Verwandlung

[693] Nun sieh einmal die schöne Wiese,

Den kunterbunten Blumenflor!

Bald jene gelb, bald rötlich diese –

Es kommt uns alles lieblich vor.


Man wird die Blumen morgen mähen;

Dann sind sie Heu – daß Gott erbarm!

Und können bloß das Rindvieh blähen

Auf ihrem Wege durch den Darm.


Wenn sie – verzeiht! – am Schlusse werden

Zum breiig weichen Kühedreck,

So frag' ich mich: Ist das auf Erden

Das Los des Schönen und sein Zweck?


Und sehen wir nicht auch das Gleiche

Bei vielem, was ein Dichter schuf?[693]

Man reißt's aus dem Ideenreiche

Und gibt es Leuten von Beruf.


Dann frißt's der Lit'raturprofesser,

Gibt's wieder her mit Kommentar,

Und glaubt dabei, es sei noch besser

Und sei noch schöner, wie es war.

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 693-694.
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