XXI

[338] Pierre als einer der angesehensten Gäste mußte sich mit Ilja Andrejewitsch, dem General und dem Obersten an den Bostontisch setzen. Zufällig kam er so zu sitzen, daß er Natascha ins Gesicht sehen konnte, und er war überrascht von der seltsamen Veränderung, die mit ihr seit dem Ball vorgegangen war. Natascha war schweigsam und bei weitem nicht so schön, wie sie auf dem Ball gewesen war; ja, sie wäre geradezu häßlich gewesen, hätte auf ihrem Gesicht nicht ein solcher Ausdruck sanfter Milde und stillen Gleichmuts allem gegenüber gelegen.

»Was ist mit ihr vorgegangen?« dachte Pierre, während er[338] sie betrachtete. Sie saß neben ihrer Schwester am Teetisch und antwortete, als Boris, der sich zu ihr gesetzt hatte, sie etwas fragte, nur wie gezwungen und ohne ihn anzusehen. Nachdem Pierre eine ganze Reihe von Trümpfen heruntergespielt und zur großen Befriedigung seines Partners fünf Stiche gemacht hatte, blickte er, als er gerade die Schritte eines ins Zimmer tretenden neuen Gastes und die Begrüßung desselben gehört hatte, während des Zusammenlegens der Stiche wieder zu Natascha hin.

»Was ist mit ihr vorgegangen?« fragte er sich jetzt mit noch größerem Erstaunen.

Fürst Andrei stand mit einer Miene rücksichtsvoller, zarter Höflichkeit vor ihr und sagte etwas zu ihr. Sie hatte den Kopf in die Höhe gehoben und sah ihn an; ihr Gesicht war ganz rot geworden, und sie bemühte sich offenbar, ihren stoßweise gehenden Atem zu beherrschen. Ein inneres, vorher beinah erloschenes Feuer war in ihr von neuem mit hellem Schein aufgeflammt. Sie war völlig umgewandelt: soeben noch häßlich, war sie wieder ebenso geworden wie sie auf dem Ball gewesen war.

Fürst Andrei trat zu Pierre, und dieser bemerkte einen neuen, jugendlichen Ausdruck in dem Gesicht seines Freundes.

Pierre wechselte während des Spieles mehrmals seinen Platz, so daß er Natascha bald den Rücken, bald das Gesicht zuwandte, und stellte während des ganzen sechsten Robbers seine Beobachtungen über sie und seinen Freund an.

»Es geht etwas sehr Wichtiges zwischen ihnen vor«, dachte Pierre, und ein freudiges und zugleich bitteres Gefühl versetzte ihn in Erregung und lenkte seine Aufmerksamkeit vom Spiel ab.

Nach Beendigung des sechsten Robbers erhob sich der General und erklärte, unter solchen Umständen sei es unmöglich weiterzuspielen.[339] Pierre wurde frei. Natascha sprach auf der einen Seite mit Sonja und Boris; Wjera redete mit einem feinen Lächeln über irgend etwas mit dem Fürsten Andrei. Pierre trat zu seinem Freund, fragte, ob sie auch nicht etwa Geheimnisse verhandelten, und setzte sich zu ihnen. Wjera hatte, als sie die Aufmerksamkeit des Fürsten Andrei gegen Natascha bemerkte, sich gesagt, bei einer Abendgesellschaft, einer richtigen Abendgesellschaft, müßten unbedingt feine Anspielungen auf Gefühle vorkommen, und einen Augenblick benutzend, wo Fürst Andrei von keiner anderen Seite in Anspruch genommen war, hatte sie mit ihm ein Gespräch über Gefühle im allgemeinen und über ihre Schwester im besonderen angefangen. Bei einem so klugen Mann (denn für einen solchen hielt sie den Fürsten Andrei) hatte sie geglaubt, mit all ihrer diplomatischen Kunst zu Werke gehen zu müssen.

Als Pierre zu ihnen trat, bemerkte er, daß Wjera bei dem Gespräch einen selbstgefälligen Eifer bekundete, Fürst Andrei dagegen (was ihm nur selten begegnete) verlegen zu sein schien.

»Wie denken Sie darüber?« fragte Wjera mit einem feinen Lächeln. »Sie sind ja so außerordentlich scharfsichtig, Fürst, und durchschauen den Charakter der Menschen auf den ersten Blick. Wie denken Sie über Natascha: ist sie fähig, bei ihren Neigungen Ausdauer zu beweisen? Kann sie so wie andere Frauen« (damit meinte Wjera sich selbst) »einen Menschen einmal liebgewinnen und ihm dann für immer treu bleiben? Denn das halte ich für die wahre Liebe. Wie denken Sie darüber, Fürst?«

»Ich kenne Ihre Schwester zu wenig«, antwortete Fürst Andrei mit einem spöttischen Lächeln, unter dem er seine Verlegenheit verbergen wollte; »als daß ich wagen könnte, eine so subtile Frage zu entscheiden; und dann habe ich die Beobachtung[340] gemacht, daß eine Frau um so beständiger ist, je weniger sie gefällt«, fügte er hinzu und blickte Pierre an, der in diesem Augenblick zu ihnen trat.

»Ja, das ist richtig, Fürst; in unserer Zeit«, fuhr Wjera fort (sie redete von unserer Zeit, wie es beschränkte Leute gern tun, welche glauben, sie hätten mit feinem Urteil Besonderheiten unserer Zeit herausgefunden und die Eigenschaften der Menschen änderten sich mit den Zeiten), »in unserer Zeit hat ein junges Mädchen soviel Freiheit, daß das Vergnügen daran, sich umschwärmt zu sehen, häufig in ihrer Seele alle wahren Empfindungen erstickt. Und ich muß gestehen: auch Natascha ist dafür sehr empfänglich.« Dieses Zurückkommen auf Natascha ließ den Fürsten wieder mißmutig die Stirn runzeln; er wollte aufstehen, aber Wjera fuhr mit noch feinerem Lächeln fort:

»Ich glaube, kein Mädchen ist so umschwärmt worden wie sie; aber niemals, noch bis auf die letzte Zeit, hat ihr jemand ernstlich gefallen. Das wissen Sie ja auch, Graf«, wandte sie sich an Pierre. »Nicht einmal unser liebenswürdiger Vetter Boris, der, unter uns gesagt, sterblich in sie verliebt war.«

Fürst Andrei machte ein finsteres Gesicht und schwieg.

»Sie sind ja wohl mit Boris befreundet?« fragte ihn Wjera.

»Ja, ich kenne ihn.«

»Er hat Ihnen gewiß von seiner Kindheitsliebe zu Natascha erzählt?«

»Hat denn eine solche bestanden?« fragte Fürst Andrei plötzlich und errötete dabei.

»Ja. Sie wissen: der vertrauliche Verkehr zwischen Kusin und Kusine führt manchmal zur Liebe; Vetternschaft ist eine gefährliche Nachbarschaft. Nicht wahr?«

»Oh, ohne Zweifel!« erwiderte Fürst Andrei. Er wurde auf einmal in unnatürlicher Weise lebhaft und begann Pierre zu[341] necken: dieser solle in seinem Verkehr mit seinen Moskauer Kusinen nur ja recht vorsichtig sein. Aber mitten in diesem scherzenden Gespräch stand er auf, faßte Pierre unter den Arm und führte ihn beiseite.

»Nun, was gibt es?« fragte Pierre, der mit Erstaunen die seltsame Lebhaftigkeit seines Freundes beobachtete und den Blick wahrnahm, den dieser beim Aufstehen auf Natascha richtete.

»Ich muß mit dir sprechen, notwendig sprechen«, sagte Fürst Andrei. »Du kennst unsere Frauenhandschuhe.« (Er meinte die Handschuhe, die bei den Freimaurern dem neu aufgenommenen Bruder übergeben wurden, damit er sie der ihm geliebten Frau einhändige.) »Ich ... Aber nein, ich will ein andermal mit dir davon reden ...« Und mit einem seltsamen Glanz in den Augen und mit einer sonderbaren Unruhe in seinen Bewegungen trat Fürst Andrei zu Natascha hin und setzte sich neben sie. Pierre sah, wie Fürst Andrei sie etwas fragte, und wie sie unter tiefem Erröten ihm antwortete.

Aber in diesem Augenblick trat Berg zu Pierre und bat ihn dringend, sich an einer Debatte über die kriegerischen Operationen in Spanien zu beteiligen, die sich zwischen dem General und dem Obersten entsponnen hatte.

Berg war zufrieden und glücklich. Ein Lächeln der Freude wich nicht von seinem Gesicht. Die Abendgesellschaft war sehr gut und ganz von derselben Art wie andere Abendgesellschaften, bei denen er gewesen war. Alles war ebenso: das helltönende Geplauder der Damen, und der Kartentisch, und am Kartentisch der General mit seiner lauten, herausfordernden Stimme, und der Samowar, und das Gebäck; aber eines mangelte noch, etwas, was ihm immer auf den Abendgesellschaften, die er nachzumachen suchte, entgegen getreten war: es mangelte noch ein lautes Gespräch unter den Männern und ein Streit über irgendeinen[342] wichtigen, ernsten Gegenstand. Ein solches Gespräch hatte nun der General angefangen, und Berg beeilte sich, Pierre zu diesem Gespräch mit heranzuziehen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 338-343.
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