[215] Nachdem Rostow zum Regiment zurückgekehrt war und dem Kommandeur über den Stand von Denisows Angelegenheit Bericht erstattet hatte, fuhr er mit dem Brief an den Kaiser nach Tilsit.
Am 13. Juni fand die Zusammenkunft der Kaiser von Frankreich und Rußland in Tilsit statt. Boris Drubezkoi hatte den hochgestellten[215] Herrn, in dessen persönlichem Dienst er war, gebeten, dem Gefolge zugeteilt zu werden, das mit nach Tilsit gehen sollte.
»Ich möchte gern den großen Mann sehen«, sagte er und meinte damit Napoleon, den er bisher immer, ebenso wie alle andern Leute, Bonaparte genannt hatte.
»Du meinst Bonaparte?« fragte ihn der General lächelnd.
Boris blickte seinen General fragend an und durchschaute sogleich, daß es sich um eine scherzhafte Prüfung handelte.
»Euer Durchlaucht, ich meine den Kaiser Napoleon«, antwortete er. Der General klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.
»Du wirst es einmal weit bringen«, sagte er zu ihm und nahm ihn mit.
Boris befand sich am Tag der Kaiserzusammenkunft mit wenigen anderen mit auf dem Niemen. Er sah das Floß mit den Initialen der beiden Kaisernamen; er sah, wie Napoleon am andern Ufer an der französischen Garde entlanggeritten kam; er sah das nachdenkliche Gesicht Kaiser Alexanders, als dieser schweigend in einer Schenke am Ufer des Niemen saß und auf Napoleons Ankunft wartete; er sah, wie die beiden Kaiser in Kähne stiegen, und wie Napoleon, der früher zum Floß gelangt war, mit schnellen Schritten vorwärtsging und, als er dem Kaiser Alexander begegnete, ihm die Hand reichte, und wie dann beide in dem Pavillon verschwanden. Seit seinem Eintritt in die höheren Sphären hatte Boris es sich zur Regel gemacht, das, was um ihn herum vorging, aufmerksam zu beobachten und sich Notizen darüber aufzuschreiben. Während der Zusammenkunft in Tilsit erkundigte er sich nach den Namen der Persönlichkeiten, die mit Napoleon gekommen waren, nach den Uniformen, die sie trugen, und horchte achtsam auf jedes Wort, das von wichtigen Personen gesprochen wurde. In dem Augenblick, als die Kaiser[216] in den Pavillon traten, sah er nach der Uhr und vergaß nicht, wieder nachzusehen, als Alexander aus dem Pavillon heraustrat. Das Zusammensein hatte eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten gedauert: er notierte sich das gleich an jenem Abend mit anderen Tatsachen, die, wie er sich sagte, eine historische Bedeutung hatten. Da die Suite des Kaisers nur sehr klein war, so war es für jemand, dem es auf eine gute Karriere ankam, eine sehr wichtige Sache, bei der Kaiserzusammenkunft in Tilsit anwesend gewesen zu sein, und jetzt, wo es ihm gelungen war, nach Tilsit zu kommen, fühlte Boris, daß seine Stellung von nun an eine völlig gesicherte sei. Man kannte ihn nicht nur, sondern man beachtete ihn auch und hatte sich daran gewöhnt, ihn zu sehen. Zweimal hatte er Aufträge an den Kaiser selbst auszurichten gehabt, so daß der Kaiser ihn von Ansehen kannte, und die Herren aus der Umgebung des Kaisers sahen Boris nicht mehr, wie früher, als eine unbekannte Erscheinung erstaunt an, sondern sie hätten sich jetzt vielmehr gewundert, wenn er nicht dagewesen wäre.
Boris wohnte mit einem andern Adjutanten, einem polnischen Grafen Zilinski, zusammen. Zilinski hatte seine Erziehung in Paris erhalten, besaß großen Reichtum und war ein leidenschaftlicher Franzosenfreund; während des Aufenthalts in Tilsit kamen fast täglich nicht wenige französische Offiziere von der Garde und vom Hauptquartier bei Zilinski und Boris zum Frühstück und zum Mittagessen zusammen.
Am 24. Juni gab Graf Zilinski, Boris' Quartiergenosse, seinen französischen Bekannten ein Abendessen. Der vornehmste Gast war dabei ein Adjutant Napoleons; außerdem waren mehrere französische Gardeoffiziere und ein jugendlicher Page Napoleons, ein Abkömmling eines alten französischen Adelsgeschlechtes, zugegen. Gerade an diesem Abend traf Rostow, der, um nicht erkannt zu werden, die Dunkelheit benutzte und Zivilkleidung trug,[217] in Tilsit ein und begab sich nach dem Quartier, wo Zilinski und Boris wohnten.
In Rostows Seele hatte sich, ebenso wie in der ganzen Armee, von der er herkam, in bezug auf Napoleon und die Franzosen, die nun auf einmal aus Feinden Freunde geworden waren, noch keineswegs jener Umschwung vollzogen, der im Hauptquartier und in Boris' Seele bereits vorgegangen war. In der Armee behielten alle diesem Bonaparte und den Franzosen gegenüber immer noch das frühere aus Grimm, Geringschätzung und Furcht gemischte Gefühl bei. Noch unlängst hatte Rostow mit einem Kosakenoffizier des Platowschen Korps debattiert und die Behauptung verfochten, wenn Napoleon gefangengenommen würde, so müsse er nicht als Kaiser, sondern als Verbrecher behandelt werden. Und eben erst hatte Rostow unterwegs, als er mit einem verwundeten französischen Obersten zusammengetroffen war, sich sehr ereifert, indem er diesem zu beweisen suchte, daß ein Friede zwischen dem legitimen Kaiser und dem Verbrecher Bonaparte unmöglich sei. Daher war es für Rostow eine seltsame Überraschung, bei Boris französische Offiziere in jenen selben Uniformen zu erblicken, die er von der Vorpostenkette aus in ganz anderer Weise anzusehen gewohnt war. Als er gleich beim Eintritt in Boris' Quartier eines französischen Offiziers ansichtig wurde, der gerade aus der Tür herauskam, überfiel ihn plötzlich jenes Gefühl kriegerischen Grimmes, das er immer beim Anblick des Feindes empfand. Er blieb auf der Schwelle stehen und fragte auf russisch, ob hier Drubezkoi wohne. Boris, der eine fremde Stimme im Vorzimmer hörte, kam heraus, um zu sehen, wer da sei. Als er Rostow erkannte, nahm sein Gesicht im ersten Augenblick einen ärgerlichen Ausdruck an.
»Ah, du bist es; ich freue mich sehr, dich wiederzusehen; sehr[218] freue ich mich«, sagte er jedoch und trat lächelnd auf ihn zu. Aber Rostow hatte die erste Bewegung in seinem Gesicht bemerkt.
»Ich komme wohl zu ungelegener Zeit«, sagte er in kühlem Ton, »und ich wäre auch nicht gekommen, aber es führt mich eine wichtige Angelegenheit her.«
»Aber nicht doch; ich wundere mich nur, wie du von deinem Regiment auf einmal hierherkommst. – In einem Augenblick stehe ich Ihnen zu Diensten«, antwortete er jemandem, der aus dem Zimmer nach ihm rief.
»Ich sehe, daß ich zu ungelegener Zeit gekommen bin«, sagte Rostow noch einmal.
Der Ausdruck des Ärgers war bereits von Boris' Gesicht verschwunden. Er hatte offenbar überlegt und war sich über sein weiteres Verhalten schlüssig geworden. So faßte er nun mit großer Ruhe Rostow an beiden Händen und führte ihn in das anstoßende Zimmer. Seine Augen blickten Rostow ruhig und fest an, machten aber den Eindruck, als ob sie mit irgend etwas bedeckt seien, als ob sie eine Schutzvorrichtung, die blaue Brille des gesellschaftlichen Lebens, trügen. Das war wenigstens Rostows Empfindung.
»Aber ich bitte dich, höre doch damit auf; du kannst nie ungelegen kommen«, erwiderte Boris.
Boris führte ihn in das Zimmer, wo der Tisch zum Souper gedeckt war, und machte ihn mit den Anwesenden bekannt, indem er Rostows Namen nannte und mitteilte, daß er nicht Zivilist, sondern Husarenoffizier und ein alter Freund von ihm sei.
»Graf Zilinski, Graf N.N., Hauptmann S.S.«, nannte er den Wirt und die Gäste. Rostow blickte die Franzosen finster an, verbeugte sich nur widerwillig und schwieg.
Zilinski empfing dieses neue russische Gesicht offenbar ohne sonderliche Freude in seinem Zirkel und sagte nichts zu Rostow.[219] Boris schien die Gezwungenheit, die durch den neuen Gast in die Gesellschaft gekommen war, nicht zu bemerken und war mit derselben freundlichen Ruhe und jener bildlichen Schutzbrille, mit denen er Rostow empfangen hatte, bemüht, das Gespräch zu beleben. Einer der Franzosen wandte sich mit der geläufigen französischen Höflichkeit an den hartnäckig schweigenden Rostow und sagte zu ihm, er wäre wahrscheinlich nach Tilsit gekommen, um den Kaiser zu sehen.
»Nein, ich habe ein Geschäft«, antwortete Rostow kurz.
Rostow war sofort in üble Stimmung geraten, als er das Mißvergnügen auf Boris' Gesicht bemerkt hatte, und wie es mißgestimmten Leuten immer geht, hatte er nun die Vorstellung, daß alle ihn mit unfreundlichen Blicken ansähen und daß er allen störend sei. Auch störte er wirklich alle und blieb als der einzige unbeteiligt an dem allgemeinen Gespräch, das wieder neu in Gang kam. »Warum sitzt denn der eigentlich hier?« fragten die Blicke, die die Tischgenossen auf ihn richteten. Er stand auf und trat zu Boris.
»Aber ich bin dir hier unbequem«, sagte er leise zu ihm. »Komm beiseite, damit wir über meine Angelegenheit reden können, und dann will ich wieder gehen.«
»Aber nicht doch, durchaus nicht«, erwiderte Boris. »Wenn du jedoch müde bist, so komm in mein Zimmer, lege dich hin und ruhe dich aus.«
»Nein, wirklich ...«
Sie gingen in ein kleines Zimmerchen, das Boris als Schlafzimmer benutzte. Rostow begann, ohne sich zu setzen, sogleich in gereiztem Ton, als ob Boris ihn beleidigt hätte, ihm Denisows Angelegenheit zu erzählen, und fragte ihn, ob er imstande und bereit sei, auf seinen General dahin einzuwirken, daß dieser dem Kaiser die Bittschrift übergebe und für Denisow Fürsprache einlege.[220] Bei diesem Gespräch unter vier Augen merkte Rostow, was ihm vorher noch nicht zum Bewußtsein gekommen war, daß es ihm unbehaglich war, Boris in die Augen zu sehen. Boris, der ein Bein über das andere geschlagen hatte und mit der linken Hand leise über die schmalen Finger der rechten hinstrich, hörte Rostow in derselben Weise an, wie ein General den Bericht eines Untergebenen anhört, indem er bald zur Seite blickte, bald durch jene bildliche Schutzbrille hindurch dem sprechenden Rostow gerade in die Augen sah. Dabei hatte Rostow jedesmal ein peinliches Gefühl und schlug die Augen nieder.
»Ich habe von solchen Sachen gehört«, sagte Boris zur Erwiderung, »und weiß, daß der Kaiser in derartigen Fällen sehr streng ist. Ich meine, man sollte sich damit nicht an Seine Majestät wenden. Meiner Ansicht nach ist es ratsamer, das Bittgesuch an den Korpskommandeur zu richten ... Aber ich glaube überhaupt ...«
»Also du willst nichts tun; dann sage es doch offen heraus!« rief Rostow überlaut, ohne dabei Boris anzusehen.
Boris lächelte.
»Im Gegenteil, ich werde tun, was ich kann; ich meinte nur ...«
In diesem Augenblick wurde an der Tür die Stimme Zilinskis vernehmbar, der Boris rief.
»Nun, dann geh zu ihnen, geh, geh ...«, sagte Rostow, lehnte die Teilnahme an dem Souper ab und blieb allein in dem kleinen Zimmerchen; lange ging er hier auf und ab und hörte, wie im Nebenzimmer eine muntere französische Unterhaltung geführt wurde.
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