XVII

[320] Nach dem Fürsten Andrei trat Boris zu Natascha heran, um sie zum Tanz aufzufordern; es kam auch jener Adjutant, der als Vortänzer den Ball eröffnet hatte, und noch viele andere junge Leute, und Natascha, die ihre überzähligen Kavaliere an Sonja abgab, hörte, glückselig und mit gerötetem Gesicht, den[320] ganzen Abend über nicht auf zu tanzen. Sie merkte und sah nichts von dem, was alle auf diesem Ball interessierte. Sie bemerkte nicht, daß der Kaiser lange mit dem französischen Gesandten sprach, daß er sich besonders gnädig mit einer bestimmten Dame unterhielt, daß dieser und jener Prinz dies und das sagte und tat, daß Helene einen großen Erfolg hatte und von irgendeiner hohen Persönlichkeit besonderer Beachtung gewürdigt wurde; sie sah den Kaiser überhaupt nicht und merkte, daß er sich entfernt hatte, erst daran, daß nach seinem Weggang der Ball einen munteren Charakter annahm. Einen der lustigen Kotillons vor dem Souper tanzte Fürst Andrei wieder mit Natascha. Er erinnerte sie an ihr erstes Zusammentreffen in der Allee von Otradnoje und erzählte, wie er in der mondhellen Nacht nicht habe einschlafen können und unfreiwillig ihr Gespräch mitangehört habe. Natascha errötete bei dieser Erinnerung und suchte sich zu rechtfertigen, als ob in diesem Gefühl, bei welchem Fürst Andrei sie, ohne es zu wollen, belauscht hatte, etwas läge, dessen sie sich zu schämen habe.

Wie alle Leute, die in den höheren Kreisen groß geworden sind, freute Fürst Andrei sich jedesmal, wenn er in diesen Kreisen auf etwas traf, was von dem allgemeinen Typus dieser Gesellschaftsschicht abwich. Und von der Art war Natascha, mit ihrer naiven Verwunderung, ihrer harmlosen Freude, ihrer kindlichen Schüchternheit und sogar mit ihren Fehlern im Französischsprechen. Er legte in der Art, wie er sie behandelte und mit ihr redete, eine besondere Zartheit und Behutsamkeit an den Tag. Während er neben ihr saß und mit ihr von den gewöhnlichsten, unbedeutendsten Dingen plauderte, betrachtete er mit innigem Vergnügen das freudige Leuchten ihrer Augen und ihr heiteres Lächeln, ein Ausdruck, der nicht durch die Gegenstände des Gesprächs, sondern durch die innere Glückseligkeit[321] des jungen Mädchens hervorgerufen wurde. Und wenn Natascha aufgefordert wurde, sich lächelnd erhob und tanzend durch den Saal schwebte, so bewunderte Fürst Andrei ganz besonders ihre schüchterne, liebliche Anmut. Mitten im Kotillon kehrte Natascha nach Beendigung einer Figur, noch schweratmend, zu ihrem Platz zurück; da wurde sie schon wieder von einem neuen Kavalier aufgefordert. Sie war müde und glühte und dachte offenbar einen Augenblick daran, abzulehnen; aber gleich darauf legte sie doch wieder mit fröhlichem Gesicht ihre Hand auf die Schulter des Kavaliers und lächelte dem Fürsten Andrei zu.

»Ich würde mich freuen, wenn ich mich erholen und neben Ihnen sitzenbleiben dürfte; aber Sie sehen, wie ich fortwährend aufgefordert werde, und ich freue mich darüber, und es macht mich glücklich, und ich liebe alle Menschen, und Sie haben mit mir Verständnis für das alles«, dies und noch vieles, vieles andere sagte dieses Lächeln. Als der Kavalier sie losließ, hatte Natascha die Aufgabe, durch den Saal zu eilen, um zwei Damen zu der Figur heranzuholen.

»Wenn sie zuerst zu ihrer Kusine geht und dann erst zu einer andern Dame, so soll sie meine Frau werden«, sagte Fürst Andrei, nach ihr hinblickend, bei sich und war selbst von diesem Gedanken ganz überrascht. Sie ging zuerst zu ihrer Kusine.

»Was für ein Unsinn einem doch manchmal durch den Kopf geht!« dachte Fürst Andrei. »Aber soviel ist sicher: dieses junge Mädchen ist so liebenswürdig und so eigenartig, daß sie hier in Petersburg nicht einen Monat tanzen wird, dann ist sie verheiratet. So ein Mädchen ist hier eine Seltenheit«, dachte er, als Natascha zurückkam, eine Rose, die sich von ihrem Mieder loslöste, in Ordnung brachte und sich wieder neben ihn setzte.

Gegen Ende des Kotillons kam der alte Graf in seinem blauen Frack zu dem tanzenden Paar. Er lud den Fürsten Andrei[322] zu einem Besuch bei sich zu Hause ein und fragte seine Tochter, ob sie sich gut amüsiere. Natascha antwortete ihm zunächst nicht, sondern lächelte ihm nur in einer Weise zu, als ob sie vorwurfsvoll sagte: »Wie kann man nur so fragen?«

»So gut wie noch nie in meinem Leben!« antwortete sie dann, und Fürst Andrei bemerkte, wie sich ihre mageren Arme schnell heben wollten, um den Vater zu umarmen, aber sofort wieder herabsanken. Natascha fühlte sich wirklich so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie befand sich auf jener höchsten Stufe des Glückes, wo der Mensch vollkommen gut und edel wird und nicht an die Möglichkeit glaubt, daß es in der Welt auch Schlimmes und Unglück und Kummer gebe.


Pierre empfand auf diesem Ball zum erstenmal die Stellung, welche seine Frau in den höheren Gesellschaftskreisen einnahm, als eine Beleidigung für sich selbst. Er war ingrimmig und zerstreut. Quer über seine Stirn zog sich eine breite Falte; am Fenster stehend, blickte er durch seine Brille, ohne überhaupt jemand zu sehen.

Natascha kam, als sie sich zum Souper begab, bei ihm vorbei.

Pierres finsteres, unglückliches Gesicht fiel ihr auf. Sie blieb vor ihm stehen. Sie hätte ihm gern geholfen, ihm gern von dem Übermaß ihres Glückes etwas abgegeben.

»Wie lustig es hier zugeht, Graf«, sagte sie, »nicht wahr?«

Pierre lächelte zerstreut; er hatte offenbar gar nicht verstanden, was sie gesagt hatte.

»Ja, ich freue mich sehr«, erwiderte er.

»Wie kann nur jemand mit etwas unzufrieden sein«, dachte Natascha. »Namentlich ein so guter Mensch wie dieser Besuchow.«

In Nataschas Augen waren alle auf dem Ball Anwesenden[323] insgesamt gute, liebenswürdige, prächtige Menschen und liebten einander von Herzen. Niemand war imstande, einen anderen zu kränken, und somit mußten sie alle glücklich sein.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 320-324.
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