[94] Rostow mit seinem scharfen Jägerauge sah als einer der ersten diese blauen französischen Dragoner, von denen unsere Ulanen verfolgt wurden. Näher und näher kamen die aufgelösten Scharen der Ulanen und der sie verfolgenden französischen Dragoner. Schon konnte man erkennen, wie diese am Fuß der[94] Anhöhe klein erscheinenden Menschengestalten einander einholten, zusammenstießen, die Arme erhoben und die Säbel schwangen.
Rostow verfolgte das, was da vor seinen Augen vorging, wie eine Hetzjagd. Er fühlte instinktmäßig, daß, wenn man jetzt mit den Husaren auf die französischen Dragoner einen Angriff mache, diese nicht standhalten würden; aber wenn man es tun wollte, so mußte es sogleich geschehen, diesen Augenblick; sonst war es bereits zu spät. Er blickte um sich. Ein neben ihm haltender anderer Rittmeister verwandte ebenso wie er kein Auge von dem Kavalleriekampf da unten.
»Andrei Sewastjanowitsch«, sagte Rostow, »wir könnten sie über den Haufen werfen ...«
»Es wäre ein kühnes Stück«, antwortete der Rittmeister. »Aber in der Tat ...«
Rostow hörte ihn nicht zu Ende, spornte sein Pferd, jagte vor die Front seiner Eskadron und hatte kaum das Kommando zu der beabsichtigten Bewegung gegeben, als auch schon die ganze Eskadron, die dasselbe Gefühl gehabt hatte wie er selbst, hinter ihm losritt. Rostow wußte selbst nicht, wie und warum er das getan hatte. Er hatte das alles in derselben Weise getan, wie er auf der Jagd zu handeln pflegte, ohne zu denken, ohne zu überlegen. Er hatte gesehen, daß die Dragoner nahe waren, daß sie in Unordnung dahinjagten; er hatte sich gesagt, daß sie nicht würden standhalten können; er hatte gewußt, daß es nur diesen einen günstigen Augenblick gab, der nie wiederkehren werde, wenn man ihn jetzt unbenutzt lasse. Die Kugeln hatten so ermunternd um ihn herum gezischt und gepfiffen, das Pferd hatte so eifrig vorwärts verlangt, daß er nicht hatte widerstehen können. Er hatte sein Pferd gespornt, das Kommando gegeben, in demselben Augenblick auch schon das Getrappel seiner ansprengenden Eskadron hinter sich gehört und ritt nun in vollem Trab bergab[95] auf die Dragoner los. Kaum waren sie am Fuß des Berges angelangt, als unwillkürlich ihr Trab in Galopp überging, der immer schneller und schneller wurde, je näher sie ihren Ulanen und den hinter diesen herjagenden französischen Dragonern kamen. Nun waren sie dicht bei den Dragonern. Die vordersten derselben drehten beim Anblick der Husaren um, die weiter hinten befindlichen hielten an. Mit derselben Empfindung, mit der Rostow auf der Jagd dahinsprengte, um einem Wolf den Weg abzuschneiden, ließ er jetzt seinem donischen Pferde völlig die Zügel schießen und jagte schräg auf die aufgelösten Reihen der französischen Dragoner los. Ein Ulan hielt auf der Flucht an; ein anderer, der zu Fuß war, warf sich auf die Erde, um nicht zerdrückt zu werden; ein reiterloses Pferd geriet zwischen die Husaren. Fast alle französischen Dragoner jagten zurück. Rostow wählte sich einen von ihnen, der wie die andern auf einem grauen Pferd saß, aus und sprengte ihm nach. Auf dem Weg stürmte er auf einen Busch los; das gute Pferd trug ihn darüberhin, und kaum hatte sich Nikolai wieder im Sattel zurechtgerückt, als er sah, daß er in wenigen Augenblicken den Feind erreichen werde, den er sich als Ziel ausgesucht hatte. Dieser Franzose, nach seiner Uniform zu urteilen wahrscheinlich ein Offizier, jagte mit zusammengekrümmtem Leib auf seinem grauen Pferd dahin, das er mit dem Säbel antrieb. Im nächsten Augenblick stieß Rostows Pferd mit der Brust gegen das Hinterteil des Pferdes des Offiziers, warf das Tier beinahe über den Haufen, und gleichzeitig hob Rostow, ohne selbst zu wissen warum, den Säbel in die Höhe und führte damit einen Hieb gegen den Franzosen.
In demselben Augenblick, wo Rostow dies tat, war auf einmal die ganze lebhafte Erregung bei ihm ver schwunden. Der Offizier fiel vom Pferd, nicht sowohl infolge des Säbelhiebes, der ihm nur leicht den Arm oberhalb des Ellbogens geritzt hatte,[96] als infolge des Stoßes des Pferdes und vor Furcht. Rostow hielt sein Pferd an und suchte mit den Augen seinen Feind, um zu sehen, wen er besiegt habe. Der französische Dragoneroffizier hüpfte mit dem einen Fuß auf der Erde umher, mit dem andern saß er im Steigbügel fest. Ängstlich kniff er die Augen zusammen, wie wenn er jeden Augenblick einen neuen Hieb erwartete, runzelte die Stirn und blickte mit dem Ausdruck des Schreckens von unten zu Rostow hinauf. Sein blasses, kotbespritztes, blondhaariges, jugendliches Gesicht mit dem Grübchen am Kinn und den hellen, blauen Augen paßte ganz und gar nicht auf ein Schlachtfeld und hatte nichts Feindliches: es war ein ganz einfaches, gewöhnliches Stubengesicht. Noch ehe Rostow mit sich darüber im klaren war, was er mit ihm anfangen solle, rief der Offizier auf französisch: »Ich ergebe mich!« Er machte eilige, vergebliche Versuche, seinen Fuß aus dem Steigbügel loszubekommen, und blickte mit den angstvollen blauen Augen unverwandt zu Rostow hin. Hinzuspringende Husaren machten ihm den Fuß frei und setzten ihn wieder in den Sattel. Die Husaren waren an verschiedenen Stellen eifrig mit gefangenen Dragonern beschäftigt: einer von diesen war verwundet, wollte aber trotz seines blutigen Gesichtes sein Pferd nicht hingeben; ein anderer saß hinter einem Husaren, den er umfaßt hielt, auf der Kruppe von dessen Pferd; ein dritter kletterte auf das Pferd eines Husaren, der ihn dabei unterstützte. Von vorn her kam schießend französische Infanterie im Laufschritt heran. Eilig ritten die Husaren mit ihren Gefangenen davon. Rostow, der mit den andern zurückjagte, hatte eine unangenehme Empfindung, die ihm das Herz zusammenpreßte. Unklare, verworrene Gedanken, mit denen er noch nicht zurechtkommen konnte, waren durch die Gefangennahme dieses Offiziers und den Säbelhieb, den er ihm versetzt hatte, in ihm rege geworden.[97]
Graf Ostermann-Tolstoi begegnete den zurückkehrenden Husaren, ließ Rostow zu sich rufen, sprach ihm seine Anerkennung aus und sagte, er werde dem Kaiser über seine kühne Tat Bericht erstatten und das Georgskreuz für ihn beantragen. Als Rostow zum Grafen Ostermann gerufen wurde, war er, in dem Bewußtsein, daß er den Angriff ohne Befehl unternommen hatte, fest überzeugt, daß der hohe Vorgesetzte ihn zu sich fordere, um ihn für seine eigenmächtige Handlungsweise zu bestrafen. Daher hätte Rostow über Ostermanns schmeichelhafte Worte und die Verheißung einer Belohnung um so freudiger überrascht sein müssen; aber eben jenes unangenehme, unklare Gefühl rief bei ihm geradezu eine Art von seelischer Übelkeit hervor. »Ja, was quält mich denn eigentlich?« fragte er sich, als er von dem General wieder wegritt. »Sorge um Iljin? Nein, er ist unversehrt. Habe ich mich irgendwie blamiert? Nein, ganz und gar nicht!« Was ihn quälte, war etwas anderes als Reue. »Ja, ja, dieser französische Offizier mit dem Grübchen. Wie deutlich ich mich erinnere, daß mein Arm widerstrebte, als ich ihn zum Hieb aufhob.«
Rostow sah die Gefangenen, welche weiter zurücktransportiert wurden, und ritt zu ihnen hin, um sich seinen Franzosen mit dem Grübchen am Kinn anzusehen. Dieser saß in seiner sonderbaren Uniform jetzt auf einem gewöhnlichen Husarenpferd und warf unruhige Blicke um sich. Seine Armwunde war kaum eine Wunde zu nennen. Er lächelte Rostow gezwungen zu und winkte grüßend mit der Hand. Rostow hatte immer noch dieselbe unbehagliche, peinliche Empfindung.
Diesen ganzen Tag über sowie auch während des folgenden Tages bemerkten Rostows Freunde und Kameraden, daß er zwar nicht traurig, nicht verdrießlich, wohl aber schweigsam, nachdenklich und sich gekehrt war. Er trank nur ungern[98] mit, suchte allein zu bleiben und war in Gedanken versunken.
Rostow dachte immer an diese seine glänzende Kriegstat, die ihm zu seiner Verwunderung das Georgskreuz eintrug und ihm sogar den Ruf besonderer Tapferkeit verschaffte, und konnte manches dabei schlechterdings nicht begreifen. »Also auch die fürchten sich, und noch mehr als unsereiner!« dachte er. »Also das ist das ganze sogenannte Heldentum? Und habe ich das etwa um des Vaterlandes willen getan? Und worin hat denn er sich schuldig gemacht, der junge Mensch mit dem Grübchen und den blauen Augen? Aber was hatte er für Angst! Er dachte, ich würde ihn töten. Wozu hätte ich ihn denn töten sollen? Die Hand zitterte mir. Und ich bekomme das Georgskreuz. Nichts begreife ich davon, gar nichts!«
Aber während Nikolai in seinem Innern diese Fragen durcharbeitete, ohne sich doch klare Rechenschaft davon geben zu können, was ihn in solche Unruhe versetzte, drehte sich, wie das oft so geht, das Rad seines Glückes auf dienstlichem Gebiet zu seinen Gunsten. Er wurde nach dem Kampf bei Ostrowno befördert, erhielt ein Husarenbataillon, und wenn man zu irgendeiner Verwendung einen tapferen Offizier nötig hatte, so gab man den betreffenden Auftrag ihm.
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1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
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