtete, man könnte die Absicht merken; oder die Bonne würde im ungeeigneten Moment hereinplatzen, Liesbeth zu holen; oder die Kleine möchte anfangen zu weinen – es war doch besser, wenn sie die Idylle fallen ließ und ihm ganz als Salondame erschien. So war Liesbeth in die Kinderstube zu Brüderchen zurückgeschickt worden.
Bereits mehrmals im Laufe des Vormittags hatte sie im Gedächtnis die Scene mit Viktor heute morgen rekapituliert und eben war sie wieder dabei. Es wollte ihr doch jetzt dünken, als habe sie ein sehr gewagtes Spiel gespielt, indem sie um des Professors willen Fernau[110] so gut wie preisgab. Es war nicht ihre Absicht gewesen. Sie hatte, als sie Albrecht zu dem Besuche aufforderte, Fernau zeigen wollen: Sie sehen, daß ich ganz unbefangen bin; wäre ich es nicht, würde ich mich wohl hüten, Viktor in mein Spiel blicken zu lassen, sondern es ruhig für mich weiter spielen. Nun hatte ein Wort das andere gegeben und zuletzt war eine richtige Anklage daraus geworden gegen den einzigen ihrer Kurmacher, mit dem sich eine Flirtation verlohnte. Das Sprichwort von dem unreinen Wasser, das man nicht voreilig weggießen solle, fiel ihr ein. Über den blinden Eifer! Um das eine zu thun, brauchte man doch das andere nicht zu lassen! Oder den andern! Und Viktor würde nun nichts eiliger haben, als »seinen besten Freund« zur Rede zu stellen; und er, der hinter jedem Busch gestanden hatte, würde in ein höhnisches Gelächter ausbrechen: siehst Du denn nicht, Verehrtester, daß Dir Deine Frau ein X für ein U macht! Sand in die Augen, lieber Sohn! Den Sack schlägt man, und den Esel meint man! Ich hätte Dich für klüger gehalten!
Und wozu das alles? Wenn ich wenigstens wüßte, ob ich den Menschen liebte! Aber davon ist doch gar keine Rede. Es ist doch nur –
Auf dem Flur ertönte die Klingel. Klotilde zuckte zusammen, griff mit nervöser Hast nach dem Buch und lehnte sich scheinbar lässig in den Fauteuil zurück, während ihr das Herz gewaltsam klopfte.
Es war ihr nichts Neues mehr: sie hatte es jetzt jedesmal durchzumachen, wenn sich die Thür öffnete, durch die er eintreten sollte.
Das eben ergriffene Buch lag in ihrem Schoß; sie[111] hatte dem Eintretenden gütig entgegengelächelt und, ohne sich zu erheben, ihn mit einer Handbewegung aufgefordert, auf einem Faulteil vor ihr Platz zu nehmen. Nun erst streckte sie ihm, sich vorüberbeugend, die Hand hin und sagte mit einer Stimme, deren leises Zittern ihm hoffentlich entging:
Wie lieb von Ihnen! Ich denke, mein Mann wird jeden Augenblick nach Hause kommen.
Und inzwischen habe ich Sie in Ihrer Lektüre gestört!
Sie wundern sich, daß unsereine auch mal ein Buch zur Hand nimmt.
Wenn ich dergleichen blasphemische Gedanken je gehegt hätte – was nicht der Fall gewesen ist – diese letzten Abende, in denen ich an den Damen Ihres Kreises ebensoviele Repräsentantinnen der feinsten Bildung, des exquisitesten Kunstsinnes bewundern durfte, hätten mich eines Besseren belehrt.
Sehr gütig! Und doch kann ich den Verdacht nicht los werden, daß Sie in uns ohne Ausnahme besten Falls nur dressierte Puppen sehen.
Welches Recht hätte ich zu einem so herben Urteil, der ich auf dem identischen Standpunkt der übrigen Herrschaften stehe: dem des Dilettanten.
Was versteht man eigentlich unter einem Dilettanten?
Ich glaube: jemand, der lebhafte Freude an der Kunst hat, sich auch wohl in ihr übt und es bis zu einem gewissen Grade der Fertigkeit bringt, ohne doch Künstler zu sein.
Und wie wird man Künstler?
Wenn man dazu geboren ist.
Das ist sehr bequem.[112]
Nicht so ganz. Es gehört dazu, daß man von diesem seinem Geburtsrecht den rechten Gebrauch macht und den Nachweis seiner Legitimität führt.
Wodurch?
Durch unablässigen, unerschöpflichen Fleiß, dessen der geborene Dilettant niemals fähig ist.
Mein Gott, wie ist das schön!
Was, gnädige Frau?
Von einem klugen Manne sich so belehren zu lassen!
Es war ihr keine Phrase gewesen. Albrecht hatte das wohl herausgehört und sah es an dem Glanz ihrer großen Augen, der ihm bis ins tiefste Herz leuchtete. Noch nie war ihm die schöne Frau so schön erschienen; noch nie glaubte er, sie so geliebt zu haben. Aber auch bei Klotilde wirkte der Zauber, den die Gegenwart des Mannes stets auf sie übte, mit voller Kraft. Wie ertappte Verbrecher hatten sie beide gleichzeitig die flammenden Augen niedergeschlagen.
Klotilde hatte in ihrer Erregung das Buch von ihrem Schoß auf den Teppich gleiten lassen; Albrecht hob es auf. Indem sie unwillkürlich dieselbe Bewegung ausführte, hatten sich die greifenden Hände für einen Moment flüchtig berührt. Es war so unverfänglich! Keiner hatte die Absicht gehabt! Dennoch waren beide tief errötet; Klotilde strich über eine Falte ihres Kleides; Albrecht blätterte verlegen in dem Buch.
Verzeihen Sie die Indiskretion! Es ist so die leidige Gewohnheit von uns Büchermenschen, nach dem Titel zu sehen!
Das hätten Sie nun wirklich nicht bei mir gesucht.[113]
Aufrichtig, gnädige Frau, nein! Aber ich freue mich, es hier gefunden zu haben.
Sie schwärmen für unsere neueste Litteratur?
Ich interessiere mich sehr für sie, wie für allen kühnen Experimente auf welchem Gebiete immer, von denen ich hoffen darf, die wenigstens die Möglichkeit gewähren, daß die Menschheit einen Schritt weiter kommt.
Mein Mann findet diese Sachen entsetzlich.
Ihr Herr Gemahl gehört zu der höchst ehrwürdigen Klasse von Staatsbürgern, denen es obliegt, das Bestehende zu konservieren und unsere fin-de-siècle-Menschen vor den Orgien einer kopf- und ziellosen Revolution zu bewahren.
Klotilde lachte.
Nein, wahrhaftig, rief sie, mein Mann ist kein Revolutionär. Aber ich fürchte, Sie sind einer.
Nein, gnädige Frau. Ich bin nur ein Mensch, der nichts dagegen hätte, wenn eines schönen Tages die vierte Dimension entdeckt würde; und, weil er weiß, sie wird nun und nimmer entdeckt werden, von Herzen dankbar ist für jede, auch die kleinste Erweiterung der drei, innerhalb derer wir Erdgeborenen uns in alle Ewigkeit zu bewegen haben.
Worin finden Sie eine derartige Erweiterung?
In jeder Entdeckung – Amerikas zum Beispiel, oder der Buchdruckerkunst, heutzutage der Dampfkraft, der Elektricität –
Des Koch'schen Komma-Bacillus und so weiter. Ich will zugeben, unser Leben wird durch diese und andere schöne Dinge erweitert, wie Sie es nennen. Bleibt es deshalb weniger langweilig?[114]
Ich langweilte mich nie, gnädige Frau.
Ich immer – furchtbar. Es bringt mich oft an den Rand der Verzweiflung. Ich könnte ein Verbrechen begehen, wenn ich sicher wäre, es rettete mich auf ein paar Tage, ein paar Stunden nur aus diesem Sumpf, in dem ich ersticke. Ihr Männer freilich! O ja, ich glaube schon, daß Ihr Euch nicht langweilt! Da ist Euer Beruf, da ist der Sport, das Spiel, la femme! Da sind die Dummheiten, die Ihr ungestraft begehen könnt, oder meinetwegen auch gestraft, und die dann jedenfalls noch viel interessanter und pikanter werden. Aber wir! Puppen habe ich vorhin gesagt; und dabei bleibe ich: dressierte Puppen; dressiert von Euch und für Euch, die Ihr mit uns spielt und uns in den Winkel werft, wenn Ihr Euch satt gespielt habt.
Sie hatte sich in den Fauteuil zurückgelehnt; ihre sonst bleichen Wangen waren gerötet, die großen Augen halb geschlossen und wie gebrochen; durch die leise geöffneten Lippen blitzten die weißen Zähne. Albrecht saß da, vorübergebeugt, starren Blickes, in einem Rausch wahnsinnigen Entzückens. Ja, da war sie, die er sich geträumt hatte in seinen schönsten, kühnsten Träumen: das Weib, das empfand, wie er; dachte, wie er; diese schnöde Welt mit einer Spitze ihres Fußes verächtlich von sich stieß, wie er! Und die, wenn er sie fand, er lieben würde, lieben müßte, und kostete es ihm Leben und Seligkeit.
Ich höre aus dem allen nur eines heraus, sagte er mit dumpfer Stimme.
Was? fragte sie, ohne ihre Stellung zu verändern.
Daß Sie nie von Grund des Herzens aus geliebt haben.[115]
Sie lachte ein kurzes, hohnvolles Lachen.
Das fehlte mir noch!
Ja! rief Albrecht, das fehlt Ihnen; und weil es Ihnen fehlt, sind Sie, was Sie sind: die unglückliche Frau, die mit allen ihren wundersamen Reizen des Leibes und der Seele, ihren herrlichen Eigenschaften des Herzens und Geistes tantalische Qualen duldet. Aus denen Wonnen werden würden, götterhafte Wonnen bei dem ersten Strahl wahrhafter Liebe, der Ihr Herz träfe. O, gnädige Frau, ich spreche aus Erfahrung! Auch ich bin durch eine steinige Wüste gewandert. Und der Himmel war ehern über mir. Und die Zunge dorrte mir im Munde, und das Herz verzagte mir in der Brust. Und ich verfluchte mein Dasein und bat den Dämon der Wüste, er möchte seinen glühendsten Samum schicken und eine Sandwelle häufen zum Grabhügel eines Verzweifelten! Und da, gnädige Frau – kein Dämon der Wüste, der Herr der Welten nahte sich mir; nicht im heulenden Sturm, sondern im Säuseln des Windes – im sanften und doch allgewaltigen Anhauch der Liebe. Denn siehe, er hatte mir Dich gesandt, Du schönste, herrlichste aller Frauen! Und mir gesagt: liebe sie von ganzer Seele! mit jeder Kraft Deines Herzens! mit jedem Tropfen Deines Blutes! mit jeder Fiber Deines Leibes! Und bete sie an, wie Du mich anbeten würdest!
Er war von dem Sessel hinabgeglitten zu ihren Füßen, die glühende Stirn auf ihre Kniee drückend.
In demselben Moment wurde, laut und schrill, die Flurglocke gezogen. Klotilde fuhr mit den Händen, die sie eben auf sein Haupt hatte legen wollen, zu rück.
Um Gottes willen –[116]
Er war bereits aufgesprungen und hatte mit einer Geistesgegenwart, die sie ihm nicht zugetraut, raschen Griffs seinen Hut von dem Teppich neben seinem Stuhle aufgerafft.
Da betrat auch schon der junge Diener, der ihn vorhin angemeldet hatte, das Zimmer.
Eine Depesche, gnädige Frau!
Klotilde hatte von der ihr präsentierten Schale das Blatt genommen und erbrochen.
Ist vielleicht Rückantwort, gnädige Frau? Der Bote wartet noch.
Einen Augenblick! Nein, es ist keine Rückantwort. Der Herr kann erst um sechs zu Tisch kommen – sagen Sie es in der Küche!
Zu Befehl, gnädige Frau!
Der junge Diener war gegangen, während von der anderen Seite die Bonne mit Liesbeth kam. Liesbeth hatte das Klingeln gehört; gemeint, es sei der Papa; sich nicht halten lassen.
Gieb dem Herrn ein Händchen, Liesbeth! sagte Klotilde.
Die hübsche Kleine kam dreist auf ihn zugelaufen; er hob sie in die Höhe, küßte sie und sagte, indem er sie wieder niedersetzte:
Ich darf Sie nicht länger aufhalten, gnädige Frau. Wollen Sie die Güte haben, mich Ihrem Herrn Gemahl zu empfehlen.
Er wird sehr bedauern. Diese leidigen Plenarsitzungen, die alle Augenblicke unverhofft kommen! Haben wir heute Probe? Sei artig, Liesbeth!
Nein, aber morgen: die Generalprobe.[117]
Das ist der Anfang des Endes.
Sie hatte es lachend gesagt und er hatte gelacht. Aber als er draußen war und die Treppe hinabstieg, lachte er nicht mehr. Seine Stirn war gefurcht und er murmelte durch die Zähne:
Oder war es schon das Ende selbst?
Klotilde saß wieder in ihrem Fauteuil; Liesbeth spielte zu ihren Füßen auf dem Teppich, ganz wie in der projektierten, hernach verworfenen Idylle.
Schade! Wir waren so gut im Zuge! Glaube wahrhaftig, ich hätte ihm im nächsten Augenblick einen Kuß gegeben. Die dumme Depesche! Aber so ist es immer![118]
Buchempfehlung
»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
90 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro