IX

[55] Fürst Andrei traf Ende Juni im Hauptquartier ein. Die Truppen der ersten Armee, derjenigen, bei der sich der Kaiser befand, waren in einem befestigten Lager an der Drissa untergebracht; die Truppen der zweiten Armee, welche den Versuch gemacht hatten, sich mit der ersten zu vereinigen, waren zurückgewichen, weil sie, wie es hieß, durch überlegene französische Streitkräfte von jener abgeschnitten worden waren. Alle waren mit dem gesamten Gang, den der Krieg für die russische Armee nahm, unzufrieden; aber an die Gefahr eines Einrückens der Feinde in die russischen Gouvernements dachte niemand; niemand glaubte, daß sich der Krieg noch über die westlichen, polnischen Gouvernements hinaus ausdehnen werde.

Fürst Andrei fand Barclay de Tolly, dem er zugewiesen war,[55] am Ufer der Drissa. Da in der Nähe des Lagers kein größeres Dorf oder Städtchen lag, so hatte sich die ganze gewaltige Menge der Generale und Hofleute, die sich bei der Armee befand, in einem Umkreis von zehn Werst in den besten Häusern der kleinen Dörfchen diesseits und jenseits des Flusses einquartiert. Barclay de Tollys Quartier lag vier Werst von dem des Kaisers entfernt. Er empfing Bolkonski trocken und kühl und sagte ihm mit seiner deutschen Aussprache, er werde dem Kaiser über ihn Meldung machen, damit ihm eine bestimmte Stellung zugewiesen werde; vorläufig ersuche er ihn, bei seinem Stab zu bleiben. Anatol Kuragin, den Fürst Andrei bei der Armee zu finden gehofft hatte, war nicht dort: er war jetzt wieder in Petersburg; und diese Nachricht war dem Fürsten Andrei angenehm. Der gewaltige Krieg, der sich jetzt abspielte und in dessen Zentrum er sich befand, nahm ihn ganz in Anspruch, und er war froh, auf einige Zeit von der gereizten Stimmung freizukommen, die der Gedanke an Kuragin bei ihm hervorrief. Während der ersten vier Tage, wo niemand von ihm eine Tätigkeit verlangte, ritt Fürst Andrei das ganze befestigte Lager ab und suchte mit Hilfe seiner Kenntnisse und eingehender Gespräche mit Sachkundigen sich eine bestimmte Meinung darüber zu bilden. Aber die Frage, ob dieses Lager vorteilhaft oder unvorteilhaft sei, mochte Fürst Andrei nicht entscheiden. Er hatte aus seiner militärischen Erfahrung bereits die Überzeugung gewonnen, daß im Krieg die mit der tiefsten Gelehrsamkeit ausgedachten Pläne nichts nützen (wie er das bei der Schlacht bei Austerlitz mit angesehen hatte), sondern alles davon abhängt, wie man auf die unerwarteten und gar nicht vorherzusehenden Handlungen des Feindes antwortet, sowie davon, wie und von wem die ganze Sache geleitet wird. Um über diese letzte Frage ins klare zu kommen, suchte Fürst Andrei unter Benutzung seiner Stellung und seiner Bekanntschaften[56] in den Charakter der Heeresleitung, d.h. der an ihr beteiligten Personen und Parteien einzudringen, und gelangte dabei zu folgender Anschauung von der Lage der Dinge.

Als sich der Kaiser noch in Wilna befand, war die Armee in drei Teile geteilt: die erste Armee kommandierte Barclay de Tolly, die zweite Bagration, die dritte Tormasow. Der Kaiser befand sich bei der ersten Armee, aber nicht in der Eigenschaft eines Oberkommandierenden. In den Tagesbefehlen an die Armeen war nicht gesagt, daß der Kaiser das Kommando führen werde; gesagt war nur, er werde bei der Armee sein. Außerdem war beim Kaiser persönlich nicht der Stab des Oberkommandierenden, sondern der Stab des kaiserlichen Hauptquartiers. Bei ihm befanden sich: der Chef des kaiserlichen Stabes, Generalquartiermeister Fürst Wolkonski, Generale, Flügeladjutanten, Beamte der Diplomatie und eine große Anzahl von Ausländern; aber der Stab der Armee war nicht da. Außerdem waren ohne eigentliches Amt in der Umgebung des Kaisers: der frühere Kriegsminister Araktschejew; Graf Bennigsen, der Rangälteste unter den Generalen; der Großfürst Thronfolger Konstantin Pawlowitsch; der Kanzler Graf Rumjanzew; der ehemalige preußische Minister Stein; der schwedische General Armfelt; Pfuel, der bei der Aufstellung des Feldzugsplanes die Oberleitung gehabt hatte; der Generaladjutant Paulucci, ein sardinischer Emigrant; Wolzogen und viele andere. Obgleich diese Personen sich ohne ein militärisches Amt bei der Armee befanden, übten sie doch vermöge ihrer Stellung einen großen Einfluß aus, und oftmals wußte ein Korpskommandeur oder sogar der Oberkommandierende selbst nicht, in welcher Eigenschaft Bennigsen oder der Großfürst oder Araktschejew oder Fürst Wolkonski über dies und das Fragen stellten und den einen oder andern Rat gaben, und ob eine solche in Form eines Rates gekleidete Weisung von diesen Herren persönlich[57] oder vom Kaiser herrührte, und ob sie somit befolgt werden mußte oder nicht. Aber dies war nur etwas mehr Äußerliches; welche Bedeutung die Anwesenheit des Kaisers und aller dieser Personen in Wirklichkeit hatte, das war vom höfischen Standpunkt aus (und bei Anwesenheit des Kaisers werden alle zu Hofleuten) einem jeden klar. Diese Bedeutung war folgende: der Kaiser hatte den Titel eines Oberkommandierenden nicht angenommen, traf aber Anordnungen für alle Armeen, und die Männer, die ihn umgaben, waren dabei seine Gehilfen. Araktschejew war ein treuer Vollstrecker der kaiserlichen Befehle, ein Wächter der Ordnung, ein Leibtrabant des Kaisers. Bennigsen besaß im Gouvernement Wilna Güter und machte sozusagen die Honneurs des Gouvernements; er war wirklich ein tüchtiger General, im Rat gut zu gebrauchen und auch insofern nützlich, als man ihn immer in Bereitschaft hatte, um Barclay zu ersetzen. Der Großfürst war da, weil es ihm so beliebte, der ehemalige Minister Stein, weil er bei Beratungen nützliche Dienste leisten konnte und weil Kaiser Alexander seine persönlichen Eigenschaften hoch schätzte. Armfelt war ein grimmiger Hasser Napoleons und ein General, der ein großes Selbstvertrauen besaß, was auf Kaiser Alexander nie seine Wirkung verfehlte. Paulucci war da, weil er im Reden eine große Dreistigkeit und Entschiedenheit an den Tag legte. Die Generaladjutanten waren da, weil sie eben überall zu finden waren, wo sich der Kaiser Alexander von der Zweckmäßigkeit dieses Planes überzeugt hatte und nun die gesamten Operationen leitete. Zu Pfuel gehörte auch Wolzogen, dessen Aufgabe es war, Pfuels Gedanken in verständlicherer Form vorzutragen, als es dieser selbst, ein krasser, selbstbewußter, alle anderen verachtender Stubengelehrter vermochte.[58]

Außer diesen genannten Personen, teils Russen, teils Ausländer (von denen besonders die Ausländer mit derjenigen Dreistigkeit, die sich die Menschen beim Wirken in fremder Umgebung gern aneignen, alle Tage neue, überraschende Pläne in Vorschlag brachten), waren noch viele Personen zweiten Ranges da, die sich deshalb bei der Armee befanden, weil ihre Chefs dort waren.

Aus all den Meinungen und Reden bei dieser gewaltigen, unruhigen, glänzenden, stolzen Menschenklasse erkannte Fürst Andrei die folgenden Richtungen und Parteien heraus, die ziemlich scharf voneinander gesonderte Unterabteilungen darstellten.

Die erste Partei wurde von Pfuel und seinen Anhängern gebildet, Theoretikern des Krieges, die da glaubten, es gebe eine Wissenschaft des Krieges und in dieser Wissenschaft unveränderliche Gesetze, Gesetze der schrägen Bewegung, der Umgebung usw. Gemäß diesen strikten, von der vermeintlichen Theorie des Krieges vorgeschriebenen Gesetzen verlangten Pfuel und seine Anhänger, die Armeen sollten sich tief in das Innere des Landes zurückziehen, und erblickten in jeder Abweichung von dieser Theorie nur Barbarentum, Mangel an Bildung oder böse Absichten. Zu dieser Partei gehörten die deutschen Prinzen, Wolzogen, Wintzingerode und andere, hauptsächlich Deutsche.

Die zweite Partei stand zu der ersten in schroffem Gegensatz. Wie es gewöhnlich der Fall ist, fehlte es dem einen Extrem gegenüber nicht an Vertretern des anderen Extrems. Die Männer dieser Partei waren diejenigen, die in Wilna verlangt hatten, man solle nach Polen vorrücken und sich durch keinerlei im voraus festgesetzte Pläne in der Bewegungsfreiheit beschränken lassen. Abgesehen davon, daß die Anhänger dieser Partei für kühnes Handeln eintraten, waren sie auch gleichzeitig[59] die Vertreter der nationalen Richtung, was sie bei den Debatten noch einseitiger machte. Dies waren die Russen Bagration, Jermolow, dessen Stern damals im Aufsteigen begriffen war, und einige andere. Damals wurde zuerst das bekannte Witzwort Jermolows kolportiert: er wolle den Kaiser nur um die eine Gnade bitten, ihn zum Deutschen zu ernennen. Die Männer dieser Partei sagten unter Berufung auf Suworow, man müsse nicht grübeln, nicht die Landkarte mit Stecknadeln bestecken, sondern kämpfen, den Feind schlagen, ihn nicht nach Rußland hineinlassen und dafür sorgen, daß die Truppen nicht mutlos würden.

Zu der dritten Partei, zu welcher der Kaiser das meiste Vertrauen hatte, gehörten Hofleute, die einen Kompromiß zwischen den erstgenannten beiden Richtungen herzustellen suchten. Die Männer dieser Partei, zu der auch Araktschejew, größtenteils aber Zivilisten gehörten, glaubten und sagten, was gewöhnlich Leute sagen, die keine eigene Überzeugung haben, aber doch eine solche zu haben scheinen möchten. Sie sagten, der Krieg verlange ohne Zweifel, namentlich wenn man es mit einem solchen Genie wie Bonaparte zu tun habe (man nannte ihn jetzt wieder Bonaparte), die tiefsinnigsten Kombinationen, eine subtile Kenntnis der Wissenschaft, und auf diesem Gebiet sei Pfuel geradezu genial; aber zugleich müsse man zugeben, daß die Theoretiker oft einseitig seien, und dürfe ihnen deshalb nicht ausschließlich vertrauen, sondern müsse auch auf das hören, was Pfuels Gegner sagten, die Männer der Praxis, die im Kriegswesen Erfahrung hätten, und aus allem die Mitte nehmen. Die Männer dieser Partei befürworteten, man solle dem Pfuelschen Plan gemäß das Lager an der Drissa beibehalten, aber die Bewegungen der anderen Armeen ändern. Obgleich bei dieser Art zu handeln weder das eine noch das andere Ziel erreicht[60] wurde, schien es den Männern dieser Partei dennoch so das beste zu sein.

Die vierte Richtung war die, deren hervorragendster Vertreter der Großfürst Thronfolger war, der die ihm bei Austerlitz widerfahrene Enttäuschung nicht vergessen konnte, wo er wie bei einer Parade in Helm und Koller vor der Garde einhergeritten war in der Erwartung, die Franzosen mit frischem Mut niederzuwerfen, und, da er unvermutet in die vorderste Linie gekommen war, nur mit Mühe sich in der allgemeinen Verwirrung gerettet hatte. Die Männer dieser Partei zeigten in ihren Äußerungen die Vorzüge und die Fehler der Offenherzigkeit. Sie fürchteten Napoleon, sahen in ihm ein Sinnbild der Kraft, in sich ein Sinnbild der Schwäche und sprachen dies unverhohlen aus. Sie sagten: »Dies alles führt zu weiter nichts als zu Unglück, Schande und Verderben! Wir haben Wilna aufgegeben, wir haben Witebsk aufgegeben, wir werden auch die Drissa aufgeben. Das einzig Verständige, das uns zu tun übrigbleibt, ist Frieden zu schließen, und zwar so schnell wie möglich, ehe wir auch noch aus Petersburg verjagt werden!« Diese in den höheren Schichten der Armee stark verbreitete Anschauung fand auch in Petersburg Unterstützung, sowie bei dem Kanzler Rumjanzew, der aus Gründen der Staatsräson gleichfalls für den Frieden war.

Die fünfte Partei waren diejenigen, die sich zu Barclay de Tolly hielten, weil sie, ohne alle seine menschlichen Eigenschaften zu verteidigen, seine Tätigkeit als Kriegsminister und Oberkommandierender hochschätzten. Sie sagten: »Mag er im übrigen sein, wie er will« (so begannen ihre Reden stets), »aber ehrenhaft und tüchtig ist er, und einen besseren haben wir nicht. Man gebe ihm nur eine wirkliche Macht, da ein Krieg ohne einheitliche Leitung nicht mit Erfolg geführt werden kann, und er wird zeigen, was er leisten kann, wie er es in Finnland gezeigt hat.[61] Wenn unsere Armee, ohne Niederlagen zu erleiden, in guter Ordnung und ungeschwächt bis zur Drissa zurückgegangen ist, so verdanken wir das nur Barclay. Wird Barclay jetzt durch Bennigsen ersetzt, so ist alles verloren; denn Bennigsen hat seine Unfähigkeit schon im Jahre 1807 hinreichend gezeigt.« So redeten die Männer dieser Partei.

Die Anhänger der sechsten, Bennigsenschen Partei sagten dagegen, es sei doch niemand tüchtiger und erfahrener als Bennigsen, und wie man sich auch drehen und wenden möge, man komme doch immer wieder auf ihn zurück. »Macht nur jetzt immerzu Fehler!« (Und die Männer dieser Partei bewiesen, daß unser ganzer Rückmarsch zur Drissa die schmachvollste Niederlage und eine ununterbrochene Reihe von Fehlern gewesen sei.) »Je mehr Fehler ihr macht, um so besser; wenigstens werdet ihr dann eher zu der Einsicht kommen, daß es so nicht weitergehen kann«, sagten sie. »Wir brauchen nicht einen Barclay, sondern einen Mann wie Bennigsen, der sich schon im Jahre 1807 bewährt hat und dem Napoleon selbst hat Gerechtigkeit widerfahren lassen; wir brauchen einen Mann, in dessen Hände wir mit frohem Herzen die Macht legen können. Und ein solcher Mann ist einzig und allein Bennigsen.«

Die siebente Partei bildeten Leute, wie sie in der Umgebung von Herrschern, und namentlich von jungen Herrschern, immer zu finden sind, und die in der Umgebung des Kaisers Alexander besonders zahlreich waren: Generale und Flügeladjutanten, die ihm leidenschaftlich ergeben waren und ihn nicht als Kaiser, sondern als Menschen vergötterten, aufrichtig und uneigennützig wie es Rostow im Jahre 1805 getan hatte, und die an ihm nicht nur alle Tugenden, sondern auch alle Geistesgaben fanden, die ein Mensch nur besitzen kann. Diese Männer waren zwar von der Bescheidenheit des Kaisers entzückt, der auf das Kommando[62] über die Truppen verzichtet hatte, tadelten aber dieses Übermaß von Bescheidenheit und wünschten und verlangten nur das eine: der vergötterte Kaiser möge, das übermäßige Mißtrauen gegen sich selbst ablegend, offen erklären, daß er sich an die Spitze der Truppen stelle; er möge sich mit dem Generalstab umgeben und, indem er sich erforderlichenfalls mit erfahrenen Theoretikern und Praktikern berate, selbst seine Truppen führen, die nur dadurch auf den höchsten Grad der Begeisterung gebracht werden könnten.

Die achte, größte Gruppe, die ihrer gewaltigen Quantität nach sich zu den andern wie neunundneunzig zu eins verhielt, bestand aus Menschen, die weder den Frieden noch den Krieg wünschten, weder Offensivbewegungen noch ein Defensivlager, weder an der Drissa noch sonstwo, weder Barclay noch den Kaiser, weder Pfuel noch Bennigsen, sondern nur eines, das für sie den Kern des Ganzen bildete: möglichst viel Vorteil und Vergnügen für sich selbst. In dem trüben Gewässer der einander kreuzenden und verwirrenden Intrigen, von denen es im kaiserlichen Hauptquartier wimmelte, war es in vieler Hinsicht möglich, Dinge zu erreichen, deren Erreichung zu anderer Zeit undenkbar gewesen wäre. Der eine, der weiter nichts wünschte als seine vorteilhafte Stellung nicht zu verlieren, stimmte an dem einen Tag mit Pfuel, am nächsten mit dessen Gegner, und erklärte am dritten Tag, lediglich um sich der Verantwortung zu entziehen und es dem Kaiser recht zu machen, er habe über den betreffenden Gegenstand kein eigenes Urteil. Ein anderer, welcher Vorteile zu erlangen wünschte, lenkte die Aufmerksamkeit des Kaisers dadurch auf sich, daß er das, was der Kaiser tags zuvor als seine eigene Meinung angedeutet hatte, im Kriegsrat mit großem Stimmaufwand vortrug, stritt und schrie und sich auf die Brust schlug und Andersdenkende zum Duell forderte und damit zeigte, daß er bereit sei, sich für das Gemeinwohl zum Opfer zu[63] bringen. Ein dritter forderte einfach zwischen zwei Sitzungen und in Abwesenheit seiner persönlichen Feinde für sich eine Extrabelohnung für seine treuen Dienste, da er wohl wußte, daß jetzt keine Zeit war, die Sache zu prüfen und die Bitte abzuschlagen. Ein vierter kam, anscheinend zufällig, dem Kaiser gerade in solchen Augenblicken vor Augen, wo er den Eindruck machen konnte, als sei er mit Arbeit überlastet. Ein fünfter bewies mit großer Erregung und unter Beibringung mehr oder minder starker und zutreffender Gründe die Richtigkeit oder Unrichtigkeit irgendeiner neu auftretenden Idee, lediglich um ein längst ersehntes Ziel zu erreichen: eine Einladung zur kaiserlichen Tafel. Alle, die zu dieser Partei gehörten, haschten nach Rubeln, Orden und Beförderungen und achteten bei diesen Bestrebungen nur darauf, nach welcher Richtung die Wetterfahne der kaiserlichen Gunst wies. Kaum hatten sie bemerkt, daß diese Wetterfahne sich nach einer bestimmten Seite gewandt hatte, so begann auch dieser ganze Drohnenschwarm beim Heer nach derselben Seite zu blasen, so daß es dem Kaiser um so schwerer wurde, die Fahne wieder nach einer anderen Seite zu drehen. Inmitten der Ungewißheit der Lage und angesichts der ernsten, drohenden Gefahr, die jedem Schritt etwas Beängstigendes, Aufregendes gab, und inmitten dieses Wirbels von Intrigen, von ehrgeizigen Bestrebungen und von mannigfaltigen aufeinanderprallenden Meinungen und Richtungen, und endlich bei der Nationalitätsverschiedenheit aller dieser Personen: zu alledem steigerte diese achte, größte Partei, deren Mitglieder sich nur mit persönlichen Interessen beschäftigten, noch in hohem Grad die Zerfahrenheit und Unklarheit, die in den öffentlichen Angelegenheiten herrschten. Welche Frage auch immer neu aufgeworfen wurde, der Schwarm dieser Drohnen flog, ehe noch das erste Thema erledigt war, zum neuen herüber, machte durch sein Gesumme[64] die ehrlich debattierenden Stimmen unverständlich und betäubte sie völlig.

Aus allen diesen Parteien bildete sich gerade zu der Zeit, als Fürst Andrei zur Armee kam, noch eine neunte Partei, die ihre Stimme zu erheben begann. Dies war die Partei der alten, vernünftigen Männer, die im Staatswesen Erfahrung besaßen, und ohne eine der sich bekämpfenden Meinungen zu teilen, imstande waren, alles, was beim Stab des Hauptquartiers vorging, vorurteilslos zu betrachten und auf Mittel zu sinnen, um aus dieser Unbestimmtheit, Unentschlossenheit, Verwirrung und Schwäche herauszukommen. Die Männer dieser Partei sagten und glaubten, die Übelstände kämen vorzugsweise davon her, daß der Kaiser mit seinem militärischen Hofstaat bei der Armee anwesend sei. So sei jene schwankende Unsicherheit der Beziehungen, die bei Hof am Platz sein möge, auf die Armee übertragen worden, wo sie nur schädlich wirken könne; der Kaiser müsse regieren, aber nicht die Truppen befehligen; der einzige Ausweg aus dieser Lage sei die Abreise des Kaisers mit seinem Hofstaat von der Armee; schon die bloße Anwesenheit des Kaisers fessele fünfzigtausend Mann, die zur Sicherung seiner Person nötig seien; der schlechteste, aber unabhängige Oberkommandierende werde besser sein als der beste, der durch die Anwesenheit und Obergewalt des Kaisers gebunden sei.

Gerade in der Zeit, als sich Fürst Andrei noch ohne bestimmte Tätigkeit im Lager an der Drissa aufhielt, schrieb der Staatssekretär Schischkow, einer der Hauptvertreter dieser Partei, an den Kaiser einen Brief, welchen Balaschow und Araktschejew mit unterzeichneten. In diesem Brief machte Schischkow von der Erlaubnis Gebrauch, die ihm der Kaiser gegeben hatte, sein Urteil über den allgemeinen Gang der Dinge auszusprechen, und unterbreitete dem Kaiser in aller Ehrfurcht und unter dem Vorwand,[65] es sei erforderlich, daß der Kaiser die hauptstädtische Bevölkerung für den Krieg begeistere, den Vorschlag, die Armee zu verlassen.

Daß er das Volk für den Krieg begeistern und zur Verteidigung des Vaterlandes aufrufen möge, wurde dem Kaiser gegenüber als Vorwand gebraucht, damit er (wie er es auch tat) den Vorschlag, das Heer zu verlassen, annähme. Und dieselbe Begeisterung (insofern sie durch des Kaisers persönliche Anwesenheit in Moskau hervorgerufen war) war nachher die wichtigste Ursache des Sieges Rußlands.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 55-66.
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