XIX

[117] Seit dem Tag, wo Pierre bei der Rückkehr von einem Besuch bei Rostows, noch mit dem Gedanken an Nataschas dankbaren Blick beschäftigt, den am Himmel stehenden Kometen betrachtet und gefühlt hatte, daß sich ihm ein neuer Gesichtskreis erschloß, seit diesem Tag war ihm jene Frage, die ihn früher fortwährend gequält hatte, die Frage nach der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit alles irdischen Treibens, nicht mehr entgegengetreten. Diese furchtbare Frage nach dem Warum und dem Wozu, die sich ihm früher mitten in jeder Tätigkeit aufgedrängt hatte, war jetzt für ihn abgelöst worden nicht etwa durch eine andere Frage, auch nicht durch eine Antwort auf die frühere Frage, sondern durch den Gedanken an sie, an Natascha. Mochte er nun wertlose Gespräche anhören oder selbst führen, mochte er von menschlicher Gemeinheit und Torheit lesen oder hören: er erschrak nicht mehr wie früher, er fragte sich nicht mehr, warum die Menschen sich nur so mühen und sorgen, da doch alles so kurz und ungewiß ist, sondern er erinnerte sich an Natascha in der Gestalt, in der er sie zum letztenmal gesehen hatte, und alle seine Zweifel verschwanden, nicht weil sie ihm jene Frage beantwortet[117] hätte, sondern weil der Gedanke an sie ihn sofort in ein anderes, helles Gebiet der Geistestätigkeit versetzte, auf dem es sich nicht um schuldfrei und schuldig handelte, in das Gebiet der Schönheit und Liebe, um derentwillen es sich der Mühe lohnte zu leben. Welche Gemeinheit auch immer ihm im Menschenleben vorkam, er sagte sich jetzt: »Nun, mag N.N. den Staat und den Kaiser bestehlen und mögen Staat und Kaiser ihn dafür mit Ehren und Würden belohnen: sie hat mir gestern zugelächelt und mich gebeten wiederzukommen, und ich liebe sie, und niemand wird es jemals erfahren.« Und in seiner Seele war es ruhig und hell.

Pierre besuchte Gesellschaften, ganz wie früher, trank ebensoviel und führte dasselbe müßige und zerstreute Leben, weil er außer den Stunden, die er bei Rostows zubrachte, auch die übrige Zeit hinbringen mußte und seine Gewohnheiten sowie die Bekanntschaften, die er in Moskau gemacht hatte, ihn unwiderstehlich zu diesem Leben hinzogen, das ihn in Beschlag genommen hatte. Aber in der letzten Zeit, als vom Kriegsschauplatz immer bedenklichere Gerüchte kamen, und als Nataschas Gesundheit sich besserte und sie nicht mehr bei ihm das frühere Gefühl sorglichen Mitleids erweckte, da begann sich seiner mehr und mehr eine ihm unbegreifliche Unruhe zu bemächtigen. Er fühlte, daß der Zustand, in dem er sich befand, nicht lange dauern konnte, daß eine Katastrophe heranrückte, die sein ganzes Leben verändern mußte, und suchte ungeduldig in allem nach Vorzeichen für diese herannahende Katastrophe. Von einem seiner Freimaurerbrüder wurde er auf folgende, aus der Offenbarung des Johannes entnommene Prophezeiung aufmerksam gemacht, die sich auf Napoleon beziehen sollte.

In der Offenbarung, Kapitel 13, Vers 18, heißt es: »Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tiers;[118] denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.«

Und in demselben Kapitel, Vers 5: »Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte zweiundviefzig Monate lang.«

Wenn man mit den französischen Buchstaben nach Art der hebräischen Zahlenbezeichnung verfährt, bei der die neun ersten Buchstaben die Einer und die folgenden die Zehner bezeichnen, so erhalten sie die folgenden Zahlenwerte:


a b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150 160


Setzt man nun nach Maßgabe dieses Alphabets in dem Ausdruck L'Empereur Napoléon die entsprechenden Zahlen ein, so ergibt sich, daß die Summe dieser Zahlen 666 beträgt1 und somit Napoleon jenes Tier ist, von dem die Weissagung in der Offenbarung handelt. Wenn ferner nach demselben Alphabet die Zahlenwerte der Buchstaben in den Worten quarante deux zusammengezählt werden, d.h. des Zeitraumes, der dem Tier gesetzt war, große Dinge und Lästerungen zu reden, so beträgt die Summe dieser Zahlen wieder 666, woraus folgt, daß die Grenze der Macht Napoleons im Jahre 1812 gekommen war, in welchem der französische Kaiser zweiundvierzig Jahre alt wurde. Diese Prophezeiung hatte für Pierre etwas Frappierendes, und er stellte sich oft die Frage, was denn nun eigentlich der Macht des Tieres, d.h. Napoleons, eine Grenze setzen werde, und versuchte aufgrund derselben Gleichsetzung von Buchstaben und Zahlen eine Antwort auf diese ihn beschäftigende Frage zu finden. Er schrieb als Antwort auf diese Frage die Worte L'Empereur Alexandre und La nation russe hin. Aber die Summe der Zahlen[119] betrug mehr oder weniger als 666. Eines Tages, als er sich wieder einmal mit diesen Berechnungen beschäftigte, schrieb er seinen Namen hin: Comte Pierre Besouhoff; die Summe der Zahlen stimmte nicht. Er änderte die Orthographie, indem er ein z für das s setzte, fügte de oder den Artikel le hinzu, erhielt aber trotzdem nicht das gewünschte Resultat. Da kam ihm der Gedanke in den Sinn, wenn die Antwort auf jene Frage wirklich in seinem Namen stecken solle, so müsse in der Antwort unbedingt seine Nationalität angegeben sein. Er schrieb hin: Le Russe Besuhof und erhielt beim Zusammenzählen der Zahlen die Summe 671. Nur fünf war zuviel; fünf bedeutete e, eben jenes e, das in dem Artikel vor dem Wort Empereur weggelassen war. Indem Pierre nun ganz ebenso, allerdings gegen die Sprachregel, das e wegließ, erhielt er als gesuchte Antwort: L'Russe Besuhof, mit der Summe 666. Diese Entdeckung versetzte ihn in große Aufregung. Wie und durch welche Verknüpfung er mit jenem großen Ereignis, das in der Offenbarung prophezeit ist, in Beziehung stand, das wußte er nicht; aber an dem Vorhandensein einer solchen Verknüpfung zweifelte er auch nicht einen Augenblick. Seine Liebe zu der Komtesse Rostowa, der Antichrist, der Überfall Napoleons, der Komet, die Zahl 666, L'Empereur Napoléon und L'Russe Besuhof: alles dies zusammen mußte heranreifen, die Hülle sprengen und ihn aus jener verzauberten, wertlosen Welt der Moskauer Gewohnheiten, in denen er sich gefangen fühlte, befreien und zu einer großen Tat und zu einem großen Glück führen.


Am Tag vor jenem Sonntag, an welchem in der Kirche das Gebet verlesen wurde, hatte Pierre Rostows versprochen, ihnen von dem Grafen Rasteptschin, mit dem er gut bekannt war, den Aufruf des Kaisers und die letzten Nachrichten von der Armee zu[120] bringen. Als er am Vormittag bei dem Grafen Rastoptschin vorsprach, fand er bei diesem einen soeben von der Armee eingetroffenen Kurier. Dieser Kurier war einer der Moskauer Balltänzer, mit denen Pierre bekannt war.

»Um des Himmels willen, können Sie mir nicht ein bißchen helfen?« fragte ihn der Kurier. »Ich habe eine ganze Reisetasche voll Briefe an Eltern.«

Unter diesen Briefen befand sich ein Brief von Nikolai Rostow an seinen Vater. Pierre nahm diesen Brief. Außerdem gab ihm Graf Rastoptschin den Aufruf des Kaisers an Moskau, der soeben gedruckt war, die letzten Tagesbefehle an die Armee und seinen eigenen letzten Maueranschlag. Als Pierre die Tagesbefehle an die Armee durchsah, fand er in einem von ihnen unter den Nachrichten über Verwundete, Gefallene und Dekorierte den Namen Nikolai Rostows, der für seine im Treffen bei Ostrowno bewiesene Tapferkeit das Georgskreuz vierter Klasse erhalten hatte, und in demselben Tagesbefehl die Ernennung des Fürsten Andrei Bolkonski zum Kommandeur eines Jägerregiments. Obgleich es ihm widerstrebte, Rostows an Bolkonski zu erinnern, so war es ihm doch Herzenssache, ihnen durch die Nachricht von der Dekorierung ihres Sohnes eine Freude zu bereiten; so schickte er denn, während er den Aufruf, den Maueranschlag und die andern Tagesbefehle in die Tasche schob, um sie ihnen zum Mittagessen selbst mitzubringen, jenen einen Tagesbefehl und den Brief ihnen sofort durch einen Boten zu.

Das Gespräch mit dem Grafen Rastoptschin und dessen sorgenvoller Ton und hastiges Wesen, dann die Begegnung mit dem Kurier, der in leichtfertiger Manier davon erzählte, wie schlecht die Dinge beim Heer ständen, ferner die Gerüchte von Spionen, die angeblich in Moskau entdeckt waren, und von einem in Moskau zirkulierenden Zeitungsblatt, in dem gesagt sein sollte, Napoleon[121] habe erklärt, er werde bis zum Herbst in beiden russischen Hauptstädten sein, und endlich das Gespräch über die für den folgenden Tag erwartete Ankunft des Kaisers: alles dies erweckte bei Pierre mit neuer Kraft jenes Gefühl der Aufregung und Erwartung, das ihn seit dem Erscheinen des Kometen und namentlich seit dem Anfang des Krieges nicht mehr verlassen hatte.

Schon längst war ihm der Gedanke gekommen, in das Heer einzutreten, und er hätte diesen Gedanken auch zur Ausführung gebracht, wenn ihn nicht mehrere Umstände daran gehindert hätten. Erstens seine Zugehörigkeit zur Freimaurergesellschaft, mit der er durch einen Eid verbunden war und die den ewigen Frieden und die Abschaffung des Krieges predigte. Zweitens: wenn er eine große Menge von Moskauern ansah, die die Uniform angelegt hatten und nun Patriotismus predigten, genierte er sich einigermaßen, einen solchen Schritt zu unternehmen. Die Hauptursache aber, weswegen er seine Absicht, in das Heer einzutreten, nicht zur Ausführung brachte, lag in jener unklaren Vorstellung, daß er, L'Russe Besuhof, in dieser seiner Bezeichnung die Zahl des Tieres 666 an sich trage und also seine Beteiligung an der großen Aufgabe, die Macht des Tieres, welches große Dinge und Lästerungen sprach, zu beendigen, von Ewigkeit her vorausbestimmt sei und er deshalb nichts anderes unternehmen dürfe, sondern abwarten müsse, was sich vollziehen werde.

Fußnoten

1 Nein; dagegen würde ein sprachwidriges Le Empereur Napoléon die Summe 666 ergeben.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 117-122.
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