[22] Am 3. März herrschte in allen Räumen des Englischen Klubs ein lautes Stimmengetöse, und wie wenn Bienen im Frühling schwärmten, wanderten die Mitglieder und Gäste des Klubs hin und her, saßen, standen, traten zusammen und gingen wieder auseinander, die meisten in Uniform oder im Frack, einzelne auch noch im langschößigen Rock und mit gepudertem Kopf. Gepuderte Livreediener in Schuhen und Strümpfen standen an jeder Tür und achteten mit gespannter Aufmerksamkeit auf jede Bewegung der Gäste und Klubmitglieder, um ihre Dienste anzubieten. Die Mehrzahl der Anwesenden waren ältere, angesehene Herren, mit breiten, selbstzufriedenen Gesichtern, dicken Fingern, sicheren Bewegungen und festen Stimmen. Diejenigen Gäste und Mitglieder, welche zu dieser Gattung gehörten, saßen auf ihren bekannten, gewohnten Plätzen und vereinigten sich zu den bekannten, gewohnten Gruppen. Ein kleiner Teil der Anwesenden bestand aus Gästen, deren Erscheinen nur durch diesen besonderen Anlaß herbeigeführt war; dies waren vorwiegend jüngere Leute, darunter Denisow, Rostow und Dolochow, welcher letztere wieder Offizier im Semjonower Regiment[22] war. Auf den Gesichtern der jüngeren Leute, namentlich der Militärs, lag jener Ausdruck geringschätziger Ehrerbietung gegen die älteren Herren, der zu der älteren Generation gewissermaßen sagt: »Wir sind bereit, euch zu achten und zu respektieren; aber vergeßt nicht, daß die Zukunft uns gehört.«
Auch Neswizki war da, als altes Mitglied des Klubs. Pierre, der auf Verlangen seiner Frau sich das Haar hatte wachsen lassen, keine Brille mehr trug und sich modern kleidete, wandelte mit trüber, niedergeschlagener Miene durch die Säle. Auch hier umgab ihn dieselbe gesellschaftliche Atmosphäre wie überall: die Menschen beugten sich vor seinem Reichtum, und er, schon gewohnt zu herrschen, behandelte sie in zerstreuter, geringschätziger Manier.
Seinen Jahren nach hätte er sich zu den jungen Männern halten müssen; aber aufgrund seines Reichtums und seiner persönlichen Beziehungen gehörte er zu den Kreisen der älteren, vornehmen Herren, und so ging er denn von der einen derartigen Gruppe zur andern. Besonders hochangesehene alte Herren bildeten die Mittelpunkte einzelner Gruppen, und zu solchen Gruppen traten respektvoll auch Unbekannte heran, um jene hervorragenden Persönlichkeiten reden zu hören. Die größten Gruppen hatten sich um den Grafen Rastoptschin, um Walujew und um Naryschkin gebildet. Rastoptschin erzählte, wie die Russen von den fliehenden Österreichern zusammengepreßt wor den seien und sich mit dem Bajonett einen Weg durch die Flüchtlinge hätten bahnen müssen.
Walujew teilte vertraulich mit, Uwarow sei aus Petersburg nach Moskau geschickt, um die Meinung der Moskauer über Austerlitz in Erfahrung zu bringen.
In einer dritten Gruppe sprach Naryschkin von einer Sitzung des österreichischen Kriegsrats, in welcher Suworow auf die von[23] den österreichischen Generalen vorgebrachten Dummheiten nur damit geantwortet hätte, daß er wie ein Hahn gekräht habe. Der dabeistehende Schinschin wollte einen Witz daran anknüpfen und bemerkte, Kutusow scheine nicht einmal diese leichte Kunst, wie ein Hahn zu krähen, von Suworow gelernt zu haben; aber die alten Herren blickten den Witzling streng an und gaben ihm damit zu verstehen, daß es an diesem Ort und am heutigen Tag unschicklich sei, in dieser Art über Kutusow zu sprechen.
Graf Ilja Andrejewitsch Rostow kam fortwährend eiligen Ganges und mit geschäftiger Miene in seinen weichen Stiefeln aus dem Speisesaal in den Salon und begrüßte hastig und stets mit der gleichen Redewendung hochgestellte und unbedeutende Persönlichkeiten, die er sämtlich kannte; ab und zu suchte er mit den Augen seinen hübschen, schlanken Sohn, ließ seinen Blick mit stolzer Vaterfreude auf ihm ruhen und nickte ihm zu. Der junge Rostow stand an einem Fenster mit Dolochow zusammen, den er vor kurzem kennengelernt hatte, eine Bekanntschaft, auf die er großen Wert legte. Der alte Graf trat zu ihnen heran und drückte Dolochow die Hand.
»Besuche uns doch einmal in unserm Haus; du bist ja mit meinem Jungen bekannt; ihr seid ja doch zusammen da unten gewesen und habt gemeinsam eure Heldentaten vollführt ... Ah, Wasili Ignatjewitsch, guten Tag, lieber Alter ...«, redete er einen vorbeigehenden alten Herrn an; aber er kam nicht dazu, seine Begrüßung zu Ende zu sprechen, da in diesem Augenblick alles in Bewegung geriet und ein herbeilaufender Lakai mit erschrockenem Gesicht meldete: »Sie sind gekommen!«
Klingelzeichen ertönten; die Vorstandsmitglieder stürzten nach vorn; die in verschiedenen Zimmern zerstreuten Gäste drängten[24] sich, wie wenn Roggen zusammengeschaufelt wird, in einen Haufen zusammen und nahmen in dem großen Salon bei der Tür des Empfangssaales Aufstellung.
In der Tür, die vom Vorzimmer nach dem Empfangssaal führte, erschien Bagration, ohne Hut und Degen, die er, wie es im Klub Sitte war, beim Portier gelassen hatte. Er hatte jetzt keine Mütze von Lammfell auf dem Kopf und keine Kosakenpeitsche über der Schulter, wie ihn Rostow in der Nacht vor der Schlacht bei Austerlitz gesehen hatte; sondern er trug eine neue, engsitzende Uniform, mit russischen und ausländischen Orden und dem Georgsstern auf der linken Brustseite. Er hatte sich offenbar kurz vor dem Diner das Haar und den Backenbart schneiden lassen, was seine Physiognomie in unvorteilhafter Weise veränderte. Sein Gesicht erinnerte einigermaßen an das Feiertagsgesicht eines Kindes, und das wirkte neben seinen festen, männlichen Zügen sogar ein wenig komisch. Bekleschow und Fjodor Petrowitsch Uwarow, die mit ihm zusammen gekommen waren, blieben in der Tür stehen, um ihn als den vornehmsten Gast vorangehen zu lassen. Bagration wurde verlegen und wollte diese Höflichkeitsbezeigung von seiten der beiden Herren nicht annehmen; so entstand denn in der Tür ein Aufenthalt, schließlich aber ging Bagration doch voran. Verlegen und ungeschickt, namentlich weil er nicht wußte, wo er mit seinen Händen bleiben sollte, schritt er über den Parkettboden des Empfangssaales: geläufiger und leichter wäre es ihm gewesen, beim Kugelregen über einen Sturzacker zu gehen, wie er das bei Schöngrabern an der Spitze des Kursker Regiments getan hatte. Die Vorstandsmitglieder begrüßten ihn an der ersten Tür und sagten zu ihm ein paar Worte über die Freude, einen so werten Gast bei sich zu sehen; ohne dann seine Antwort abzuwarten, bemächtigten sie sich seiner gleichsam, umringten ihn und geleiteten ihn nach dem[25] Salon. Es war aber un möglich, durch die Tür des Salons hindurchzukommen, da dort Klubmitglieder und Gäste in dichtem Haufen standen, einander quetschten und sich bemühten, einer über die Schulter des andern hinweg Bagration wie ein seltenes wildes Tier zu betrachten. Graf Ilja Andrejewitsch entwickelte von allen Vorstandsmitgliedern die größte Energie; indem er lachend ein Mal über das andere sagte: »Lassen Sie uns durch, mein Lieber, Platz, Platz!«, drängte er die Menge zurück, führte die drei Gäste in den Salon und ließ sie dort auf dem mittleren Sofa Platz nehmen. Die Matadore, d.h. die vornehmsten Klubmitglieder, umringten nun die Neuangekommenen. Graf Ilja Andrejewitsch drängte sich wieder durch den Schwarm hindurch, verließ den Salon und kehrte einen Augenblick darauf, von einem anderen Vorstandsmitglied begleitet, mit einer großen silbernen Schüssel zurück, die er dem Fürsten Bagration präsentierte. Auf der Schüssel lag ein gedrucktes Gedicht, das zu Ehren des Helden verfaßt war. Als Bagration die Schüssel erblickte, sah er sich erschrocken, wie hilfesuchend, nach allen Seiten um. Aber in den Augen aller las er die Forderung, daß er sich fügen solle. In dem Gefühl, daß er in der Gewalt der ihn Umringenden sei, erfaßte er entschlossen mit beiden Händen die Schüssel und blickte den Grafen, der sie ihm hingehalten hatte, zornig und vorwurfsvoll an. Eins der Vorstandsmitglieder nahm ihm dienstfertig die Schüssel wieder aus den Händen (denn es schien, als beabsichtige er, sie so bis zum Abend zu halten und auch so zu Tisch zu gehen) und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Gedicht. »Ja, ja, ich werde es schon noch lesen!« schien Bagration zu sagen; er richtete seine müden Augen auf das Papier und fing mit aufmerksamer, ernster Miene zu lesen an. Aber da nahm der Verfasser selbst das Gedicht in die Hand und begann es zu rezitieren; Fürst Bagration neigte den Kopf und hörte zu.
[26]
»Es danket hohen Ruhm dir Alexanders Reich;
Du schirmst den Zaren uns, der einem Titus gleich.
Ein Schreck bist du dem Feind, ein Mann der edlen Tat,
Ein Cäsar in der Schlacht, ein Weiser im Senat.
Es sah, vom Glück berauscht, selbst er, Napoleon,
Voll Staunen, was im Kampf vermag Bagration,
Und wagt nicht mehr den Streit mit Rußlands Heldenschar ...«
Aber hier rief, ehe der Dichter noch mit dem Gedicht zu Ende gekommen war, der Haushofmeister mit lauter Stimme: »Es ist angerichtet.« Die Tür öffnete sich; aus dem Speisesaal ertönte schmetternd die Polonäse: »Kündet donnernd Sieg, Kanonen! Juble, tapfres Zarenreich!« Graf Ilja Andrejewitsch warf dem Verfasser, der noch weiterlas, einen zornigen Blick zu und verbeugte sich vor Bagration. In der Überzeugung, daß das Diner wichtiger war als das Gedicht, erhoben sich alle, und Bagration ging wieder den übrigen voran zur gedeckten Tafel hin. Man hatte für ihn den vornehmsten Platz vorgesehen, zwischen zwei Herren, die den Vornamen Alexander führten, Bekleschow und Naryschkin, was als Hindeutung auf den Namen des Kaisers einen besonderen Sinn hatte. Die dreihundert Tischgenossen nahmen an der Tafel ihre Plätze nach Rang und Würden ein, so daß die vornehmeren dem Ehrengast am nächsten saßen. Das machte sich ganz von selbst so, gerade wie das Wasser dahin läuft, wo der Boden tiefer liegt.
Vor dem Essen stellte noch Graf Ilja Andrejewitsch dem Fürsten seinen Sohn vor. Bagration erkannte ihn wieder und sagte zu ihm ein paar ungeschickte, wertlose Worte, wie denn alles, was er an diesem Tag sagte, von dieser selben Art war. Aber Graf Ilja Andrejewitsch blickte, während Bagration mit seinem Sohn redete, alle in der Nähe Befindlichen mit stolzer Freude an.
Nikolai Rostow, Denisow und der neue Bekannte des ersteren,[27] Dolochow, hatten ziemlich in der Mitte der Tafel zusammen Platz genommen; ihnen gegenüber saß Pierre neben dem Fürsten Neswizki. Graf Ilja Andrejewitsch saß mit den anderen Vorstandsmitgliedern dem Fürsten Bagration gegenüber und sorgte für dessen leibliches Wohl, indem er in seiner Person die treuherzige Moskauer Gastlichkeit verkörperte.
Die große Mühe, die er sich vorher gegeben hatte, war nicht vergeblich gewesen. Seine beiden Diners (denn es gab eins von Fastenspeisen und eins mit Fleischgerichten) waren großartig; aber völlig beruhigt konnte er bis zum Ende der Mahlzeit doch nicht sein. Er winkte dem Kellermeister zu, erteilte flüsternd den Lakaien Weisungen und erwartete ein jedes der ihm wohlbekannten Gerichte in starker Aufregung. Alles war vorzüglich. Beim zweiten Gang, den riesigen Sterlets (als Ilja Andrejewitsch sie sah, wurde er ganz rot; so freute und genierte er sich), begannen die Lakaien bereits die Pfropfen knallen zu lassen und Champagner einzugießen. Nach dem Fisch, der eine gewisse Sensation gemacht hatte, wechselte Graf Ilja Andrejewitsch mit den andern Vorstandsmitgliedern einen Blick. »Es wird viele Toaste geben; es ist Zeit, daß wir anfangen«, flüsterte er, nahm sein Glas in die Hand und stand auf. Alle schwiegen und warteten auf das, was er sagen würde.
»Auf die Gesundheit Seiner Majestät des Kaisers!« rief er, und in demselben Augenblick füllten sich seine guten Augen mit Tränen der Freude und der Begeisterung. Gleichzeitig setzte das Orchester ein: »Kündet donnernd Sieg, Kanonen!« Alle erhoben sich von ihren Plätzen und schrien: »Hurra!« Auch Bagration rief: »Hurra!« mit demselben Ton, mit dem er es auf dem Schlachtfeld von Schöngrabern gerufen hatte. Die begeisterte Stimme des jungen Rostow war durch alle dreihundert Stimmen hindurchzuhören. Er war dem Weinen nahe. »Auf die Gesundheit[28] Seiner Majestät des Kaisers«, schrie er, »hurra!« Nachdem er sein Glas mit einem Zug geleert hatte, warf er es auf den Boden. Viele folgten seinem Beispiel. Das laute Rufen dauerte eine ganze Weile fort. Als es endlich aufhörte, beseitigten die Diener die Glasscherben, und alle nahmen wieder Platz und setzten, über ihr Schreien lächelnd, ihre Gespräche fort. Graf Ilja Andrejewitsch erhob sich von neuem, warf einen Blick auf den Merkzettel, der neben seinem Teller lag, und brachte einen Toast aus auf den Helden unseres letzten Feldzuges, den Fürsten Pjotr Iwanowitsch Bagration, und wieder wurden die blauen Augen des Grafen feucht von Tränen. »Hurra!« riefen wieder die Stimmen der dreihundert Tischgenossen, und statt des Orchesters ließen sich jetzt die Sänger vernehmen, die eine von Pawel Iwanowitsch Kutusow komponierte Kantate vortrugen:
»An Rußlands Kraft und Mut
Zerschellt des ungestümen Feindes Wut;
Uns führt auf blut'gem Feld
Zum Sieg Bagration, der werte Held«, usw.
Kaum waren die Sänger fertig, als wieder neue und immer neue Toaste folgten, bei denen Graf Ilja Andrejewitsch immer mehr in die Rührung hineingeriet, und noch mehr Gläser zerschlagen wurden und noch lauter geschrien wurde. Man trank auf das Wohl Bekleschows, Naryschkins, Uwarows, Dolgorukis, Apraxins, Walujews, auf das Wohl des Vorstandes, auf das Wohl des geschäftsführenden Direktors, auf das Wohl aller Klubmitglieder, auf das Wohl aller Gäste des Klubs und endlich speziell auf das Wohl des Arrangeurs dieses Diners, des Grafen Ilja Andrejewitsch. Bei diesem letzten Toast zog der Graf sein Taschentuch heraus, verbarg darin sein Gesicht und weinte heftig.
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