Die Edelsteine

[245] Ihr wißt vom Blitze eine graue Märe,

Der im granitnen Leibe des Giganten,

Herabgeschleudert aus azurner Sphäre,

Zum Strahl verkörpert ward des Diamanten.


Doch wie entsprungen in des Berges Minen

Granaten, Amethyst' und Crysolithe,

Agath', Saphir', Topasen und Rubinen,

Des will ich künden euch die andre Mythe.


Als einst der Herr gemalt den Regenbogen

Mit buntem Schmelze aller Trikoloren,

Als Riesenbuchstab im Azur gezogen,

Gewoben aus der Liebe Meteoren,


Da sprach ein Cherub zu dem Herrn der Erde:

»Was frommt Jehova dieser Farben Blendung,

Wenn auf des Bergs porphyrnem Feuerherde

Der Strahl verflüchtet deiner Gnadensendung?«


»Willst du der Welt ein ewig' Zeichen stiften,

So laß die Glut zum Körper sich versteinen,

Daß aus der Erde mitternächt'gen Triften

Die Sonnenfarben deiner Liebe scheinen.«


Da senkt der Herr des Bogens bunte Spitze

Tief in des Berges fels'gen Riesennacken,

Bis sich versteint das bunte Kind der Blitze

In millionenfarb'gen Edelschlacken.


Da ward aus Rot der Purpur der Granate,

Der Chrysolith aus meeresgrünem Tau,

Aus reinem Weiß der Milchstoff der Agathe

Und der Saphir aus lichtem Himmelsblau.


In Rosenfarb' ist der Rubin entglommen

Und der Topas im feuergelben Scheine,

In Violet der Amethyst verschwommen;

Das ist der Stammbaum jener Edelsteine.

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 245-246.
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