[580] Pierre blieb nicht zum Mittagessen, sondern fuhr, nachdem er Nataschas Zimmer verlassen hatte, sofort weg. Er fuhr in der Stadt umher, um Anatol Kuragin zu suchen; der Gedanke an diesen Menschen ließ ihm alles Blut zum Herzen strömen und machte es ihm schwer, Atem zu holen. In den Vergnügungslokalen auf den Sperlingsbergen, bei den Zigeunern, bei Comoneno war er nicht. Pierre fuhr in den Klub. Im Klub ging alles in der gewohnten Ordnung: die Gäste, die sich zum Diner versammelten, saßen gruppenweise zusammen, begrüßten Pierre und unterhielten sich mit Stadtneuigkeiten. Der Diener, der ihn gleichfalls begrüßte und mit seinem Bekanntenkreis und seinen Gewohnheiten vertraut war, meldete ihm, es sei ein Platz für ihn im kleinen Speisesaal reserviert; Fürst Michail Sacharowitsch befinde sich in der Bibliothek, aber Pawel Timofjejewitsch sei noch nicht gekommen. Einer von Pierres Bekannten fragte ihn mitten in einem Gespräch über das Wetter, ob er von der Entführung der Komtesse Rostowa durch Kuragin gehört habe; es werde viel in der Stadt darüber gesprochen; ob etwas Wahres daran sei. Pierre lachte laut auf und erwiderte, es sei der reine Unsinn; er komme eben von Rostows. Er erkundigte sich bei allen seinen Bekannten nach Anatol; der eine sagte ihm, Anatol sei noch nicht gekommen, ein anderer, er werde heute hier im Klub dinieren. Es war für Pierre eine seltsame Empfindung, auf diese ruhige, gleichmütige Menschenmenge hinzublicken, die keine Ahnung davon hatte, was in seiner Seele vorging. Er schlenderte durch den Saal, wartete, bis sich alle eingefunden hatten, die im Klub dinieren wollten, und da Anatol nicht erschienen war, so blieb auch er nicht zum Essen da, sondern fuhr nach seiner Wohnung.[581]
Anatol, den er suchte, speiste an diesem Tag bei Dolochow und beriet mit ihm darüber, wie sich wohl das mißglückte Unternehmen mit besserem Erfolg wiederholen lasse. Unbedingt notwendig erschien ihm zu diesem Zweck eine Zusammenkunft mit der Komtesse Rostowa. So fuhr er denn am Abend zu seiner Schwester, um mit ihr zu besprechen, wie eine solche Zusammenkunft zu ermöglichen sei. Als Pierre, nachdem er vergeblich in ganz Moskau umhergefahren war, nach Hause zurückkehrte, meldete ihm sein Kammerdiener, Fürst Anatol Wasiljewitsch sei bei der Gräfin. Der Salon der Gräfin war voll von Gästen.
Pierre begab sich in den Salon und ging, als er Anatol erblickte, auf diesen zu, ohne seine Frau zu begrüßen, die er nach seiner Rückkehr aus Twer noch nicht wieder gesehen hatte (sie war ihm in diesem Augenblick verhaßter als je zuvor).
»Ah, Pierre«, sagte die Gräfin, zu ihrem Mann herankommend. »Du ahnst nicht, in welcher Gemütsverfassung sich unser Anatol befindet ...«
Sie hielt inne, da sie an dem niedergebeugten Kopf ihres Mannes, an seinen funkelnden Augen und an seinem entschlossenen Gang den ihr wohlbekannten furchtbaren Ausdruck jener Wut und Kraft wahrnahm, die sie nach dem Duell mit Dolochow an sich selbst erfahren hatte.
»Wo Sie sind, da ist Sittenlosigkeit und Unheil«, sagte Pierre zu seiner Frau. »Kommen Sie, Anatol, ich habe mit Ihnen zu reden«, sagte er zu diesem auf französisch.
Anatol blickte seine Schwester an, erhob sich gehorsam und war bereit, Pierre zu folgen. Dieser faßte ihn am Arm, zog ihn zu sich heran und ging zur Tür.
»Wenn Sie sich erlauben, in meinem Salon ...«, flüsterte ihm Helene noch zu; aber Pierre verließ das Zimmer, ohne ihr zu antworten.[582]
Anatol ging in seinem gewöhnlichen, flotten Gang hinter ihm her. Aber auf seinem Gesicht war doch eine gewisse Unruhe wahrzunehmen. Als sie in Pierres Arbeitszimmer gekommen waren, machte dieser die Tür zu und wandte sich zu Anatol, jedoch ohne ihn anzublicken.
»Haben Sie der Komtesse Rostowa die Ehe versprochen und sie entführen wollen?«
»Mein Lieber«, antwortete Anatol auf französisch, und das ganze Gespräch wurde nun in dieser Sprache geführt, »ich halte mich nicht für verpflichtet, auf Fragen zu antworten, die mir in solchem Ton gestellt werden.«
Pierres Gesicht, das schon vorher blaß gewesen war, verzerrte sich nun vor Wut. Er packte mit seiner großen Hand Anatol am Kragen der Uniform und schüttelte ihn so lange von einer Seite zur andern, bis Anatols Gesicht einen genügenden Ausdruck von Angst angenommen hatte.
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mit Ihnen zu reden habe ...«, stieß Pierre heraus.
»Na, aber, das ist doch ein törichtes Benehmen; nicht?« sagte Anatol und fühlte nach dem Kragenknopf, der mitsamt dem Tuch losgerissen war.
»Sie sind ein Schurke und ein Nichtswürdiger, und ich weiß nicht, was mich abhält, mir das Vergnügen zu bereiten, Ihnen mit diesem Gegenstand hier den Kopf zu zerschmettern«, sagte Pierre, der sich so gekünstelt ausdrückte, weil er französisch sprach.
Er hatte einen schweren Briefbeschwerer in die Hand genommen und drohend in die Höhe gehoben, legte ihn aber eilig wieder auf seinen Platz.
»Haben Sie ihr die Ehe versprochen?«[583]
»Ich ... ich ... ich habe daran überhaupt nicht gedacht; übrigens habe ich es schon deswegen nie versprochen, weil ...«
Pierre unterbrach ihn:
»Haben Sie Briefe von ihr? Haben Sie Briefe?« fragte er und trat dabei dicht an Anatol heran.
Anatol sah ihn an, fuhr sogleich mit der Hand in die Tasche und holte seine Brieftasche heraus.
Pierre nahm den ihm hingereichten Brief und ließ sich, einen ihm im Weg stehenden Tisch wegstoßend, auf das Sofa sinken.
»Ich werde nichts Gewalttätiges begehen; fürchten Sie nichts!« bemerkte er als Antwort auf eine ängstliche Gebärde Anatols.
»Erstens die Briefe«, sagte er dann, wie wenn er für sich eine auswendig gelernte Lektion repetierte. »Zweitens«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, indem er wieder aufstand und hin und her zu gehen begann, »zweitens müssen Sie morgen Moskau verlassen.«
»Aber wie kann ich denn ...«
»Drittens«, fuhr Pierre, ohne auf ihn zu hören, fort, »dürfen Sie nie ein Wort über das, was zwischen Ihnen und der Komtesse vorgefallen ist, verlauten lassen. Ich weiß, daß ich Sie daran nicht hindern kann; aber wenn Sie noch einen Funken von Gewissen besitzen ...« Pierre durchmaß einige Male schweigend das Zimmer.
Anatol saß an einem Tisch, zog finster die Brauen zusammen und biß sich auf die Lippen.
»Sie sollten doch endlich einmal begreifen, daß außer Ihrem Vergnügen auch das Glück und die Ruhe anderer Menschen eine gewisse Daseinsberechtigung haben, und daß Sie ein ganzes Leben zerstören, nur um sich zu amüsieren. Vertreiben Sie sich[584] die Zeit mit solchen Weibern wie meine Frau; denen gegenüber sind Sie dazu berechtigt; die wissen, was Sie von ihnen verlangen, und besitzen auch dieselbe Erfahrung im Laster wie Sie und können diese Erfahrung als Waffe gegen Sie gebrauchen. Aber einem unschuldigen jungen Mädchen die Ehe zu versprechen, ... sie zu betrügen, zu entführen ... Sie müßten doch begreifen, daß das ebenso gemein ist, wie wenn jemand einen Greis oder ein kleines Kind mißhandelt ...!«
Pierre hielt inne und blickte Anatol nicht mehr zornig, sondern nur fragend an.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Anatol, der in demselben Maß mutiger wurde, wie Pierre seinen Zorn bemeisterte. »Das weiß ich nicht und will ich auch gar nicht wissen«, sagte er, ohne Pierre anzusehen, mit einem leisen Zittern des Unterkiefers. »Aber Sie haben mir gegenüber Ausdrücke gebraucht wie ›gemein‹ und dergleichen, und solche Ausdrücke kann ich mir als Mann von Ehre von niemandem gefallen lassen.«
Pierre sah ihn erstaunt an und konnte nicht begreifen, was er eigentlich wollte.
»Und wenn es auch unter vier Augen war«, fuhr Anatol fort, »so kann ich doch nicht ...«
»Ach so, Sie wünschen Satisfaktion?« fragte Pierre spöttisch.
»Wenigstens könnten Sie Ihre Ausdrücke wieder zurücknehmen. Nicht wahr? Wenn Sie wollen, daß ich Ihre Wünsche erfülle ... Nicht wahr?«
»Ich nehme sie zurück, ich nehme sie zurück«, murmelte Pierre, »und ich bitte Sie um Entschuldigung.« Pierre blickte unwillkürlich nach dem losgerissenen Knopf hin. »Und wenn Sie Geld für die Reise nötig haben ...«
Anatol lächelte. Dieses blöde, gemeine Lächeln, das Pierre von seiner Frau her kannte, versetzte ihn in Empörung.[585]
»Eine gemeine, herzlose Sorte!« sagte er vor sich hin und ging aus dem Zimmer.
Am andern Tag reiste Anatol nach Petersburg ab.
Buchempfehlung
1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro