Entsühnung

[133] Ich stand in Nacht. Ich rang versteinert.

Fand in Wüsten irrend deine Seele nicht.

Die Wege lagen endlos mir verschüttet,

die zu deiner Schwelle liefen.

Ich war ganz fern. Du sprachst zu mir.

Ich stand mit abgewandtem Herzen und Gesicht.

Wie Sterbeglocken rauschten mir die Worte,

die mich zu dir riefen.

Ich lauschte dumpf der Stimme.

Wie erstarrt. Sie kam

Aus Fernen: still; demütig, aber fest;

nachtwandelnd und im Glanze ihres Schicksals,

und sie drang in meinen Traum.

Da war's, daß in mein Herz das Wunder brach.

Ich wachte auf. In jäher Scham

Sah ich mich selbst. Sah deine Seele, wie sie stumm,

mit schweren Lidern, vor mir stand,

Nackend. Sah ihre lange Qual,

und wie sie durch die vielen, vielen Nächte

Mich so gesucht, die Augen still in mich gekehrt,

und mich doch nimmer fand,

Indes ich blind

in wilden Zonen irrte

Und meines Herzens Heimwehruf

verbannte.

Sah, wie ihr reiner Spiegel

sich mit Dunkel wirrte,[134]

Und jäh gereckt die Gier,

wie sie sich selbst zum Opfer brächte,

Grausam, im eignen Blut die Qualen löschend,

und mit Weh ihr Weh ertöte,

Im Opfer ihres Leibes. Und ich sah dich bleich,

mit nackten Füßen auf dem Büßerberg

und über deiner Brust die Röte

Der Wunden, die ich dir geschlagen.

Sah dich matt und bloß

Und schwach.

Doch über Nacht und Leid

Strahlte dein heiliges Herz. Ich sah den Glorienschein,

der jählings über deinem Scheitel brannte

Und mich begoß.

Oh, immer will ich stehn und schauen, schauen

Und warten, du Geliebte,

daß dein Antlitz mir ein Lächeln schenke.

Ich weiß, ich hab an dir gesündigt.

Sieh, ich will dein Kleid

Bloß fassen, so wie Mütter tun mit kranken Kindern

vor dem Bild der lieben Frauen –

Nur lächle wieder,

du, in deren Schoß

Ich wie in klares Wasser

meines Lebens dunkles Opfer senke.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 1, Hamburg o.J. [1954], S. 133-135.
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