XVI

[315] Plötzlich kam alles in Bewegung; ein Gemurmel ging durch die Menge; sie drängte vorwärts, dann teilte sie sich wieder, nach beiden Seiten zurücktretend, und zwischen diesen Reihen trat unter den Klängen des schmetternd einsetzenden Orchesters der Kaiser ein. Hinter ihm gingen der Hausherr und die Hausfrau. Im Gehen verbeugte sich der Kaiser eilig bald nach rechts, bald nach links, wie wenn er über diesen ersten Augenblick der Begrüßung recht schnell hinwegzukommen suchte. Die Musik spielte eine Polonaise, die damals wegen des dazu gedichteten Textes sehr bekannt war. Dieser Text begann: »Edler Kaiser Alexander, den wir voll Entzücken schauen, Kaiserin Jelisaweta, allerholdeste der Frauen ...« Der Kaiser begab sich in den Salon; die Menge strömte zur Tür; einige Personen gingen eilig in den Salon hinein und kehrten bald darauf mit verändertem Gesichtsausdruck von dort zurück. Nun strömte die Menge wieder von der Tür des Salons zurück, da in dieser der Kaiser, im Gespräch mit der Hausfrau, erschien. Ein junger Mann trat mit verlegener Miene auf die Damen zu und bat sie, weiter zurückzutreten; aber einige Damen schienen, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, alle Regeln des gesellschaftlichen Verkehrs vollständig vergessen zu haben und drängten ohne Rücksicht auf ihre dabei zu Schaden kommenden Toiletten vorwärts. Die Herren begannen sich den Damen zu nähern und sich mit ihnen paarweise zur Polonaise aufzustellen.

Alles wich auseinander, und der Kaiser trat, die Hausfrau am[315] Arm führend, aus der Tür des Salons; er schritt mit lächelndem Gesicht einher, ohne den Takt der Musik zu beachten. Hinter ihm kam der Hausherr mit der schönen Fürstin Marja Antonowna Naryschkina, dann die Gesandten, die Minister und verschiedene Generale; Fräulein Peronskaja nannte der Gräfin Rostowa unermüdlich die Namen der Vorübergehenden. Mehr als die Hälfte der auf dem Ball anwesenden Damen hatten Kavaliere und gingen in der Polonaise mit oder waren im Begriff einzutreten. Natascha merkte, daß sie nebst der Mutter und Sonja unter der Minderzahl derjenigen Damen blieb, die nicht zur Polonaise aufgefordert, sondern an die Wand gedrängt wurden. Sie stand da und ließ ihre mageren Arme herunterhängen; ihr noch kaum entwickelter Busen hob sich in gemessenen Zeiträumen, zwischen denen sie den Atem anhielt; mit glänzenden, erschrockenen Augen blickte sie vor sich hin; man konnte ihr ansehen, daß sie darauf wartete, ob ihr die höchste Freude oder das größte Leid zuteil werden würde. Es interessierte sie weder der Kaiser noch all die hohen Persönlichkeiten, auf welche Fräulein Peronskaja hinwies; sie hatte nur einen Gedanken: »Wird denn wirklich niemand zu mir kommen? Werde ich denn wirklich diesen ersten Tanz nicht mittanzen? Werden mich denn wirklich alle diese Herren unbeachtet lassen, die mich jetzt nicht einmal zu sehen scheinen, sondern, wenn sie nach mir hinblicken, es mit einem Ausdruck tun, wie wenn sie sagen wollten: ›Ach, das ist nicht die Richtige; es hat keinen Zweck, da noch hinzublicken!‹ Nein, es ist nicht möglich!« dachte sie. »Sie müssen doch wissen, wie gern ich tanzen möchte, und wie vorzüglich ich tanze, und wieviel Vergnügen es ihnen machen würde, mit mir zu tanzen.«

Die Töne der Polonaise, die ziemlich lange dauerte, bekamen für Nataschas Ohren schon eine traurige Klangfärbung, wie die Erinnerung an etwas unwiederbringlich Verlorenes. Sie kämpfte[316] mit dem Weinen. Fräulein Peronskaja war von ihnen weggegangen. Der Graf befand sich am andern Ende des Saales; die Gräfin, Sonja und sie standen allein wie in einem Wald in dieser fremden Menschenmenge: niemand kümmerte sich um sie, niemand hatte sie nötig. Fürst Andrei ging mit einer Dame neben ihnen vorbei, erkannte sie aber augenscheinlich nicht. Der schöne Anatol sagte lächelnd etwas zu der Dame, die er führte, und blickte dabei Natascha in derselben Art ins Gesicht, wie man eine Wand anblickt. Boris kam zweimal bei ihnen vorüber, wandte sich aber jedesmal ab. Berg und seine Frau, welche nicht tanzten, traten zu ihnen.

Natascha hatte die Empfindung, daß es etwas Demütigendes habe, wenn sich die Familie hier auf dem Ball so zusammenschließe; als ob es für Familiengespräche nicht andere Orte gäbe als gerade einen Ball. Wjera erzählte ihr etwas von ihrem grünen Kleid; aber Natascha hörte ihr nicht zu und sah sie nicht an.

Endlich blieb der Kaiser neben seiner letzten Dame stehen (er hatte mit drei Damen getanzt); die Musik schwieg. Ein übereifriger Adjutant kam zu Rostows hingelaufen und bat sie, beiseite zu treten, obwohl sie bereits dicht an der Wand standen, und vom Orchester erklangen, noch langsam und piano, aber klar und bestimmt, die Töne eines Walzers mit ihrem lockenden Rhythmus. Der Kaiser sah sich lächelnd im Saal um. Es verging eine Minute; aber noch niemand tanzte. Ein Adjutant, der das Amt eines Vortänzers versah, trat zur Gräfin Besuchowa und forderte sie auf. Lächelnd hob sie den Arm in die Höhe und legte ihn auf die Schulter des Adjutanten, ohne diesen anzublicken. Der Vortänzer, ein Meister in seinem Fach, schlang im Bewußtsein seiner Kunstfertigkeit mit einer ruhigen, abgemessenen Bewegung seinen Arm fest um seine Dame, flog zuerst[317] mit ihr in einer Glissade am Rand des Kreises hin, ergriff bei der Ecke des Saales ihre linke Hand, drehte seine Tänzerin herum, und nun hörte man durch die immer schneller werdenden Klänge der Musik hindurch nur das taktmäßige Sporenklirren von den flinken, behenden Beinen des Adjutanten, während an einer bestimmten Stelle des Dreivierteltaktes, bei der Schwenkung, das Samtkleid seiner Dame, gleichsam explodierend, sich blähte. Natascha blickte nach dem Paar hin und war nahe daran zu weinen, weil es ihr nicht vergönnt war, diesen ersten Walzer mitzutanzen.

Fürst Andrei in seiner weißen Uniform als Kavallerieoberst, in Strümpfen und Schuhen, stand in den vordersten Reihen des Kreises nicht weit von den Rostowschen Damen und befand sich in angeregter, fröhlicher Stimmung. Der Baron Vierhof redete mit ihm über die auf den nächsten Tag angesetzte erste Sitzung des Reichsrates. Da Fürst Andrei nahe Beziehungen zu Speranski hatte und an den Arbeiten der gesetzgebenden Kommission teilnahm, so war er in der Lage, zuverlässige Mitteilungen über die morgige Sitzung zu machen, über welche sehr verschiedenartige Gerüchte in Umlauf waren. Aber er hörte nicht zu, was ihm Vierhof sagte, und blickte bald nach dem Kaiser, bald nach den Kavalieren, die zu tanzen beabsichtigten, aber sich nicht entschließen konnten, in den Kreis zu treten.

Fürst Andrei beobachtete mit Interesse diese Herren, welche die Anwesenheit des Kaisers so schüchtern machte, und die Damen, die vor Sehnsucht, aufgefordert zu werden, fast vergingen.

Pierre trat an den Fürsten Andrei heran und faßte ihn bei der Hand.

»Sie tanzen ja sonst immer. Es ist eine junge Dame hier, die ich protegiere, ein Fräulein Rostowa; fordern Sie die doch auf«, sagte er.[318]

»Wo ist sie?« fragte Bolkonski. »Pardon«, sagte er, sich zu dem Baron wendend, »wir wollen dieses Gespräch an anderm Ort zu Ende führen; auf einem Ball muß man tanzen.« Er trat aus den Reihen der Zuschauenden heraus und schlug die Richtung ein, die ihm Pierre gewiesen hatte. Nataschas unglückliches, verzweifeltes Gesicht fiel ihm sofort auf. Er erkannte sie, erriet ihre Empfindungen, sagte sich, daß sie wohl auf ihrem ersten Ball sei, erinnerte sich an ihr Gespräch am Fenster und begrüßte mit heiterer Miene die Gräfin Rostowa.

»Gestatten Sie, daß ich Sie mit meiner Tochter bekanntmache«, sagte die Gräfin errötend.

»Ich habe bereits das Vergnügen bekanntzusein, wenn die Komtesse sich meiner erinnert«, erwiderte Fürst Andrei. Mit einer tiefen, höflichen Verbeugung, die zu Fräulein Peronskajas Bemerkung über seine Ungezogenheit im vollsten Widerspruch stand, trat er zu Natascha heran und hob den Arm, um ihre Taille zu umfassen, noch bevor er die Aufforderung zum Tanz vollständig ausgesprochen hatte. Er bat um eine Walzertour. Der angstvolle Ausdruck auf Nataschas Gesicht, der in gleicher Weise bereit war, in Verzweiflung und in Entzücken überzugehen, wich plötzlich einem glückseligen, dankbaren, kindlichen Lächeln.

»Ich habe schon lange auf dich gewartet«, schien dieses vor Glückseligkeit ganz erschrockene Mädchen mit dem Lächeln zu sagen, das hinter den nahestehenden Tränen zum Vorschein kam, und hob ihre Hand auf die Schulter des Fürsten Andrei. Sie waren das zweite Paar, das in den Kreis trat. Fürst Andrei war einer der besten Tänzer seiner Zeit, und Natascha tanzte vorzüglich. Ihre Füßchen in den atlassenen Ballschuhen verrichteten das, was sie zu tun hatten, schnell, leicht und gleichsam unabhängig von Nataschas Willen, und ihr Gesicht strahlte vor[319] Wonne und Glückseligkeit. Ihre entblößten Körperteile waren unschön im Vergleich mit denen der Gräfin Helene: ihre Schultern waren mager, der Busen unentwickelt, die Arme dünn. Aber Helenes Körper hatten die vielen tausend Blicke, die bereits über ihn hingeglitten waren, sozusagen schon mit einem Lack überzogen; Natascha dagegen sah aus wie ein Mädchen, das man zum erstenmal entblößt hat, und das sich darüber sehr schämen würde, wenn man ihm nicht versichert hätte, daß das notwendigerweise so sein müsse.

Fürst Andrei tanzte überhaupt gern, und in dem Wunsch, recht schnell von den klugen, politischen Gesprächen loszukommen, mit denen sich alle an ihn wandten, und ferner in dem Wunsch, recht schnell jenen ihm widerwärtigen Bann der Verlegenheit zu brechen, in welchen die Gegenwart des Kaisers alles schlug, hatte er sich entschlossen zu tanzen und hatte Natascha gewählt, weil gerade auf diese Pierre ihn hingewiesen hatte, und weil sie das erste schöne weibliche Wesen war, das ihm in die Augen gefallen war; aber sobald er diesen schlanken, geschmeidigen Körper umfaßte und sie sich so nahe an ihm zu bewegen begann und ihn aus solcher Nähe anlächelte, da fühlte er sich von ihrem Reiz wie von einem starken Wein benommen; er kam sich neu belebt und verjüngt vor, als er sie losgelassen hatte, Atem schöpfte und nun dastand und dem Tanz zuschaute.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 315-320.
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