|
[242] Als Sylvester in Nußbach ausstieg und mit langsamen Schritten den Bahnhof verließ, sagte er sich die Rede vor, welche er seit Monaten ausgedacht hatte. Sie sollte die Kraft haben, die alte Veronika Mang von ihren Wünschen abzubringen. Darum war sie sehr lang, hatte eine schöne Einleitung und einen guten Schluß und war auch mit Beispielen und Beweisen ausgestattet.
Sylvester hegte oft Vertrauen zu den wohlgefügten Sätzen, und ebenso oft verzweifelte er an ihnen.
»Ich habe dir eigentlich schreiben wollen, aber ich meinte, es läßt sich besser mündlich sagen. Ich habe einen Entschluß gefaßt, der für mein Leben entscheidend ist, und du mußt das Vertrauen zu mir haben, daß ich ihn gut überlegt habe.«
Wenn er so anfing, was würde die Mutter tun? Wahrscheinlich erschrecken über den feierlichen Ton und schon nach den ersten Worten den Kopf verlieren und nichts von dem verstehen, was später käme.
Oder wenn er ihre Hand in der seinigen hielt und sagte: »Gelt, Mutter, ich war dir alleweil ein folgsamer Sohn, und du weißt, daß ich dir dankbar bin, und daran mußt du denken, wenn ich dir etwas gestehe.«
Dann würde sie hastig sagen: Ja, ja, und um Gottes willen, ist dir was geschehen?
Und aus allen Worten und Beweisen würde sie nur das eine heraus hören, daß ihre geträumte Welt der Herrlichkeiten versinke.[242]
»Aber, wenn nur der Anfang gemacht war!« dachte Sylvester. Ihre Vorwürfe wollte er gerne hinnehmen, und er würde sie überzeugen, daß sein Glück nicht ihr Unglück machen könne.
So ging er in Gedanken verloren über den Nußbacher Marktplatz zum Sternbräu. Er bat den Hausknecht, daß er ihm den Koffer an der Bahn abhole und mit einer Gelegenheit nach Erlbach schicke.
»Is scho recht,« sagte der Martin. »Woll'n Sie net nausfahren? Der Haberlschneider is herin; der hätt' g'wiß an Platz.«
»Dank' schön; ich geh' lieber bei dem Wetter.« Sylvester lüftete den Hut und schritt in den schönen Tag hinein. Er sah nicht rechts und nicht links und nicht auf die Stelle, wo Jakobos Prantl stand.
Der sah ihm mit finsterer Miene nach.
»Aha! Grüßt mich auch nimmer!« sagte er. »No, von mir aus!«
Und doch tat es ihm leid, daß dieser Jüngling achtlos an ihm vorüberging.
Denn er hatte eine freundschaftliche Neigung zu ihm gefaßt. Vor Jahren, als der Gymnasiast Mang in seine Werkstätte kam und sich das Maß zu einem Paar Stiefel nehmen ließ.
Damals hatte er zum Erstaunen des Lehrlings lateinische Worte mit ihm gewechselt. Er fragte ihn nach der altitudo, wie hoch er die Schäfte haben wolle, und nach der latitudo, wie breit die Absätze sein sollten.
Als er merkte, daß der junge Mensch über so viel Gelehrsamkeit staunte, sagte er: »Ego eram discipulus.« Auch ich war ein Schüler.
Und er zeigte ihm die erste Seite des Maßbuches, worauf mit griechischen Buchstaben geschrieben stand:
Ιακοβος Πραντλ, σχουστερ.
Wenn es schön ist, in den Augen eines andern zu lesen: »Du bist verkannt und gehörst an einen besseren Platz,« so genoß damals Prantl diese bittersüße Freude, und er hielt sie fest bis zum Schlusse.
Bis Sylvester mit einer höflichen Verbeugung die Tür öffnete und er ihm nachrief: »Vale, amice!«
Leben Sie wohl, mein Freund!
Seit jenem Tage blieb Prantl dem Erlbacher Gymnasiasten ein[243] wohlgeneigter Gönner. Wenn dieser in die Ferien ging oder aus den Ferien kam, führte ihn sein Weg durch Nußbach, und da niemand durch Nußbach gelangte, ohne dem gelehrten Schuhmacher zu begegnen, so hatte Prantl oft Gelegenheit, Sylvester nach dem Stande der Wissenschaft zu fragen.
Und jetzt ging dieser junge Mensch ohne Gruß vorbei und tat, als hätte er sich niemals treffliche Ratschläge von ihm erholt.
Natürlich, weil er Geistlicher wurde und den Haß teilte, mit dem alle Kleriker den Nußbacher Volksmann heimsuchten.
»Aber mir is wurscht,« sagte Prantl.
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute über den Marktplatz.
Aus dem Amtsgerichte kamen Leute; etliche Burschen, die sich lärmend unterhielten.
Einer sagte: »Dem Weibsbild hon i's hing'sagt. De hat g'schaugt! De hat g'moant, es braucht nix, wia klag'n.«
Es war der Hierangl Xaver mit seinen Freunden.
Prantl achtete nicht auf ihn; er sah einen Bekannten, den Haberlschneider von Erlbach.
Der kam auch aus dem Amtsgerichte, und neben ihm ging ein junges Frauenzimmer.
Prantl grüßte.
»Du, hast net Zeit? I hab' was z' reden mit dir.«
Der Haberlschneider sagte zu dem Mädel:
»Gehst zu'n Sternbräu eini, Urschula; i kimm glei nach.«
Und dann fragte er den Schuster.
»Was willst?«
»Was is denn mit eurer Markgenossenschaft? Hamm sie neue Leut' eing'schrieben?«
»Net, daß i woaß. Jetzt is koa Zeit für so was. Hat a jeder z' viel Arbet.«
»Ja no, i hab' aa Arbet! Und da Schuller? Is er no net dabei?«
»Na, mit dem is jetzt nix z' macha.«
»Er is do von de Bündler zum Bürgermoasta g'wählt wor'n!«
»Dös is er nimmer. Du woaßt, was da geb'n hat.«
»Warum hat er die Sach' net der Presse übergeben?«
»So was hängt koana an de groß' Glocken.«
»Das is eben. Überhaupts is die Stimmung zu lau. Hast mein' Artikel g'lesen?«[244]
»Welchan?«
»Über die politische Gleichgültigkeit des Bauernstandes. Daß darin die ganze Macht des Klerus liegt.«
»Dös hab' i net g'lesen. I les' jetzt koa Zeitung. Für dös is der Winter do.«
»Mit solchene Ansichten soll ma was ausrichten!«
»Dös muaßt ei'sehg'n, Prantl, bal du den ganzen Tag g'ackert hätt'st, mög'st auf d' Nacht aa nix mehr lesen.«
»Was soll aber dös wer'n? Mir könna net in a paar Monat den Einfluß des Klerus bewältigen. Für was schreib'n denn mir de Artikel?«
»De andern lesen aa nix; de, wo schwarz san.«
»Da Klerus braucht die Presse nicht, der hat d' Kanzel und an Beichtstuhl.«
»Ja no!«
»Und daß da Schuller koa Vertrauen auf die Presse hat! Mir hamm do de G'schicht mit dem Kind' sofort durchgedrückt.«
»Du moanst dös weg'n da Tauf'?«
»Ja. Hat der Pfarrer vielleicht net nachgeben?«
»Dös hat er schon müassen. De Obern wer'n's eahm g'muckt hamm.«
»Und de Obern fürchten eben die öffentliche Meinung.«
»Vielleicht hast recht. Jetzt pfüat di; i muaß zu'n Sternbräu eini.«
»Was hast denn für a Weibsbild dabei?«
»Dös is an Schuller sei Tochter.«
»Von der dös Kind is? Da sollt' i eigentli mit ihr reden. Vielleicht schreib' i no was ins Wochenblatt!«
»Na, tua dös it! Da is scho g'nua drin g'standen.«
»Wenn'st net willst, laßt's as bleib'n! I hab' nix davo. Höchstens d' Arbet.«
Prantl sah dem Haberlschneider nach.
»Dös san bornierte Dickschädel!« sagte er. »Da hat der Klerus freili a leicht's Spiel.«
Der Haberlschneider traf die Ursula in der Gaststube. Sie saß am hintersten Tisch und hatte ihren Korb neben sich hingestellt.
»Hast scho was o'gschafft?«
»Na; i hab' ma denkt, i wart'.«[245]
»Nacha zwoa Halbe, Kellnerin! Und für a jed's a paar Stockwürscht!«
Er setzte sich.
»Da wer'n ma no öfter eina fahr'n müassen, Urschula,« sagte er.
»Ja.«
»Der gibt it nach, bis er net verurteilt werd.«
»Na.«
»An Advokat'n nimmt er, hat er g'sagt.«
»Ja.«
Die Kellnerin brachte Bier und Würste.
Ursula schnitt bedächtig eine Scheibe nach der andern ab.
»Mir wern sehg'n, was ma tean,« sagte der Haberlschneider. »Bal sei Advokat recht aufdraht, nehma mir aa oan.«
»Ja.«
Eine Zeitlang schwiegen alle zwei.
Ursula trank ein paarmal und schaute nach jedem Schlucke geradeaus.
Sie überdachte jetzt, was ihr den Vormittag geschehen war. Und wurde redseliger.
»Wia'r a sag'n ko, daß i's mit'n Zwerger Hans g'habt ho? Dös is ganz ausg'schamt. Über de falsche Anschuldigung muaß er g'straft wer'n. I hon überhaupts mit'n Zwerger Hans nia nix g'habt.«
»Und an Strixner Peter hat er aa o'geb'n,« sagte der Haberlschneider.
»Mit dem bin i oamal von der Tanzmusi hoam ganga. Dös is aber scho a halb's Jahr g'wen, vor da Xaver ans Kammerfenschta kemma is. Und überhaupts hon i mit'n Strixner Peter gar nix sellas it g'red't. I hab' dös it denkt, daß i mi ei'laß mit oan. Mit'n Xaver aa net, bal er mir's Heirat'n it g'hoaßen hätt'. Er is unter mein Fenschta g'stanna und hat pfiffa, und i hab' außa g'schaugt und hab g'fragt, wer is denn? Sei staad, hat er g'sagt, i bin's, und bal'st ma'r aufmachst, hat er g'sagt, nacha brauchst di gar nix bekümmern, und 's Heirat'n is da g'wiß, und bei da Hollerstaud'n hat er g'sagt, i brauch' mi durchaus gar nix bekümmern, und jetzt bracht er an Strixner Peter daher und an Zwerger Hans!«
»De müassen schwören, Urschula. Und da wer'n mir nacha scho sehg'n, ob da Xaver dös behaupten derf.«[246]
»Er ko gar nix behaupt'n. Und dös hat er aa fürbracht, daß mi d' Weßbrunner Dirn' bei der Dunkelheit g'sehg'n hat am Schneiderhölzl mit an Mannsbild. Und sie hat g'sagt, sie hat mi kennt, an mein' roten Spenser. Dös is ganz frech. I hab' überhaupts koan rot'n Spenser gar nia g'habt. Dös muaß sie aufweisen, ob i scho amal an roten Spenser g'habt hab'.«
»Jetzt zahl' i; mir müassen fahr'n, Urschula.«
»Soll ma net no'mal aufs G'richt umi und dös sag'n, daß i koan roten Spenser it hab'? I hätt's scho glei g'sagt, aba i hab' mi nimmer auskennt, weil da Xaver gar so unverschämt g'log'n hat. Moanst it, mir soll'n umi geh' und dös schreib'n lassen, daß i koan roten Spenser überhaupt it hab'?«
»Dös hat jetzt koan Wert it.«
»Net?«
»Dös ko'st bei da Verhandlung fürbringa, da hoscht no Zeit g'nua.«
»D' Muatta ko's aufweisen, und der Vater aa.«
»Den laßt aus 'n G'spiel!«
»Aba er kunnt do an Zeug'n macha, ob er mi scho amal g'sehg'n hat mit an roten Spenser.«
»Moanst, der stellt si mit'n Xaver vors G'richt? Na, mei Liaba, und wann i du waar, redet' i dahoam ganz weni von da Verhandlung.«
»Bal d' Weßbrunner Dirn' so frech is und sagt, sie hat mi kennt an mein' roten Spenser!«
Der Haberlschneider zahlte, und bald rasselte sein Wagen über das Nußbacher Pflaster.
Beim Unterbräu saßen Leute am Fenster. Sie wandten die Köpfe, als sie das Fuhrwerk hörten.
Einer öffnete das Fenster und pfiff gellend durch die Finger.
Die anderen schrien und lachten.
»Dös is da Xaver g'wen,« sagte Ursula.
»I hab'n scho g'sehg'n,« erwiderte der Haberlschneider, »den Lausbuab'n. Schaug' it um, sinscht plärren s' no besser!«
Er ließ seinen Schimmel einen guten Trab anschlagen und hielt fleißig Umschau, wie die Wintersaat keime.
Die Ursula hielt ihren Korb auf dem Schoße und dachte darüber nach, wie ihr der Xaver jetzt allen Spott antue. Und allmählich kamen ihre Gedanken wieder auf die Weßbrunner[247] Dirn, die gar so frech log und gewiß eine Absicht dabei hatte.
Hinterhalb Pettenbach holten sie einen städtisch gekleideten Mann ein.
»Dös is ja der Herr Mang,« sagte der Haberlschneider. »Öh, brr!«
Er wartete, bis Sylvester herankam.
»Grüß Gott! Mögen S' net aufsitzen?«
»Ich dank' schön, Haberlschneider, es is nimmer weit.«
»Wie S' moana. Nacha adje!«
Als Sylvester auf die letzte Höhe kam und Erlbach vor sich liegen sah, ging er frischer voran.
Beim ersten Haus grüßte er den Weiß Flori, der im Garten arbeitete.
Dann bog er in die Dorfgasse ein.
Es war ihm, als hätte er seit Jahren die Heimat nicht mehr gesehen.
Alles war so, wie er es vor wenigen Monaten verlassen hatte, und doch schien es ihm gänzlich verändert.
Da vorne war das Schulhaus; an der Gartentüre standen zwei Männer.
Wie er näher kam, erkannte er sie; den alten Lehrer und Herrn Sitzberger. Jetzt sahen sie ihn. Stegmüller winkte ihm; der Kooperator aber wandte sich um und ging eilig in die Nebengasse.
»Ja, Grüß Gott, Herr Sylvester! Sieht man Sie auch mal wieder?«
»Grüß Gott, Herr Lehrer, und wie geht's Ihnen?«
»Wie's halt geht, wenn man alt ist. D' Mutter hat's auch bös g'habt, gelt?«
»War sie krank?«
»Hamm Sie das net g'wußt?«
»Nein, kein Wort.«
»Sie brauchen net erschrecken, es geht ihr schon wieder besser, aber eine Zeit war 's net gut d'ran.«
»Ja, dann entschuldigen ...«
»Ich darf Sie net aufhalten. Adieu und b'suchen S' mich die nächsten Tag'!«
Sylvester eilte weg.[248]
Die Nachricht hatte ihn bestürzt.
Die Mutter schrieb ihm so selten, daß er sich keinen Gedanken darüber machte, als in der letzten Zeit die Briefe ganz ausblieben.
Da hatte er jetzt immer um sich gesorgt, und derweil lag seine alte Mutter schwer krank daheim.
Scham und Angst überkamen ihn, und sein Herz schlug rascher, als er in das kleine Haus trat und die Stubentüre aufklinkte.
»Ja, kimmst du jetzt daher?«
Die Mutter stand schwerfällig vom Stuhle auf und ging ihm entgegen.
»I hab' mir denkt, du kimmst auf'n Abend mit der Post?«
Die Stimme hatte den alten Klang nicht mehr; und wenn die Augen auch lachten, konnte sie doch die Müdigkeit nicht verbergen.
»Mutter, warum hast du mir keine Nachricht geben?«
»Wegen der Krankheit? Ach, geh! Dös is scho wieder rum. Bist z' Fuaß raus ganga, weil d' Stiefel so staubig san?«
»Ja. Aber setz' dich doch! Warum hast mir nicht schreiben lassen?«
»Es is ja wieder gut wor'n. I bin froh, daß d' net früher kemma bist; da hätt' i dir gar it recht Grüß Gott sag'n kinna.«
»Von fremde Leut' muß ich hören, daß du krank warst!«
»Es is ja nix g'wesen. Des sell hon i scho öfter g'habt, daß mir d' Füaß aufg'schwollen san. Heuer is halt a bissel stärker g'wen. Jetzt sag amal, hast koan Hunger?«
»Nein, Mutter. Und was sagt denn der Doktor? Darfst du schon auf sein?«
»Freili. Im Bett bin i überhaupts bloß zwoa Wochen lang g'legen, und wenns Wetta schö g'wen is, hab' i mi außi setzen derfen.« – »Du schaust aber so müd' aus.«
»Dös vergeht scho. Mit sechz'g Jahr' bringt ma r'a Krankheit net so schnell weg.«
Die Weberin trat ein.
»'ß Good, Herr Sylvester, dös is recht, daß S' da san. Was sagen S' zu der Muatta?«
»So schwach kommt s' mir vor.«
»Dös hoaßt jetzt nimmer viel, aber vor drei Wocha hätten S' as sehg'n müassen!«[249]
»Geh, red it a so daher!« unterbrach sie die Mangin, »muaßt du's no ärger macha? Hamm mir nix dahoam zum Essen? Er is z' Fuaß außaganga.«
»I müaßt eahm halt an Schmarr'n kocha.«
»Dös tuast.«
»Aber ich brauch' wirklich nichts, Mutter.«
»Du magst scho was. Geh zua, Weberin, und schleun' di a bissel!«
Wie sie nun wieder allein war mit ihrem Sohn, sagte die alte Veronika:
»So, Bua, jetzt setz di her zu mir! Wia geht's dir denn? Es kimmt mir g'rad so vor, als wenn'st no g'wachsen waarst. Und so ernst bist wor'n. Es feit dir do nix?«
»Nein, Mutter, was soll mir fehlen?«
»Junge Leut' könna aa krank wer'n, und studieren hast aa fleißi müassen. Z' Weihnachten hast gar it hoam derfen.«
Sylvester wurde rot.
Da meinte die Mutter, es sei ihm doch recht warm geworden beim Gehen. Und ob er sich nicht erhitzt habe.
So fragte sie ihn weiter, und aus jeder Frage klang die herzliche Freude, daß er nun dasaß, ihr gegenüber in der kleinen Stube.
Sie legte ihre Hand auf die seine, und Sylvester sah traurig, wie sie abgemagert war.
Aber sie wehrte seine Fragen ab und ließ es nicht gelten, daß ihre Krankheit gefährlich war.
»Und bist no allaweil guat aufg'hoben bei da Frau Rottenfußer? Und der Herr wohnt aa no dort, von dem's d' ma g'schrieb'n hast? Der a Freund vom Herrn Held g'wen is?«
Wie hätte Sylvester jetzt sein Geständnis ablegen können? Er dachte nicht mehr daran. Über den Sorgen um die Mutter hatte er die eigenen vergessen. Und wie er nun allmählich die Hoffnung schöpfte, daß sie wirklich auf dem Wege der Besserung sei, überkam ihn ein rechtes Behagen an der Heimat.
Und eines fiel ihm auf.
Die Mutter erkundigte sich nach allem; aber was sonst ihre erste Frage war, ob er nun bald die Weihen erhalte, und wie lange es noch dauere bis zur letzten, die ihn zum Priester mache, die Frage stellte sie heute nicht.[250]
Ja, manchmal schien es ihm, als vermeide sie es absichtlich, davon zu reden.
Er hütete sich vor jedem Wort, das darauf hinführen konnte, und freute sich der Stunde, die ihm die Liebe seiner alten Mutter zeigte.
»Und jetzt laß dir's schmeck'n, Bua,« sagte sie, als die Weberin das Essen brachte. Er griff tüchtig zu. Der Marsch hatte ihm Hunger gemacht. Wie er fertig war, lachte sie fröhlich.
»No, vergelt's Gott, Bua, an guat'n Appetit hast allawei no.«
Die Weberin mahnte sie, daß ihr der Doktor ein paar Stunden Schlaf für den Nachmittag verordnet habe, und Sylvester bat eifrig, sie müsse folgen. Er wolle im Dorf herumgehen und Bekannte grüßen. Am Abend könnten sie wieder miteinander reden.
Die Mutter gab nach, und Sylvester ging.
Als er durch den Garten schritt, lief ihm die Weberin nach.
»Heut' is sie guat beinand,« sagte sie, »aber Obacht muaß s' geb'n, hat der Doktor g'sagt. 's Herz is so schwach.«
»Aber er sagt, sie wird wieder?«
»Ja. Bal's im Fruahjahr so weiter geht, ko sie si z'sammklaub'n, sagt er.«
»Ich geh' morgen zu ihm, und frag' ihn selber.«
»Und reden S' der Muatta recht zu, daß s' folgt! Sie will's allawei net glaub'n.«
»Warum haben Sie mir keine Nachricht geben?«
»I hätt' an Herrn Stegmüller bitt', daß er Eahna schreibt, aber sie hat's durchaus net erlaubt.«
»Hat sie Schmerzen ausstehen müssen?«
»G'sagt hat s' nix. Sie is überhaupts so dasig g'wen.«
»Müd' sieht sie aus.«
»Gel? So verzagt! D' Bäcker Ulrich Marie moant, de Nachricht, wo ihr der Herr Sitzberger geb'n hat, hätt s' so verzagt g'macht.«
»Welche Nachricht?«
»I bin net dabei g'wen, natürli. Aber von Eahna soll er g'red't hamm.«
»Von mir?«
»Ja, daß Sie nimmer geistli wer'n.«
»Das hat der Herr Kooperator gesagt?«[251]
»I hab's selm net g'hört, aber er is öfter im Haus g'wen und d' Bäcker Ulrich Marie sagt, sie woaß's g'wiß.«
»Und was hat meine Mutter g'sagt?«
»Zu mir nix. Sie hat bloß so für si hin g'redt, aber staad, daß i nix g'hört hab'. Is denn dös wahr, bleib'n Sie net dabei, Herr Sylvester?« Die Weberin erhielt keine Antwort.
Sylvester ging weg, stillschweigend und ohne Gruß.
Jetzt wußte er, daß seine Mutter mit Absicht die Frage vermieden hatte. Wollte sie an der Hoffnung festhalten und sie nicht zerstören lassen? Und meinte sie, das sei nur eine vorübergehende Laune von ihm, und wenn man nicht davon rede, komme er selbst davon ab?
Der Gedanke ließ ihn nicht los. Ohne es zu merken, ging er zum Dorfe hinaus, immer weiter die Weblinger Höhe hinauf.
Da setzte er sich auf den Rasen und blickte herum.
Hier war er vor Jahren mit seinem Freunde gestanden. An dem schönen Sommertag.
Er sah wieder alles lebendig vor seinen Augen. Wie sich die Halme im Winde beugten, und wie der alte Held so fröhlich auf den reichen Segen blickte.
Und er hörte die leise Stimme neben sich.
»Heute verstehst du mich nicht, parvule. Später einmal, wenn du weißt, daß aus dem Fluche ein Segen wurde. ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen‹.«
Lag nicht Reue in seinen Worten? Hatte nicht der Alte am Abend seines Lebens gemeint, es wäre ihm besser gewesen, wenn er seine Tage in Arbeit verbracht hätte? Sylvester holte tief Atem. Ihm selber drückten die Worte eine Sehnsucht aus, über die er nicht mehr Herr werden konnte.
Er wußte, daß er mit schaffen wollte. Daß er kein Glück darin fand, wie ein Fremder neben den Menschen zu wandeln, über ihren Mühen und Sorgen zu stehen und sie zu vertrösten auf eine andere Welt.
Nicht unehrerbietig dachte er darüber. Aber sein Herz schlug dem Leben entgegen, und nichts in ihm redete von Verzichten.
Hier, so mitten in der Heimat, stand ihm der Entschluß klar vor der Seele; losgelöst von heimlichen Gedanken.
Nicht ungewisse Hoffnungen durften ihm die Zukunft gestalten. Er handelte frei und tat das Notwendige.[252]
Und das wußte er hier.
Sylvester stand auf. Die Bangigkeit hatte er überwunden.
Er dachte nicht mehr daran, zögernd um die Wahrheit herumzugehen, als hätte er Schlechtes im Sinne.
Gewiß mußte er Rücksicht haben auf seine alte Mutter. Aber die zu allererst, daß er offen mit ihr redete.
Er trat rüstig den Heimweg an.
Vor dem Dorfe holte er einen Mann ein, der hinter seinen Pferden herging.
»Grüß Gott, Schuller! Alleweil g'sund?«
»Tuat's scho.«
»Wie geht's daheim?«
»Muaß scho toa.«
Sylvester wunderte sich über den abweisenden Ton. Er war in früheren Zeiten häufig beim Schuller eingekehrt.
»Die Ursula hab' ich heut' g'sehen,« begann er wieder. »Sie is an mir vorbeig'fahren.«
»So?«
»Was haben Sie denn, Schuller?«
»Nix. Derf i Eahna an Rat geb'n, Herr Mang? Gengan S' alloa und lassen S' Eahna mit mir net sehg'n. Mir passen net zuanand.«
»Ich versteh' Sie nicht.«
»Sie wer'n mi scho no versteh'. I bin so oana, dem a Geischtlicher aus'n Weg geh' muaß. Und Sie g'hören do dazua.«
Er hielt die Pferde an und machte sich am Geschirr zu schaffen.
Sylvester ging kopfschüttelnd weiter.
Die Mutter hatte ihm einmal geschrieben, daß es beim Schuller Verdruß gegeben habe, und daß er als Bürgermeister hätte abdanken müssen.
Damals hatte er flüchtig darüber weg gelesen. Jetzt erinnerte er sich daran.
Aber warum war der Schuller so unfreundlich gegen ihn? Das verstand er nicht.
Es brannte schon Licht in der Stube, als er heimkam. Die Mutter saß am Tische und lachte ihm freundlich zu.
Er schaute sie ängstlich an. Beim Kerzenschein sah ihr Gesicht leidender aus als am Tage.[253]
Und er fragte sie:
»Hast du gut g'schlafen?«
»Ja, ganz guat. Und wo bist du derweil g'wen?«
»Auf der Weblinger Höh'.«
»Hast koan B'suach g'macht? Beim Lehrer?«
»Nein, ich bin lieber ins Freie hinaus.«
»Da hast recht g'habt. 's Wetter is ja so schö.«
»Du, Mutter, ich muß dich was fragen.«
»Was nacha?«
»Der Kooperator hat dir was erzählt von mir?«
»Woher woaßt du dös?«
»D' Weberin hat mir's g'sagt.«
»De hat do ihre Ohr'n überall!«
»Aber es ist wahr?« – »Ja.«
Beide schwiegen, und es war still in dem kleinen Zimmer.
Nur die Uhr hörte man ticken.
Nach einer Weile sagte die Mutter:
»Magst it wart'n bis nach'n Essen? Sunst kimmt d' Weberin wieder eina, und de paßt oamal z' viel auf.«
»Hast du noch nicht gegessen?«
»I scho. I kriag bloß a Supp'n auf d' Nacht. Aber du!«
»Ich kann nichts essen.«
»Nacha sag's der Weberin. Sie is in der Kuchel.«
Sylvester ging hinaus. Als er zurück kam, saß die Mutter unbeweglich und schaute nachdenklich in das Licht.
»Er hat dir erzählt, daß ich nicht mehr dabei bleiben will?«
»Dös hat er g'sagt, ja. Und daß du heirat'n willst, und daß d' Musiker werst und zum Theater gehst.«
»Wie kann er so lügen?«
»Net so laut! D' Weberin hört ins.«
»Ja, und du, Mutter?«
»I hon net all's glaabt, g'rad, weil er so viel daher bracht hat.«
»Nicht alles, aber das vom Weggehen?«
»Dös scho. Weil i's schon lang' kennt hab', daß 's di net freut.«
»Du hast das g'wußt?«
»Ja; wia's d' im Herbst dag'wen bist, hon i's kennt. Und davor scho. Du hoscht oft so g'spaßig drei g'schaugt, wenn i g'red't hab', wia's amal werd. Und du hoscht mir nia recht o'geb'n.«[254]
»Warum hast du nie was g'sagt?«
»Ja mei'! Selbig'smal hon i's glaabt, und hon's net glaabt. I hab' mi selber vertröst' und hab' mir denkt, du b'sinnst di vielleicht wieder anderst. Nacha hat mir da Herr Sitzberger dös g'sagt.«
»Hast d' dich in deiner Krankheit so kümmern müssen!«
»Nix leicht's war's mir it, Bua! Aber je mehra, daß i d'rüber nachdenkt hab', desto besser hon i's ei'g'sehg'n, daß dös erst recht nix waar, wenn's d' net gern dabei waarst. Jetzt is's no koa Sünd', bal's d' weggehst. Aber danach waar's oane, wenn's d' amal ausg'weiht waarst.«
Sylvester schwieg. Da war nun die Stunde, die er so lange gefürchtet hatte. Und seine Mutter machte ihm keine Vorwürfe. Er hatte die Freiheit gewonnen ohne Kampf. Und er konnte sich nicht darüber freuen.
Die schlichten Worte erschütterten ihn.
Wie manche Nacht hatte die alte Frau keinen Schlaf gefunden, bis sie ihrem Herzenswunsch entsagte!
Und jetzt sagte sie nur, es sei ihr nicht leicht geworden.
Sie unterbrach die Stille.
»Warum hoscht net früher was g'sagt?«
»Ich hab es selber nicht gewußt. Das ist so gekommen, nach und nach.«
Er griff nach ihrer Hand, und sie ließ sie ihm.
»Schau, Mutter! Ich wär' dabei geblieben, dir zulieb. Aber es geht nicht. Ich kann nicht.«
Er legte den Kopf auf den Arm und weinte.
Sie zog sachte ihre Hand aus der seinen und strich ihm liebkosend über das Haar.
»Geh, Bua!«
Aber sie ließ ihn gewähren und dachte, das täte ihm gut. Junge Leute weinen sich die Sorgen und Schmerzen weg.
Als Sylvester sich wieder aufrichtete, sagte er noch einmal: »Dir zulieb' hab' ich dabei bleiben wollen.«
»Dös hätt' i gar it mög'n. Wia'r i so da g'leg'n bi, hon i oft denkt, du bleibst am End' dabei, so lang i leb', und bal i amal g'storb'n waar, gangst du weg. Dös hätt' mir koa Ruah it lassen.«
Und dann fragte sie:[255]
»Was hoscht nacha jetzt im Sinn?«
Sylvester erzählte ihr von seinen Plänen. Erst stockend und unsicher. Allmählich wurde er lebhaft. Die Freude an der tätigen Zukunft regte sich, und er schilderte sie in rosigen Farben.
Er komme schon bald zum Verdienst, sagte er. Der alte Schratt habe ihm eine Stellung verschafft in einem großen Handelshause in Frankfurt. Das habe Niederlagen in allen Ländern, und wer sich tüchtig zeige, komme bald vorwärts.
Und wie wollte er arbeiten! Keine Mühe sollte ihm zu viel sein, und je mehr es zu schaffen gäbe, desto lieber wäre es ihm. Er könne die Zeit kaum mehr erwarten, und er wolle der Mutter beweisen, daß sie der Entschluß nicht reuen dürfe. In zwei, drei Jahren wäre er so weit, daß er sie unterstützen könne, viel leichter, als wenn er Geistlicher würde. Die müßten warten, bis sie an die Reihe kämen, aber in einem solchen Geschäft brächte einen die Arbeit vorwärts, und weil er das wisse, sei ihm keine Arbeit zu viel.
Die Mutter hörte ihn aufmerksam an. Sie konnte sich nicht alles zurecht legen und sah den Weg nicht klar vor sich, den er gehen wollte. Aber sein Eifer überzeugte sie, und sie ging daran, sich ein neues Bild von der Zukunft auszumalen.
Im goldgestickten Gewande würde ihr Sylvester nicht vor dem Altar stehen, und in einem Pfarrhof würde er nicht sitzen.
Das war vorbei. Aber einen großen Kaufladen würde er haben, einen größeren noch, als der Kramer Schießl in Nußbach. Bei dem es nach der Kirche immer gesteckt voll war, und der sich das Geld haufenweise verdiente. Und das war doch wahr. Bis einer Pfarrer würde, dauerte es lange, und als Kooperator hatte einer kaum genug zum Leben und mußte sich um sein Essen mit den Pfarrerköchinnen streiten.
Wenn man alles betrachtete, hatte ihr Sylvester eigentlich das bessere Teil erwählt. So gewann ihre Vorstellung allmählich Form und Gestalt, und sie unterbrach den Eifrigen mit Fragen. Ob der Frankfurter Kramer ihn schon bald in ein Geschäft setzen würde? Und an einen größeren Ort, vielleicht wie Nußbach oder Pfaffenhofen? Und an einem schönen Platz neben der Kirche? Weil solche Geschäfte den besten Besuch haben.
Und zuletzt fragte sie:
»Was is nacha dös für a Madel?«[256]
»Welches Mädel?« – »No dös, wo der Herr Kooperator g'sagt hat, daß du heirat'n sollst.«
Sylvester wurde rot bis über die Ohren und lachte verlegen.
»Geh, Mutter! Was dir der g'sagt hat!«
»Da Herr Stegmüller hat aber aa'r amal a solchene Andeutung g'macht.«
Sylvester sah, daß seine Mutter ernsthaft an diese Sache gedacht hatte, und er meinte, sie habe es wohl verdient, daß er ihr alles Vertrauen schenke.
Und er erzählte ihr, wie er das Mädchen kennen gelernt hatte, wie gut und brav es sei, wer die Eltern wären, und wie er in dem Hause aufgenommen wurde.
Aber er habe nicht ans Heiraten gedacht, sagte er; denn eine solche Hoffnung wäre ganz töricht.
Die Mutter hörte zu und sagte nichts.
Sie ergänzte im stillen ihr Bild.
Und darin stand jetzt Sylvester im Kaufladen des reichen Herrn Sporner als Schwiegersohn und als der Mann der einzigen Tochter, der einmal alles erben und kriegen mußte.
»Es wird no alles recht wer'n, Bua!« sagte sie. »Und jetzt gut' Nacht!«
Ausgewählte Ausgaben von
Andreas Vöst
|
Buchempfehlung
Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro