1. Der graue Strauch

[639] Wenn man die Karte des Herzogtumes Krumau ansieht, welches im südlichen Böhmen liegt, so findet man in den dunkeln Stellen, welche die großen Wälder zwischen Böhmen und Baiern bedeuten, allerlei seltsame und wunderliche Namen eingeschrieben; zum Beispiele: ›zum Hochficht‹, ›zum schwarzen Stocke‹, ›zur tiefen Lake‹, ›zur kalten Moldau‹ und dergleichen. Diese Namen bezeichnen aber nicht Ortschaften oder gar Herbergen, die solche Schilder führen, sondern ganz einfache Waldesstellen, die hervorgehoben sind, um gewisse Linien und Richtungen anzugeben, nach denen man in den weiten Forsten ohne Weg oder anderes Merkmal gehen könnte. Die Namen sind von denjenigen Leuten erfunden worden, welche am meisten ohne Weg und Bezeichnung im Walde zu gehen pflegen, nämlich von Jägern und Schleichhändlern. Wie aber sinnliche Menschen, das heißt solche, deren Kräfte vorzugsweise auf die Anschauung gerichtet sein müssen, schnell die bezeichnenden Eigenschaften der Dinge finden, sind auch diese Namen meistens von sehr augenfälligen Gegenständen der Stellen genommen.

So heißt es auch in einem großen Flecke, der auf der Seite des böhmischen Landes liegt, ›zum beschriebenen Tännling‹. Einen Tännling nennt man aber in der Gegend eine junge Tanne, die jedoch nicht größer sein darf, als daß sie noch ein Mann zu umfassen im Stande ist. Wenn nun ein Wanderer wirklich zu der Stelle geht, auf welcher[639] es ›zum beschriebenen Tännling‹ heißt, so sieht er dort allerdings eine Tanne stehen, aber dieselbe ist kein Tännling mehr, sondern ein riesenhaft großer und sehr alter Baum, der gewaltige Äste, eine rauhe, aufgeworfene Rinde und mächtige, in die Erde eingreifende Wurzeln hat. An seinem Fuße liegen mehrere regelmäßige Steine, die wohl zufällig dort liegen mögen, die aber wie zum Sitzen hingelegt scheinen. Den Namen ›beschrieben‹ mag die Tanne von den vielen Herzen, Kreuzen, Namen und andern Zeichen erhalten haben, die in ihrem Stamme eingegraben sind. Natürlich ist sie einmal ein Tännling gewesen, die Steine, an denen sie stand, mochten zum Sitzen eingeladen, und es mochte einmal einer seinen Namen oder sonst etwas in die feine Rinde eingeschnitten haben. Die verharschenden Zeichen haben einen andern angereizt, etwas dazu zu schneiden, und so ist es fortgegangen, und so ist der Name und die Sitte geblieben. Der beschriebene Tännling steht mitten in dem stillen Walde, und die andern Tannen stehen tausendfach und unzählig um ihn herum. Oft mögen sie noch größer und mächtiger sein als er. Der Wald, dem sie angehören, ist ein Teil jener dunkelnden großen und starken Waldungen, die über den ganzen emporgehobenen Landstrich gebreitet sind, der sich zwischen Böhmen und Baiern dahin zieht.

In diesen Waldungen ist auch da, wo sie sich gegen das österreichische Land hinziehen, ein helles, lichtes Tal geöffnet, von dem wir an der zweiten Stelle unserer Geschichte nach dem beschriebenen Tännling reden müssen, weil sich in ihm ein großer Teil von dem, was wir erzählen wollen, zugetragen hat. Das Tal ist sanft und breit, es ist von Osten gegen Westen in das Waldland hinein geschnitten, und ist fast ganz von Bäumen entblößt, weil man, da man die Wälder ausrottete, viel von dem Überflusse der Bäume zu leiden hatte und von dem Grundsatze ausging, je weniger Bäume überblieben, desto[640] besser sei es. In der Mitte des Tales ist der Marktflecken Oberplan, der seine Wiesen und Felder um sich hat, in nicht großer Ferne auf die Wasser der Moldau sieht, und in größerer mehrere herumgestreute Dörfer hat. Das Tal ist selber wieder nicht eben, sondern hat größere und kleinere Erhöhungen. Die bedeutendste ist der Kreuzberg, der sich gleich hinter Oberplan erhebt, von dem Walde, mit dem er einstens bedeckt war, entblößt ist, und seinen Namen von dem blutroten Kreuze hat, das auf seinem Gipfel steht. Von ihm aus Übersieht man das ganze Tal. Wenn man neben dem roten Kreuze steht, so hat man unter sich die grauen Dächer von Oberplan, dann dessen Felder und Wiesen, dann die glänzende Schlange der Moldau und die obbesagten Dörfer. Sonst sieht man von dem Kreuzberge aus nichts; denn ringsum schließen den Blick die umgebenden blaulichen, dämmernden Bänder des böhmischen Waldes. Nur da, wo das Band am dünnsten ist, sieht man doch manchmal auch noch etwas anderes. Wenn an einem Morgen Regen bevorsteht und die Luft so klar ist, daß man die Dinge in keinem färbenden Dufte, sondern in ihrer einfachen Natürlichkeit sieht, so erblickt man zuweilen im Südost über der schmalsten Waldlinie die Norischen Alpen, so weit und märchenhaft draußen schwebend wie mattblaue, starr gewordene Wolken. Gewöhnlich überzieht sich an solchen Tagen gegen Mittag hin der ganze über dem Waldlande stehende Himmel mit einer stahlgrauen Wolkendecke, und läßt nur über den Alpen einen glänzenden Strich, zum Zeichen, daß in dem niedriger gelegenen Österreich noch heiterer Sonnenschein herrscht. Am andern Tage rieselt dann der feine, dichte Regen nieder und verhüllt nicht nur die Alpen, sondern auch die umgebenden blauen Bänder des Waldes.

Aber nicht bloß wegen seiner Aussicht kömmt der Kreuzberg in Betracht, sondern es sind auch noch mehrere[641] Dinge auf ihm, die ihn den Oberplanern bedeutsam und merkwürdig machen.

An einer Stelle stehen Felsen hervor, auf die man einerseits eben von dem Rasen hinzu gehen kann, und die andererseits tief und steil abfallen, fast viereckige Säulen bilden und am Fuße viele kleine Steine haben. Es ist einmal eine Bäuerin gewesen, die wegen ihrer außerordentlichen Schönheit berühmt war. Sie trug immer die Milch, die sie den fernen Arbeitern auf einer Wiese zur Labung brachte, über den Kreuzberg. Weil sie aber den Worten eines Geistes kein Gehör gab, wurde sie von ihm auf ewige Zeiten verflucht, oder, wie sich die Bewohner der Gegend ausdrücken, verwunschen, daß an ihrer Stelle die seltsamen Felsen hervor stehen, die noch jetzt den Namen Milchbäuerin führen. Die Säulen der Milchbäuerin sind durch feine, aber deutlich unterscheidbare Spalten geschieden. Einige sind höher, andere niederer. Sie sind alle von oben so glatt und eben abgeschnitten, daß man auf den niederern sitzen und sich an die höhern anlehnen kann. In der sonnigen Tiefe unter der Milchbäuerin sind die Pflanzbeete der Oberplaner, das ist, aufgelockerte Erdstellen, in denen sie im ersten Frühlinge die Pflänzchen des Weißkohles ziehen, um sie später auf die gehörigen Äcker zu verpflanzen. Warum die Leute diese von ihren Wohnungen so entlegene Stelle wählen, ist unbekannt, nur ist es seit Jahrhunderten so gewesen; befindet sich etwas Eigentümliches in der Erde, oder ist es nur die warme Lage des Bodens, der sich gegen Mittag hinabzieht, oder ist es die Abhärtung, welche die Pflänzchen auf dem steinigen Grunde erhalten: genug, die Leute sagen, sie gedeihen von keiner Stelle weg so gut auf den Feldern wie von dieser, und Versuche, die man unten in Gärten gemacht hat, fielen schlecht aus, und die Setzlinge verkamen nachher auf den Äckern.

Nahe an der Milchbäuerin stehen zwei Häuschen auf dem[642] Rasen. Sie sind rund, schneeweiß, und haben zwei runde, spitzige Schindeldächer. Sie haben keine Fenster und Simse, sondern nur eine kleine Tür. Wenn man bei dieser Tür hinein schaut, so sieht man keinen Fußboden, sondern unten, durch den Kreis der Ummauerung eingefangen, ein ruhiges, klares Wasser, das den Sand und den Kies seines Grundes so deutlich herauf schimmern läßt wie durch feines geschliffenes Glas. Auf jedem der zwei Wasserspiegel schwimmt ein kleiner hölzerner Kübel, der einen langen Stiel hat, welcher bei der Tür heraus ragt, daß man ihn fassen und sich Wasser herauf schöpfen kann. Zwischen den zwei Häuschen steht eine sehr alte und sehr große Linde. Ihr Stamm ist so mächtig, daß eine kleine Wohnung darin Platz hätte, und ihre mannsdicken Äste gehen weit über die zwei spitzigen Schindeldächer hinaus.

Wieder nicht weit von den Häuschen, so daß man etwa mit zwei Steinwürfen hinreichen könnte, steht ein Kirchlein. Es ist das Gnadenkirchlein der schmerzhaften Mutter Gottes zum guten Wasser, weil ein Bildnis der heiligen Jungfrau mit den Schwertern des Schmerzes im Herzen auf dem Hochaltare steht. Zwischen Oberplan und dem Kirchlein ist ein junger Weg mit jungen Bäumen an den Seiten, so wie von dem Kirchlein zu den Brunnenhäuschen ein breiter Sandweg mit alten, schattigen Linden ist.

Außer den drei Dingen, der Milchbäuerin, den Brunnenhäuschen und dem Kirchlein, ist noch ein viertes, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist ein alter Weg, der ein wenig unterhalb des Kirchleins ein Stück durch den Rasen dahin geht, und dann aufhört, ohne zu etwas zu führen. Er ist von alten gehauenen Steinen gebaut, und an seinen Seiten stehen alte Linden; aber die Steine sind schon eingesunken und an manchen Stellen in Unordnung geraten; die Bäume jedoch, obwohl sie schon manchen[643] dürren Ast zum Himmel strecken, haben noch so viel Lebenskraft bewahrt, daß sie alle Jahre im Herbste eine ganze Wucht von gelben Blättern auf die verwitternden und verkommenden Steine zu ihren Füßen fallen lassen.

Wenn man das Kreuz auf dem Gipfel ausnimmt, so ist nun nichts mehr auf dem Berge, das Merkwürdigkeit ansprechen könnte. Die obenerwähnten Bäume sind die einzigen, die der Berg hat, so wie der Felsen der Milchbäuerin der einzige bedeutende ist. Von Oberplan bis zu dem Kirchlein ist der Berg mit feinem dichten Rasen bedeckt, der wie geschoren aussieht und an manchen Stellen den Granit und den steinigen Gries des Grundes hervor schauen läßt. Von dem Kirchlein bis zu dem Gipfel und von da nach Ost, Nord und West hinunter stehen dichte, rauhe, knorrige, aber einzelne Wachholderstauden, zwischen denen wieder der obgenannte Rasen ist, aber auch manches größere und gewaltigere Stück des verwitternden Granitsteines hervorragt.

Von der Entstehung des Kirchleins und der Brunnenhäuschen gibt eine alte Erzählung folgende Aufklärung:

In dem Hause zu Oberplan, auf welchem es ›zum Sommer‹ heißt, und welches schon zu denjenigen gehört, die sehr nahe an dem Berge sind, so daß Schoppen und Scheune schon manchmal in denselben hinein gehen, träumte einem Blinden drei Nächte hintereinander, daß er auf den Berg gehen und dort graben solle. Es träumte ihm, daß er dreieckige Steine finden würde, dort solle er graben, es würde Wasser kommen, mit dem solle er sich die Augen waschen, und er würde sehen. Am Morgen nach der dritten Nacht nahm er eine Haue, ohne daß er jemanden etwas sagte, und ging auf den Berg. Er fand die dreieckigen Steine und grub. Als er eine Weile gegraben hatte, hörte er es rauschen, wie wenn Wasser käme, und da er genauer hin horchte, vernahm er das[644] feine Geriesel. Er legte also die Haue weg, tauchte die Hand in das Wasser und fuhr sich damit über die Stirne und über die Augen. Als er die Hand weg getan hatte, sah er. Er sah nicht nur seinen Arm und die daliegende Haue, sondern er sah auch die ganze Gegend, auf welche die Sonne recht schön hernieder schien, den grünen Rasen, die grauen Steine und die Wachholderbüsche. Aber auch etwas anderes sah er, worüber er in einen fürchterlichen Schrecken geriet. Dicht vor ihm mitten in dem Wasser saß ein Gnadenbild der schmerzhaften Mutter Gottes. Das Bildnis hatte einen lichten Schein um das Haupt, es hatte den toten, gekreuzigten Sohn auf dem Schoße und sieben Schwerter in dem Herzen. Er trat auf dem Rasen zurück, fiel auf seine Knie und betete zu Gott. Als er eine Weile gebetet hatte, stand er auf und rührte das Bild an. Er nahm es aus dem Wasser und setzte es neben dem größten der dreieckigen Steine auf den Rasen in die Sonne. Dann betete er noch einmal, blieb lange auf dem Berge, ging endlich nach Hause, breitete die Sache unter den Leuten aus, und blieb sehend bis an das Ende seines Lebens. Noch an demselben Tage gingen mehrere Menschen auf den Berg, um an dem Bilde zu beten; später kamen auch andere; und da noch mehrere Wunder geschahen, besonders an armen und gebrechlichen Leuten, so baute man ein Dächelchen über das Bild, daß es nicht von dem Wetter und der Sonne zu leiden hätte. Man weiß nicht, wann sich das begeben hatte, aber es muß in sehr alten Zeiten gewesen sein. Eben so weiß man nicht, was später mit dem Bilde geschehen sei, und aus welcher Ursache es einmal in dem Laufe der Zeiten nach dem Marktflecken Untermoldau geliehen worden ist; aber das ist gewiß, daß der Hagelschlag sieben Jahre hintereinander die Felder von Oberplan verwüstete. Da kam das Volk auf den Gedanken, daß man das Bild wieder holen müsse, und ein Mann aus dem Christelhause,[645] das auf der kurzen Zeile steht, trug es auf seinem Rücken von Untermoldau nach Oberplan. Der Hagelschlag hörte auf, und man baute für das Bild eine sehr schöne Kapelle aus Holz und strich dieselbe mit roter Farbe an. Man baute die Kapelle an das Wasser des Blinden und setzte hinter ihr eine Linde. Auch fing man einen breiten Pflasterweg mit Linden von der Kapelle bis nach Oberplan hinab zu bauen an, allein der Weg ist in späteren Zeiten nicht fertig geworden. Nach vielen Jahren war einmal ein sehr frommer Pfarrer in Oberplan, und da sich die Kreuzfahrer zu dem Bilde stets mehrten, ja sogar andächtige Scharen über den finstern Wald aus Baiern herüber kamen, so machte er den Vorschlag, daß man ein Kirchlein bauen solle. Das Kirchlein wurde auf einem etwas höheren und tauglicheren Orte erbaut, und man brachte das Bild in einer frommen Pilgerfahrt in dasselbe hinüber, nachdem man es vorher mit zierlichen und schönen Gewändern angetan hatte. Die rote Kapelle wurde weggeräumt, und über dem Wasser des Blinden, das sich seither in zwei Quellen gespalten hatte, wurden die zwei Brunnenhäuschen gebaut. Dadurch geschah es, daß die Linde, die hinter der Kapelle gestanden war, nun zwischen den Brunnenhäuschen steht, und dadurch geschah es, daß der Pflasterweg, der früher zur Kapelle hätte führen sollen und unvollendet geblieben war, nun ohne Ziel und Zweck in dem Rasen liegt. Ein Nachfolger des Pfarrers ließ den jungen Weg von Oberplan zu dem Kirchlein machen, pflanzte die jungen Bäume an seine Seiten, und ließ von den Schulkindern die kleinen Steine von ihm weg lesen, die sich aus Zufall dort eingefunden hatten.

Das Kirchlein ist das nämliche, das noch heut zu Tage steht. Das Türmchen mit den hellklingenden Glocken steht gegen Sonnenaufgang, die Mauern sind weiß, nur daß sie an den Simsen und Fenstern hochgelbe Streifen[646] haben, die langen Fenster schauen alle gegen Mittag, daß eine freundliche Helle ist und an schönen Tagen sich der Sonnenschein über die Kirchstühle legt. Das Gnadenbild befindet sich auf dem Hochaltare, so daß, wenn am Morgen die Sonne aufgeht, ein lichter Schein um sein Haupt ist, wie einstens im Wasser, da es sich dem Blinden entdeckte. Manche Menschen haben Kostbarkeiten und andere Dinge in das Kirchlein gespendet. Wie sehr es gehegt und gepflegt werde, hängt jedesmal von dem Pfarrer in Oberplan ab. Jetzt ist immer, wenn nicht gar schlechtes Wetter ist, die zweite Messe oben, und immer finden sich Andächtige ein, die ihr beiwohnen. Selbst in der heißen Erntezeit, wo alles auf den Feldern ist, sitzen wenigstens einige Mütterlein da und beten zu dem wundertätigen Bilde. Die Bewohner der Gegend verehren das Kirchlein sehr, und mancher, wenn er in den fernen Wäldern geht und durch einen ungefähren Durchschlag derselben das weiße Gebäude auf dem Berge sieht, macht ein Kreuz und tut ein kurzes Gebet.

Wann das Kreuz auf dem Gipfel gesetzt worden ist, ob es samt dem Namen des Berges schon vor dem Kirchlein vorhanden gewesen, oder erst später entstanden ist, weiß kein Bewohner von Oberplan oder von den umliegenden Ortschaften anzugeben.

Die Oberplaner gehen sehr gerne auf den Berg, besonders an Sonntagnachmittagen, wenn es Sommer und schön ist. Sie gehen in das Kirchlein, gehen unter den Wachholderstauden herum, gehen zu dem roten Kreuze und zu den zwei Brunnenhäuschen. Da kosten sie von dem Wasser und waschen sich ein wenig die Stirne und die Augenlider. Die Kinder gehen wohl auch an andern Tagen hinauf, um unter den Wachholdersträuchen gestreifte Schneckenhäuser zu suchen.

Nachdem wir nun den Schauplatz beschrieben haben, gehen wir zu dem über, was sich dort zugetragen hat.[647]

Wenn man von dem roten Kreuze über den Berg nach Westen hinabgeht, so daß die Häuser von Oberplan vor den Augen versinken, so geht man anfangs zwischen den dichten Wachholderstauden, dann beginnt feiner Rasen, und dann stehen zuerst dünne und dann dichter einzelne Föhrenstämme, welche die Pichlerner Weide heißen, weil einstens das Vieh zwischen ihnen herum ging und weidete. Wenn man aber aus den Föhrenstämmen hinaus getreten ist, so steht ein weißes Häuschen. Nicht weit davon, etwa zwei Büchsenschüsse, beginnen Felder und Wiesen, in denen das Dorf Pichlern liegt, durch das ein schöner Bach der Moldau zufließt.

Das weiße Häuschen ist vor vielen Jahren von den Besitzern der Schwarzmühle zu Pichlern zu dem Zwecke erbaut worden, daß es allemal einem alten Dienstboten, der lange und treu in der Schwarzmühle gedient hatte, als Wohnung gegeben werde. Wenn auch das Häuschen einsam am Rande der Weide liegt, so liegt es doch, wie es für das Alter nötig ist, gegen die Sonne gekehrt und ist durch die Bäume vor den Winden geschützt.

Zur Zeit, als das Kirchlein auf dem Berge schon stand, als es aber noch so früh war, daß eben die Tage unserer Großeltern im Anbrechen waren, lebte in dem weißen Häuschen eine Frau, die zwar kein Dienstbote in der Schwarzmühle gewesen war, der man aber doch aus Mildtätigkeit das Häuschen eingeräumt hatte, weil eben kein geeigneter Dienstbote vorhanden gewesen war. Die Frau hatte nur eine Ziege, welche in dem Ställchen des Häuschens angebunden war. Sie selber hatte das Stübchen daneben. Das Winterholz, welches aus lauter dünnen Stäben bestand, die sich die Frau im Walde gesammelt hatte, war um das Häuschen aufgeschlichtet, so daß nur die Fenster durch kleine Öffnungen heraus schauten und das Dach auf dem Holze aufzuliegen schien. Wenn sehr schönes Wetter herrschte, ging sie gerne mit ihrer Ziege an[648] den Zäunen gegen den Kramwiesbach hinaus und ließ sie die verschiedenen Blätter von den Gesträuchen des Zaunes fressen, oder sie war häufig auf dem Kreuzberge, wo sie zwischen den Steinen und den Wachholdergesträuchen die schlechten Blätter ausraufte, oder die blauen Beeren in ihre Schürze sammelte. Manchmal kniete sie auch an dem roten Kreuze und betete, oder sie saß auf den flachen Steinen vor demselben, und die Ziege stand vor ihr.

Diese Frau hatte ein Kind. Das Kind war ein Mädchen, und war so außerordentlich schön, daß man sich kaum etwas Schöneres auf Erden zu denken vermag. Aber wenige Menschen bekamen das Kind zu sehen; denn es war immer in dem Stübchen, und wenn die Frau auf längere Zeit fortging, sperrte sie dasselbe ein. Sie nährte es von der Milch der Ziege, von dem Mehle, das ihr der Schwarzmüller oder andere gaben, und von manchem Haupte Kohl oder Gemüse, das ihr die Leute auf Rainen oder auf Äckern auszusetzen erlaubten.

Als das Kind größer geworden war, erschien es wohl auch bei den Spielen der Kinder auf dem Platze zu Pichlern, allein es stand nur immer da und sah zu, entweder weil es nicht mitspielen durfte, oder weil es nicht mitspielen wollte. Gegen Abend ging es allein unter den Föhrenstämmen herum, oder es ging in das weiße Häuschen zurück. In Oberplan herrscht der Glaube, daß dasjenige, um was man die schmerzhafte Mutter Gottes zum guten Wasser am ersten Beichttage inbrünstig und aufrichtig bittet, in Erfüllung gehen werde. Der erste Beichttag der Kinder ist aber immer vor Ostern, dem wichtigsten Feste des ganzen Jahres. So wichtig ist das Fest, daß die Sonne an demselben nicht wie an jedem andern Tage langsam aufgeht, sondern in drei freudenreichen Sprüngen über die Berge empor hüpft. An diesem Feste bekommen die Leute schöne Kleider, die frischen Fahnen und Kirchenbehänge werden ausgelegt, und die Natur feiert die Ankunft[649] des Frühlings. Damit nun auch die Kinder so rein seien wie die Kleider, die Kirchenfahnen und der Frühling, müssen diejenigen, welche zum ersten Male zur Beichte gehen, dieses vor dem Ostersonntage tun. Viele Wochen vorher werden sie schon unterrichtet und die Vorbereiteten ausgelesen. Wenn der Tag angebrochen ist, werden die Erwählten gewaschen, schön angezogen und von ihren Eltern zur Tür des Pfarrhofes geführt. Wenn der Pfarrer öffnet, dürfen die Kinder eintreten, und die Eltern gehen wieder nach Hause. In dem Innern des Pfarrhofes werden sie geordnet, und da stehen sie mäuschenstille, und jedes hat einen Zettel in der Hand, auf welchem Name und Alter steht. Wenn an einem die heilige Handlung vorüber ist, geht es zerknirscht und demütig in den Hintergrund. Wenn alle fertig sind, wird gebetet, es wird eine Anrede gehalten, und dann dürfen sie zu ihren Eltern nach Hause zurückkehren. Zum Tische des Herrn dürfen sie nach der ersten Beichte noch nicht gehen, weil dazu eine sehr große Würdigkeit gehört, die sie nur den Eltern und erwachsenen Leuten zuschreiben. Nach dem Essen gehen sie, wenn es schön ist, auf den Kreuzberg. Wie sie bei der Beichte allein waren, so dürfen nun auch schon andere Menschen mitgehen, meistens Eltern und Verwandte. Besonders gesellen sich gerne alte Mütterlein hinzu, die ebenfalls geputzt neben den Kindern gehen, sie zur Andacht ermahnen und ihnen heilige Geschichten erzählen. Man betet in dem Kirchlein, man geht auf dem Berge herum, und gegen Abend begeben sie sich wieder nach Hause. So kann dieser Tag, der der merkwürdigste ihres Lebens ist, nach und nach ausklingen, und es können sich wieder die andern gewöhnlichen anschließen.

Einen solchen ersten Beichttag hatte auch Hanna, das Kind des Weibes in dem weißen Häuschen. Das Mädchen war vorbereitet und würdig befunden worden. Am[650] Morgen führte es die Mutter auf dem ebenen Wege, der von Pichlern nach Oberplan geht, hinüber. Viele andere Menschen hatten ihre Kinder auch dahin geführt. Unter der dichten, geputzten Schar, die sich vor dem Pfarrhause versammelt hatte, stand nun auch Hanna, und aus dem groben Kleide sah das feine Angesichtchen und die blauen Äderchen heraus. Allen Mädchen waren ihre Haare von den Eltern straff zurück gekämmt worden, und es war Puder auf dieselben gestreut, damit sie schön wären und in der festlich weißen Farbe da stünden. Nur Hannas Haare waren dunkel geblieben, weil ihre Mutter keinen Puder zu kaufen vermochte. An die Hüften des Unterkleides hatte sie ihr zwei kleine, feste, längliche Puffchen angenäht, daß das darüber angelegte Röckchen doch ein wenig wegstehe und einen Reifrock mache, wie er von den andern so schön wegragte, gleichsam ein faltenreiches, sanft hinab gebogenes Rädchen. Als die Kin der in den Pfarrhof hinein gegangen waren, begab sich die Mutter wieder nach Pichlern zurück. Da die Beichte aus war, ging Hanna auf dem ebenen Feldwege nach Hause. Nach dem Essen ging sie abermals nach Oberplan, und ging mit einer Schar von Mädchen, bei denen auch keine Eltern waren, auf den Berg. Die Kinder gingen zuerst in das Kirchlein zum Gebete, wo sie in den sonnenhellen Bänken kaum mit den Häuptern hervorragten. Dann gingen sie auf den höheren Teil des Berges empor und suchten Veilchen; denn der Berg war bekannt, daß auf ihm die ersten dieser Blümchen wachsen, weil sie in dem kurzen Grase unter dem schützenden Geflechte des Wachholders einen sichern Stand haben, und die mittägliche Sonne auf dem Abhange des Berges leicht auf sie scheinen kann. Dann suchten sie auch Steinchen und andere Dinge und kamen bis zu dem roten Kreuze empor. Von dem Kreuze gingen sie zu den Brunnenhäuschen hinab. Sie schöpften sich Wasser und benetzten sich die Lippen,[651] die Stirne und die Augenlider. Als der Abend erschienen war, gingen manche, bei denen sich ihre Eltern befanden, nach Hause; andere aber, die allein waren, blieben noch; denn die Kinder haben keine Rechnung der Zeit und geben sich dem Augenblicke unbedingt hin. Einige Mädchen, worunter auch Hanna war, gingen gar gegen die Felsen der Milchbäuerin zu und setzten sich dort auf die Steine. Es hatte den ganzen Tag die Sonne auf die Felsen geschienen, daß sich die Wärme in ihnen ansammeln und länger nachhalten konnte als an irgendeiner andern Stelle des Berges. Die Pflänzchen schauten aus den bebauten Pflanzbeeten am Fuße der Felsen schon heraus, über der Gegend war ein leichter grüner Hauch, und die Kinder erkannten recht gut diese Verheißung. Sie blieben sitzen, manches der Mädchen nahm die Hand seiner Nachbarin, legte sie an den Stein und sagte: »Siehe nur, wie warm er ist.«

Als die Sonne schon hinter dem Rande des Waldes hinab gegangen war, fragte eines der Mädchen ein anderes: »Um was hast du denn heute die heilige Jungfrau gebeten, Elisabeth?«

»Ich habe sie um ein langes Leben und um eine gute Aufführung gebeten«, antwortete die Gefragte.

»Und um was hast denn du gebeten, Veronika?«

»Ich habe auch um einen guten Lebenswandel gebeten«, sagte diese.

»Und du, Agnes?«

»Ich habe um gar nichts gebeten.« »Und du, Cäcilia?«

»Ich auch nicht, mir ist nichts eingefallen.« »Und du, Hanna?«

»Ich werde etwas sehr Schönes und sehr Ausgezeichnetes bekommen,« sagte diese, »denn als ich zu der heiligen Jungfrau recht inbrünstig betete und das feste seidene Kleid sah, das sie anhat, und die goldenen Flimmer, die[652] an feinen Fäden am Saume des Kleides hängen, und die grünen Stängel, die darauf gewebt sind, und die silbernen Blumen, die an den grünen Stängeln sind, und da ich den großen Blumenstrauß von Silber und Seide sah, den die Jungfrau in der Hand hat, und von dem die breiten weißen Bänder nieder gehen: da erblickte ich, wie sie mich ansah und auf die goldenen Flimmer, auf die Blätter, auf die Stängel und auf die Bänder nieder wies.«

»Geh, du bist nicht recht vernünftig«, sagte eines der Mädchen.

»Ich bin doch vernünftig, und werde die Sachen bekommen«, antwortete Hanna.

Die Kinder fing es an zu schauern, und da die Dämmerung auch schon sehr stark herein zu brechen begann, gingen sie allmählich nach Hause. Einige gingen um die Wölbung des Berges herum nach Oberplan; aber Hanna ging über den Berg nach Pichlern. Sie ging an den grauen, kaum mehr recht sichtbaren Steinen vorbei, an den schwarzen Wachholderstauden, an den dunkeln Föhrenstämmen, und kam in das weiße Häuschen, als auf der Leuchte schon das helle Feuer brannte und ihr ihre Mutter daran eine Suppe kochte.

Von dieser Zeit an wuchs Hanna heran und entwickelte sich immer mehr und mehr.

Sie ging noch in die Schule, sie ging immer allein, und wenn sie zum Lesen aufgerufen wurde, stand sie sittsam auf und erhob die Stimme.

Sie hatte immer ein weißes, leinenes Tüchlein um den Busen, auf welches ihre dunkeln Augen hinab schauten und ihre noch dunkleren Wimpern hinab zielten. Um das Haupt hatte sie ein färbiges Tuch gebunden, das nach der Sitte der Gegend im Nacken in einen Knopf gewunden war und die breiten Zipfel auf den Rücken hinab gehen ließ. Als Röcklein hatte sie dasjenige an, das sie bisher immer angehabt hatte.[653]

Als sie erwachsen und so groß war wie die andern Mädchen von Pichlern, die man für erwachsen erklärte, ging sie nicht mehr in die Schule, und war meistens in dem weißen Häuschen ihrer Mutter. Man wußte nicht, ob sie dort etwas arbeitete, oder was sie sonst tat. Wenn sie aber doch mit den Leuten des Müllers auf die Wiese Heu zu rechen, oder sonst irgend wohin ging, war sie nicht wie die andern, sondern wie eine, die am Sonntage aus der Kirche geht. Sie gab sehr Acht, daß sie sich nicht beschmutze, und wich mit ihren Füßen den rauhen Stellen und der Nässe aus. Seit sie erwachsen war, ging sie auch nicht mehr barfuß, sondern hatte immer Strümpfe und Schuhe an, die besser waren, als die andern an Feiertagen hatten.

Obwohl sie sehr wenig gesehen wurde, so ward die zarte Schönheit ihrer Wangen und der Glanz ihrer Augen doch weit und breit bekannt, und mancher Wandersmann, den man durch die Föhren gehen sah, ging ihretwegen, und manches Lied, das nachts in der Gegend erschallte, wurde ihretwegen gesungen. Selbst Söhne reicher Bauern waren darunter, und wenn auch ihre Eltern dachten, das arme Mädchen könne keine Schwiegertochter abgeben, so meinten die Söhne, daß sie eine sehr gute Schwiegertochter wäre, und hielten es für ein Glück, wenn sie nur einmal mit ihr an dem Holzstoße vor dem Häuschen oder unter den grauen Wachholderstauden des Berges reden und von ihr zärtliche Worte und freundliche Blicke erhalten könnten.

Aber das Glück wurde keinem zu Teil, außer einem einzigen. Er war nicht der Schönste unter allen, ja er war vielleicht weniger schön als alle andern, er war ein schlanker Mann mit blitzenden Augen und ungemeiner Kraft in seinem Körper, und die Leute sagten, Hanna fürchte und liebe ihn. Er war ein Holzknecht in den oberen Wäldern, der lange Hanns geheißen, aber er war sehr ehrbegierig[654] und stolz, arbeitete tüchtig, trug Sonntags schöne Kleider, klimperte mit dem Gelde in der Tasche, und litt keinen Schimpf und Hohn, wie gering er auch war, sondern nahm den Schimpfenden an dem Kragen des Hemdes oder an der Schulter und warf ihn in das Gras, oder in den Sand, oder in eine Rinne, wie es kam. Dieser Hanns ging oft in das weiße Häuschen zu Hanna, er brachte ihr alles, was er erarbeiten konnte, daß sie nichts entbehre und ihren Leib schmücken könne. Die Leute behaupteten, sie sei auch dankbar, indem sie sagten, daß sie gesehen hätten, wie sie neben den grauen Steinen und grauen Sträuchen ihre Arme um ihn geschlungen und mit ihren Lippen ihn geküßt hätte.

So war es auch, Hanns hatte selber kein Hehl darüber, er ging immer zu Hanna, und alle Menschen wußten, daß sie Liebende und Geliebte seien.

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, Wiesbaden 1959, S. 639-655.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Studien
Studien
Studien
Gesammelte Werke in fünf Bänden / Die Mappe meines Urgroßvaters: Studien 1840-1841
Gesammelte Werke in fünf Bänden / Brigitta: Studien 1842-1845

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon