Bange Zweifel

[634] Das Korn steht hoch und seine Ähren blüh'n;

Mit zarten Halmen sprießt der junge Haber;

Es strotzt der Weizen, üppig, dunkelgrün;

Man sieht mit Freude rings den Segen – aber –
[634]

Ein Seufzer ringt sich doch dem Deutschen los.

's ist ja recht schön und gut, wenn wir im Frieden

Den Reichtum ernten, den der Mutterschoß

Der Erde gab. Indessen – tja – vermieden


Wir nicht am Ende doch den heil'chen Krieg

Zum Schaden uns'rer nazjonalen Ehre??

Die Frage ist, ob das Prestiesche stieg,

Ob es nicht fiel trotz uns'rer scharfen Wehre?


Wir lassen rings um diese schöne Welt

Das trotzig blaue deutsche Auge rollen;

Versteht man auch – die Frage ist gestellt –,

Daß wir mal anders können, wenn wir wollen?


Wie steht's in Asjen mit der Bagdadbahn?

Was macht in China uns're Einflußsphäre?

Hegt irgendeine Großmacht diesen Wahn,

Daß an der Sonne unser Platz nicht wäre?


Herrscht links und rechts von uns, herrscht überall

Die rechte Ehrfurcht vor der deutschen Größe?

Sonst nämlich braust ein Ruf wie Donnerhall,

Und 's wäre Zeit, daß man das Schwert entblöße.


Die deutsche Tatkraft ist just zentenar,

Auch Richard Wachner ward uns ja geboren,

Und jeder ächte Deutsche fühlt, er war,

Er ist und bleibt zum Höchsten auserkoren.


Man trinkt sein Bier. Die heil'che Flamme glüht,

Sie greift um sich in rasender Verbreitung,

Denn jeglicher Gedanke, der hier sprüht,

Ist ein Extrakt aus abonnierter Zeitung.

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 634-635.
Lizenz:
Kategorien: