69. Wie man zu der unendlichen Liebe Gottes ein gutes Herz fassen soll

[488] Mel.: Psalm 84. Lobw.


1.

Gott, wer dich kennet, liebet dich,

Vergisset Kreatur und sich

Und muß sich ewig dir vertrauen.

Wie machen's deine Kinder doch? –

Sie tragen kümmerlich dein Joch,

Weil sie sich selbst, nicht dich, anschauen.

Wir sind zu uns gekrümmet fast

Und machen deinen Dienst zur Last.


2.

Es schwebt uns unser Leid nur vor,

Wir heben uns nicht g'nug empor

Zum süßen Heiland unsrer Schmerzen,

Zu dir, der nichts als Freundlichkeit

Von Ewigkeit zu Ewigkeit

Zu uns gehegt in seinem Herzen.

Aus Liebe hast du uns gemacht

Und eitel Liebe zugedacht.


3.

Du bist dir g'nug, du selig's Gut,

Das ewig in sich selber ruht;

Dein freies Lieben uns doch wollte

Zum Bild der Lieb' sehn neben dir

Zu deiner ew'gen Lust und Zier,

Das dich nur schaun und lieben sollte.[489]

Warum ist Herz und Auge nicht

So unverwandt auf dich gericht't?


4.

Aus Liebe und Erbarmen bloß

Gabst du den Sohn aus deinem Schoß,

Uns aus dem Pfuhl zum Schoß zu heben;

Aus Liebe kam der große Held

Und trug die Sünd' der ganzen Welt,

Sein Blut gab er für unser Leben.

O Wunderlieb, o bittrer Schmerz,

Wie, haben wir denn noch kein Herz!


5.

Du beutst nun allen Sündern Gnad',

Du weißt für allen Schaden Rat,

Du trägest und hilfst auf den Schwachen,

Dem ärmsten Kinde bist du nah,

Wenn man dich sucht, so bist du da.

Man lasse dich nur mit sich machen

Und kehre sich in dich allein

Mit Liebe und Vertrauen ein.


6.

Nur Liebe ist es, die uns trägt,

Die uns nach Leib und Seele pflegt,

Von ihr kommt's, was uns je begegnet.

Es wird kein Härlein uns gekränkt,

Nur Liebe ist, die es lenkt,

Es muß uns sein zum Ziel gesegnet;

Wenngleich die Schale bitter schmeckt,

Der Liebeskern inwendig steckt.
[490]

7.

Ach, sähen wir die treue Hand,

Die so viel Schaden abgewandt

Und so viel tausend Gutes giebet,

Das Aug', das alles wohl regiert

Und uns jetzt so, bald anders führt,

Das Herz, das uns so zärtlich liebet,

Wir würden wie die Kindlein tun

Und sanft im Schoß der Mutter ruhn.


8.

Ein Kind ist seiner Mutter Lust,

Sie nährt es selbst aus ihrer Brust,

Ermüdet nicht im Sorg'n und Tragen.

So liebst du einen jeden, Herr,

Als wenn nur er dein Liebling wär;

Drum können wir's auf dich nur wagen,

Wir sollen süßvertraulich sein,

Dich, Lieb', ansehn und uns erfreun.


9.

Komm, reine Glut, mich ganz entzünd,

Die düstre Furcht, den Greu'l der Sünd',

Das Gift der Eigenlieb' vertreibe!

Komm, Gotteslieb', dich völlig schenk,

Daß ich für mich nicht sorg' noch denk'

Und kindlich dir ergeben bleibe,

In süßer Unschuld dich nur schau

Und mich unendlich dir vertrau!

Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 488-491.
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