Leben

[100] Wie vieles Leben ist verhülltes Sterben!

Wie mancher wird im Sterben erst erwachen!

Wie wen'ge nur die Gluth zur Flamme fachen!

Wie Seltne Lebensmuth mit Leben erben!


Sie dünken sich zu seyn, entfliehn dem herben

Gefühl des Seyns und in verworfnen Sachen

Soll ihnen Himmels-Glanz entgegen lachen,

Auf die Verwesung geht ihr eifernd Werben.


Nur taumelnd, unbewußt schreiten sie weiter,

Krank, tiefbetrübt in buntgemengten Horden,

Nicht sterbend, lebend nicht, ohn' Leid und Wonnen.


Schau ich zur Sternen-Nacht so frag' ich heiter:

Durch welch Verdienst ist dir die Gnade worden,

Daß dich die Freud' anlacht aus diesen Sonnen?

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 100-101.
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