III

[481] Im Jahre 1810 lebte in Moskau ein französischer Arzt namens Métivier, der schnell Mode geworden war. Er war ein schöner Mann, von sehr hohem Wuchs, liebenswürdig wie alle Franzosen und, wie man in Moskau allgemein sagte, als Arzt außerordentlich tüchtig. Er verkehrte in den vornehmsten Häusern nicht als Arzt, sondern wie ein Gleichgestellter.

Fürst Nikolai Andrejewitsch spottete zwar über die medizinische Wissenschaft, hatte aber dennoch in der letzten Zeit auf Mademoiselle Bouriennes Rat diesen Arzt zu sich kommen lassen und sich dann an ihn gewöhnt. Métivier kam etwa zweimal wöchentlich zum Fürsten.

Am Nikolaustag, dem Namenstag des Fürsten, stellte sich ganz Moskau am Portal seines Hauses ein; aber er hatte Befehl gegeben, niemand anzunehmen und nur einige wenige, von denen er der Prinzessin Marja ein Verzeichnis eingehändigt hatte, zum Mittagessen einzuladen.

Métivier, der am Morgen zum Gratulieren kam, hielt sich in seiner Eigenschaft als Arzt für berechtigt, die Absperrung zu durchbrechen, wie er zu der Prinzessin Marja sagte, und ging zum Fürsten hinein. Es traf sich, daß der alte Fürst gerade am Morgen dieses Namenstages besonders schlechter Laune war. Er wanderte den ganzen Morgen durch das Haus, suchte mit allen, die er traf, Händel und stellte sich, als ob er nicht verstände, was sie zu ihm sagten, und als ob sie ihn nicht verständen. Prinzessin Marja kannte diesen Zustand stiller, verbissener Knurrigkeit, der gewöhnlich mit einem Wutausbruch endete, ganz genau und ging den ganzen Morgen über umher, wie wenn eine geladene Flinte mit aufgezogenen Hähnen auf sie gerichtet wäre und sie den unausbleiblichen Schuß erwartete. Die Stunden[482] vor der Ankunft des Arztes waren glücklich vorübergegangen. Nachdem Prinzessin Marja den Arzt hereingelassen hatte, setzte sie sich im Salon mit einem Buch in die Nähe der Tür, von wo aus sie alles hören konnte, was im Zimmer ihres Vaters vorging.

Zuerst hörte sie nur die Stimme Métiviers, dann die Stimme ihres Vaters; dann sprachen beide Stimmen zugleich; beide Flügel der Tür wurden heftig aufgestoßen, und auf der Schwelle erschien Métivier mit seinem vollen, schwarzen Haar, auf dem schönen Gesicht den Ausdruck der Bestürzung, und der Fürst in Nachtmütze und Schlafrock mit wutentstelltem Gesicht und rollenden Augen.

»Du verstehst mich nicht?« schrie der Fürst. »Aber ich durchschaue dich! Du französischer Spion, Sklave Bonapartes, du Spion, hinaus aus meinem Haus! Hin aus, sage ich ...!« Er schlug die Tür zu.

Métivier trat, die Achseln zuckend, zu Mademoiselle Bourienne, die auf das Geschrei aus dem Nebenzimmer herbeigelaufen kam.

»Der Fürst ist nicht ganz wohl«, sagte er. »Galle und Blutandrang nach dem Gehirn. Beruhigen Sie sich; ich komme morgen wieder heran.« Er legte einen Finger an die Lippen und entfernte sich eilig.

Durch die geschlossene Tür konnte man hören, wie der Fürst in seinen Pantoffeln hin und her ging und schrie: »Spione, Verräter, überall Verräter! Im eigenen Haus hat man keinen Augenblick Ruhe!«

Nach Métiviers Weggang rief der alte Fürst seine Tochter zu sich, und nun brach die ganze Wucht seines Zornes über sie herein. Sie sei daran schuld, daß der Spion zu ihm gelassen worden sei. Er habe doch gesagt, habe ihr gesagt, es solle niemand vorgelassen und nur diejenigen, die auf der Liste ständen, zum Mittagessen eingeladen werden. Warum sei nun dieser Schurke doch hereingelassen?[483] Sie sei an allem schuld. Wenn er mit ihr zusammenlebe, habe er keinen Augenblick Ruhe und könne nicht ruhig sterben. So zeterte er.

»Nein, mein Kind, wir müssen uns trennen, müssen uns trennen! Das mögen Sie wissen, das mögen Sie wissen! Ich kann das nicht länger ertragen!« rief er und ging aus dem Zimmer. Und als ob er fürchtete, sie könnte die Sache irgendwie nicht ernst genug nehmen, kehrte er noch einmal zu ihr zurück und fügte, indem er eine ruhige Miene anzunehmen suchte, hinzu: »Glauben Sie nicht, daß ich das nur so in einem Augenblick des Zornes zu Ihnen sage; ich bin ganz ruhig und habe es mir wohl überlegt. Und es wird auch geschehen; wir müssen uns trennen; suchen Sie sich einen andern Ort zum Wohnen ...!« Aber er konnte sich doch nicht länger beherrschen, und mit jener Bosheit, deren nur ein Mensch fähig ist, der sein Opfer doch liebt, schüttelte er, offenbar selbst unter seiner Handlungsweise leidend, die Fäuste und schrie ihr zu:

»Wenn sie doch irgendeinen Dummkopf fände, der sie heiratete!« Er schlug die Tür hinter sich zu; dann steckte er noch einmal den Kopf hindurch und rief Mademoiselle Bourienne zu sich, und nun wurde es in seinem Zimmer still.

Um zwei Uhr trafen die sechs Personen ein, die für das Diner auserwählt waren.

Die Gäste – nämlich der bekannte Graf Rastoptschin, Fürst Lopuchin mit seinem Neffen, General Tschatrow, ein alter Kriegskamerad des Fürsten, und zwei jüngere Leute: Pierre und Boris Drubezkoi – erwarteten den alten Fürsten im Salon.

Boris, der vor kurzem auf Urlaub nach Moskau gekommen war, hatte den lebhaften Wunsch gehabt, dem Fürsten Nikolai Andrejewitsch vorgestellt zu werden, und es dermaßen verstanden, sich dessen Gunst zu erwerben, daß der Fürst, während[484] er sonst unverheiratete junge Männer in seinem Haus nicht verkehren ließ, mit ihm eine Ausnahme machte.

Das Haus des Fürsten nahm nicht eigentlich am gesellschaftlichen Leben teil; aber es kam dort ein kleiner Kreis von Männern zusammen, von dem zwar in der Stadt nicht viel gesprochen wurde, zu welchem zugelassen zu werden aber besonders schmeichelhaft war. Das hatte auch Boris vor einer Woche gemerkt, als in seiner Gegenwart der Oberkommandierende den Grafen Rastoptschin auf den Nikolaustag zum Diner eingeladen und dieser ihm erwidert hatte, er könne nicht kommen:

»An diesem Tag begebe ich mich immer zu den Gebeinen des Fürsten Nikolai Andrejewitsch, um ihnen meine Verehrung zu erweisen.«

»Ach ja, ja, richtig«, hatte der Oberkommandierende geantwortet. »Was macht er denn?«

Die kleine Gesellschaft, die sich vor dem Diner in dem altmodischen, hohen, mit alten Möbeln ausgestatteten Salon versammelt hatte, machte den Eindruck eines feierlichen Gerichtstribunals. Alle schwiegen, und wenn sie redeten, so taten sie es nur in gedämpftem Ton. Nun trat Fürst Nikolai Andrejewitsch ein, ernst und schweigsam. Prinzessin Marja schien noch stiller und schüchterner zu sein als gewöhnlich. Die Gäste redeten sie nur ungern an, weil sie sahen, daß sie keine Neigung hatte sich mit ihnen zu unterhalten. Graf Rastoptschin hielt ganz allein das Gespräch im Gang, indem er die letzten Neuigkeiten aus der Stadt und aus der Politik erzählte. Lopuchin und der alte General beteiligten sich am Gespräch nur ab und zu.

Fürst Nikolai Andrejewitsch hörte zu, so wie ein höherer Richter die Berichte anhört, die ihm erstattet werden, und bekundete nur von Zeit zu Zeit durch eine stumme Gebärde oder durch ein kurzes Wort, daß er das, was ihm berichtet wurde, zur Kenntnis[485] nahm. Aus dem Ton des Gesprächs war zu entnehmen, daß keiner das billigte, was im politischen Leben vorging. Es wurden Ereignisse erzählt, welche deutlich zeigten, daß alles einen immer schlechteren Gang nahm; aber bei jeder Erzählung und Kritik war auffallend, daß der Redende jedesmal an demjenigen Punkt entweder selbst innehielt oder von einem andern angehalten wurde, wo die Kritik sich auf die Person des Kaisers zu beziehen begann.

Bei Tisch kam das Gespräch auf die letzte politische Neuigkeit: die Annexion der Länder des Herzogs von Oldenburg durch Napoleon und die gegen Napoleon gerichtete Note, welche die russische Regierung an alle europäischen Höfe gesandt hatte.

»Bonaparte verfährt mit Europa wie ein Pirat mit einem eroberten Schiff«, bemerkte Graf Rastoptschin und wiederholte damit eine Wendung, deren er sich an anderen Stellen bereits mehrmals bedient hatte. »Man kann sich nur über die Langmut oder die Verblendung der Herrscher wundern. Jetzt kommt nun der Papst an die Reihe: Bonaparte, der sich vor nichts mehr zu scheuen scheint, will das Oberhaupt der katholischen Kirche stürzen – und alle schweigen dazu! Der einzige, der gegen die Einziehung der Besitzungen des Herzogs von Oldenburg protestiert hat, ist unser Kaiser, und das ...« Hier brach Graf Rastoptschin ab, da er merkte, daß er an die Grenze gelangt war, bei der die Kritik haltzumachen hatte.

»Es sind ihm andere Besitzungen an Stelle des Herzogtums Oldenburg angeboten worden«, sagte Fürst Nikolai Andrejewitsch. »Gerade wie ich Bauern von Lysyje-Gory nach Bogutscharowo und den Rjasanschen Gütern versetzt habe, so macht er es mit Herzögen.«

»Der Herzog von Oldenburg erträgt sein Unglück mit einer bewundernswerten Charakterstärke und Ergebung«, beteiligte sich Boris respektvoll an dem Gespräch.[486]

Er sagte das deswegen, weil er auf der Fahrt von Petersburg die Ehre gehabt hatte, dem Herzog vorgestellt zu werden. Fürst Nikolai Andrejewitsch sah den jungen Mann so an, als wollte er ihm etwas darauf erwidern; aber er besann sich eines andern, da er ihn dafür denn doch für zu jung erachtete.

»Ich habe unseren Protest in der oldenburgischen Angelegenheit gelesen und bin über die schlechte Form, in der die Note abgefaßt ist, erstaunt gewesen«, sagte Graf Rastoptschin in dem lässigen Ton eines Mannes, der über eine Sache urteilt, in der er gut Bescheid weiß. Pierre blickte den Grafen Rastoptschin mit naiver Verwunderung an und begriff nicht, warum ihn die schlechte Fassung der Note so verdrießen könne.

»Ist es denn nicht ganz gleich, wie die Note geschrieben ist, Graf«, sagte er, »wenn nur ihr Inhalt kräftig und energisch ist?«

»Mein Lieber, mit unseren fünfmalhunderttausend Mann Soldaten ist es eigentlich leicht, einen guten Stil zu schreiben«, erwiderte Graf Rastoptschin. Pierre begriff nun, was dem Grafen Rastoptschin an der Fassung der Note mißfiel.

»Die Sorte der schlechten Schreiber scheint sich gewaltig vermehrt zu haben«, sagte der alte Fürst. »Da in Petersburg schreibt jeder Mensch, und nicht nur Noten; sie schreiben auch neue Gesetze. Mein Andrei hat für Rußland einen ganzen Band neuer Gesetze zusammengeschrieben. Heutzutage schreibt eben jeder!« Er lachte in gekünstelter Art.

Das Gespräch verstummte einen Augenblick; dann zog der alte General dadurch, daß er sich räusperte, die Aufmerksamkeit auf sich.

»Haben Sie schon von den Vorfällen bei den letzten Paraden in Petersburg gehört? Der neue französische Gesandte hat sich in einer unerhörten Weise benommen!«[487]

»Ja, ich habe etwas davon gehört; er hat in Gegenwart Seiner Majestät etwas Ungehöriges gesagt.«

»Seine Majestät lenkte bei der vorletzten Parade die Aufmerksamkeit des Gesandten auf die Grenadierdivision und ihren Parademarsch«, fuhr der General fort, »aber der Gesandte soll gar nicht danach hingesehen, sondern gesagt haben: ›Wir legen bei uns in Frankreich auf solche nutzlosen Äußerlichkeiten keinen Wert.‹ Der Kaiser hat ihm darauf nichts erwidert. Aber bei der folgenden Parade hat er ihn, wie es heißt, nicht ein einziges Mal angeredet.«

Alle schwiegen; über diese Tatsache, die auf den Kaiser persönlich Bezug hatte, durfte keinerlei Kritik ausgesprochen werden.

»Eine freche Sorte!« sagte der Fürst. »Kennen Sie Métivier? Ich habe ihn heute aus meinem Haus gejagt. Er war hier; man hatte ihn zu mir hereingelassen, obwohl ich angeordnet hatte, niemandem den Eintritt zu gestatten«, fügte er mit einem zornigen Blick auf seine Tochter hinzu.

Und nun erzählte er sein ganzes Gespräch mit dem französischen Arzt und führte die Gründe an, die ihn zu der Überzeugung gebracht hatten, daß Métivier ein Spion sei. Obgleich diese Gründe sehr unzulänglich und unklar waren, wandte dennoch niemand etwas dagegen ein.

Nach dem Braten wurde Champagner gereicht. Die Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und beglückwünschten den alten Fürsten. Auch Prinzessin Marja trat zu ihm.

Er sah sie mit einem kalten, grimmigen Blick an und hielt ihr seine runzlige, rasierte Wange zum Kuß hin. Der gesamte Ausdruck seines Gesichtes sagte ihr, daß er das Gespräch vom Vormittag keineswegs vergessen habe, daß sein Entschluß in voller Kraft bestehen bleibe, und daß er ihr das nur mit Rücksicht auf die Anwesenheit der Gäste nicht mit Worten ausspreche.[488]

Als alle aus dem Speisezimmer wieder zum Kaffee in den Salon gegangen waren, setzten sich die alten Herren zusammen.

Fürst Nikolai Andrejewitsch wurde nun lebhafter und legte seine Ansicht über den bevorstehenden Krieg dar.

Er sagte, unsere Kriege mit Bonaparte würden so lange einen unglücklichen Verlauf nehmen, als wir Bündnisse mit den Deutschen suchten und uns in die europäischen Angelegenheiten einmischten, in die uns der Tilsiter Friede hineingezogen habe. Wir dürften weder für Österreich noch gegen Österreich Krieg führen. Unsere Politik habe sich ganz auf den Osten zu beschränken, und was Bonaparte beträfe, so sei das einzig Richtige eine starke Truppenmacht an der Grenze und eine feste, energische Politik; dann werde er nie wieder wagen, die russische Grenze zu überschreiten, wie im Jahre 1807.

»Aber wie wäre es denn möglich, daß wir mit den Franzosen Krieg führten, Fürst!« entgegnete Graf Rastoptschin. »Können wir denn gegen unsere Lehrmeister und Abgötter die Waffen erheben? Sehen Sie nur unsere Jugend an, sehen Sie nur unsere Damen an! Die Franzosen sind unsere Abgötter, und Paris ist unser Himmelreich.«

Er begann lauter zu sprechen, offenbar damit alle ihm zuhören möchten:

»Wir tragen französische Kleider, wir denken und fühlen wie Franzosen! Da haben Sie nun diesen Métivier mit einem Fußtritt hinausspediert, weil er ein Franzose und ein Nichtswürdiger ist; aber unsere Damen rutschen vor ihm auf den Knien herum. Gestern war ich auf einer Abendgesellschaft; da waren unter fünf anwesenden Damen drei Katholikinnen, die sich vom Papst besonderen Dispens haben geben lassen, am Sonntag auf Kanevas zu sticken; aber dabei saßen sie beinahe nackt da, wie die Figuren auf den Aushängeschildern der öffentlichen Badehäuser, mit Erlaubnis[489] zu sagen. Ach, wenn ich so unsere jungen Leute ansehe, Fürst, da möchte ich am liebsten den alten Stock Peters des Großen aus der Kunstkammer nehmen und ihnen auf russische Manier den Buckel vollhauen; da sollte ihnen ihre Narrheit wohl vergehen!«

Alle schwiegen. Der alte Fürst sah Rastoptschin lächelnd an und wiegte beifällig den Kopf hin und her.

»Nun, dann leben Sie wohl, Euer Durchlaucht, und halten Sie sich alle Krankheit vom Leib«, sagte Rastoptschin, indem er mit den ihm eigenen schnellen Bewegungen aufstand und dem Fürsten die Hand hinstreckte.

»Lebe wohl, mein Bester; deine Tonart höre ich immer mit großer Freude!« sagte der alte Fürst; er hielt die Hand Rastoptschins in der seinigen fest und hielt ihm die Wange zum Kuß hin. Gleichzeitig mit Rastoptschin hatten sich auch die andern erhoben.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 481-490.
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