[223] Über das Gut Bogutscharowo hatte, ehe Fürst Andrei sich dort einen Wohnsitz geschaffen hatte, von jeher die Herrschaft so gut wie keine Aufsicht ausgeübt, und die Bauern von Bogutscharowo hatten einen ganz anderen Charakter als die von Lysyje-Gory. Sie unterschieden sich von ihnen auch durch die Sprache, durch die Kleidung und durch die Gebräuche. Sie wurden Steppenbauern genannt. Der alte Fürst lobte sie wegen ihrer Ausdauer bei der Arbeit, wenn sie nach Lysyje-Gory kamen, um bei der Ernte zu helfen oder Teiche und Kanäle auszugraben, hatte sie aber wegen ihrer Wildheit nicht gern.
Auch dadurch, daß in letzter Zeit Fürst Andrei in Bogutscharowo gewohnt und mancherlei Neues eingeführt, namentlich Krankenhäuser und Schulen gebaut und den Pachtzins ermäßigt hatte, auch dadurch waren ihre Sitten nicht gemildert, sondern im Gegenteil jener Charakterzug, den der alte Fürst Wildheit nannte, nur noch verstärkt worden. Unter ihnen waren immer irgendwelche unklaren Redereien im Gange: bald von einer bestehenden Absicht, sie alle zu den Kosaken auszuheben, bald von einem neuen Glauben, zu dem man sie bekehren wolle, bald von irgendeiner Proklamation des Zaren, bald von einem Eid des Kaisers Pawel Petrowitsch im Jahre 1797 (sie behaupteten, es sei damals ein Erlaß über die Bauernbefreiung erschienen, aber die Edelleute hätten die Sache vereitelt), bald von Pjotr Feodorowitsch, der in sieben Jahren den Thron besteigen werde, und unter dessen Regierung alle frei sein würden und alles so schlicht zugehen werde, daß es keine Adligen mehr geben werde. Die Gerüchte vom Krieg und von Bonaparte und von seinem Eindringen verbanden sich in ihren Köpfen mit ebenso[224] unklaren Vorstellungen vom Antichrist, dem Weltende und der völligen Freiheit.
In der Gegend um Bogutscharowo herum lagen lauter große Dörfer, teils fiskalische, teils herrschaftliche. Es wohnten aber in dieser Gegend nur sehr wenige Gutsbesitzer; auch gab es dort nur sehr wenige Gutsleute und nur wenig Menschen, die lesen und schreiben konnten, und in dem Leben der Bauern dieser Gegend machten sich deutlicher und stärker als anderwärts jene geheimnisvollen Strömungen des russischen Volkslebens spürbar, deren Ursachen und Bedeutung den Zeitgenossen vielfach unerklärlich sind. Zu den Erscheinungen dieser Art gehörte auch eine fünfundzwanzig Jahre vorher unter den Bauern dieser Gegend hervorgetretene Bewegung, die auf die Übersiedelung nach irgendwelchen »warmen Flüssen« hinzielte. Hunderte von Bauern, darunter auch die von Bogutscharowo, begannen auf einmal ihr Vieh zu verkaufen und mit ihren Familien irgendwohin nach Südosten zu ziehen. Wie die Vögel irgendwohin über die Meere fliegen, so strebten diese Leute mit Weib und Kind dorthin, nach Südosten, wo niemand von ihnen vorher gewesen war. In ganzen Karawanen brachen sie auf; einige hatten sich losgekauft, die meisten entflohen; und so fuhren und gingen sie dorthin, zu den warmen Flüssen. Viele wurden bestraft und nach Sibirien geschickt; viele starben unterwegs an Kälte und Hunger; viele kehrten aus eigenem Entschluß zurück; und die ganze Bewegung legte sich von selbst, geradeso wie sie ohne sichtbaren Grund entstanden war. Aber die tiefen Unterströmungen hörten bei diesem eigentümlichen Menschenschlag nicht auf zu fließen und sammelten neue Kraft, um sich später nach irgendwelcher Richtung hin in ebenso sonderbarer und unerwarteter und zugleich in ebenso schlichter, natürlicher, kraftvoller Weise wieder zu betätigen. Jetzt, im Jahre 1812, konnte, wer in enger Berührung mit dem[225] Volk lebte, leicht merken, daß diese Unterströmungen stark wirkten und ihr Hervorbrechen nahe bevorstand.
Alpatytsch, der einige Zeit vor dem Hinscheiden des alten Fürsten nach Bogutscharowo gekommen war, hatte bemerkt, daß im Volk eine Erregung im Gange war und daß, im Gegensatz zu dem, was in der Gegend von Lysyje-Gory in einem Umkreis von sechzig Werst geschah, wo alle Bauern fortzogen (und den Kosaken ihre Dörfer zur Verwüstung überließen), in dieser Steppengegend von Bogutscharowo die Bauern Beziehungen mit den Franzosen unterhielten, von diesen allerlei Flugschriften bekamen, die dann von Hand zu Hand gingen, und in ihren Wohnsitzen blieben. Er wußte durch Gutsleute, die ihm zugetan waren, daß ein in der Bauernschaft sehr einflußreicher Bauer, namens Karp, der neulich mit einer fiskalischen Fuhre weggewesen war, bei der Rückkehr die Nachricht mitgebracht hatte, die Kosaken plünderten die Dörfer, aus denen die Einwohner weggezogen seien, die Franzosen dagegen tasteten nichts in ihnen an. Er wußte, daß ein anderer Bauer gestern sogar aus dem Dorf Wislouchowo, wo die Franzosen standen, ein Flugblatt eines französischen Generals mitgebracht hatte, in welchem den Einwohnern erklärt wurde, wenn sie dablieben, werde ihnen nichts Übles geschehen, und für alles, was man von ihnen requiriere, würden sie Zahlung erhalten. Zum Beweis dessen hatte der Bauer aus Wislouchowo hundert Rubel in Banknoten mitgebracht (er wußte nicht, daß sie unecht waren), die ihm für Heu im voraus gezahlt waren.
Endlich, und das war das Allerwichtigste, wußte Alpatytsch, daß an eben dem Tag, an welchem er dem Dorfschulzen befohlen hatte, die nötigen Fuhren für den Transport des Gepäcks der Prinzessin zusammen zubringen, morgens im Dorf eine Gemeindeversammlung stattgefunden hatte, in welcher beschlossen[226] worden war, nicht fortzuziehen, sondern zu warten. Unterdessen aber war es die höchste Zeit geworden. Der Adelsmarschall hatte am Todestag des Fürsten, am 15. August, die Prinzessin Marja auf das dringendste ersucht, noch an demselben Tag abzureisen, da das Bleiben gefährlich werde. Nach dem 16., hatte er gesagt, könne er keinerlei Verantwortung mehr übernehmen. Er selbst war gleich am Todestag des Fürsten abends wieder abgefahren, hatte aber versprochen, am andern Tag zur Beerdigung wiederzukommen. Aber er konnte am andern Tag nicht kommen, da nach den ihm zugegangenen Nachrichten die Franzosen unerwarteterweise vorgerückt waren und er kaum noch Zeit hatte, seine Familie und seine wertvollste Habe von seinem Gut wegzuschaffen.
Seit mehr als zwanzig Jahren bekleidete in Bogutscharowo das Amt eines Dorfschulzen ein gewisser Dron, den der alte Fürst gern mit der Verkleinerungsform Dronuschka genannt hatte.
Dron war einer von jenen körperlich und geistig kräftigen Bauern, die, wenn sie in die Jahre gelangt sind, wo ihnen der Bart wächst, von da an nun auch, ohne sich in ihrem Äußern irgendwie zu verändern, bis zum Alter von sechzig oder siebzig Jahren leben, ohne ein einziges graues Haar oder eine Zahnlücke, als Sechzigjährige noch ebenso aufrecht und kräftig, wie sie als Dreißigjährige waren.
Dron war bald nach der Auswanderung zu den warmen Flüssen, an der er sich ebenso wie die andern beteiligt hatte, zum Dorfschulzen in Bogutscharowo ernannt worden und hatte seitdem dreiundzwanzig Jahre lang dieses Amt tadellos verwaltet. Die Bauern fürchteten sich vor ihm mehr als vor dem Herrn selbst. Die Herrschaft, sowohl der alte als auch der junge Fürst und der Verwalter, wußten seinen Wert zu schätzen und nannten ihn scherzhaft den Minister. Während der ganzen Zeit seiner[227] Amtsführung war Dron kein einziges Mal betrunken oder krank gewesen; niemals, weder nach schlaflosen Nächten, noch nach Arbeiten irgendwelcher Art, zeigte er die geringste Müdigkeit, und obwohl er nicht lesen und schreiben konnte, vergaß er niemals einen Geldposten oder ein Pud Mehl bei den gewaltigen Wagenladungen, die er verkaufte, und wußte ganz genau, wieviel Garbenmandel sich auf jedem Acker der Feldflur von Bogutscharowo befanden.
Diesen Dron also ließ Alpatytsch, nachdem er aus dem verwüsteten Lysyje-Gory angekommen war, am Begräbnistag des Fürsten zu sich rufen und befahl ihm, zwölf Pferde für die Equipagen der Prinzessin und achtzehn Fuhren für das aus Bogutscharowo mitzunehmende Gepäck bereitzustellen. Obgleich die Bauern auf Pachtzins gesetzt waren, konnte doch nach Alpatytschs Meinung die Ausführung dieses Befehles auf keine Schwierigkeiten stoßen, da in Bogutscharowo zweihundertdreißig Familien lebten und die Bauern wohlhabend waren. Aber nachdem der Dorfschulze Dron den Befehl angehört hatte, schlug er schweigend die Augen nieder. Alpatytsch nannte ihm einige Bauern, die er kannte, und befahl ihm, von diesen die Pferde und Fuhren zu requirieren.
Dron antwortete, diese Bauern hätten ihre Pferde unterwegs. Alpatytsch nannte ihm andere Bauern. Auch diese hatten nach Drons Angabe keine Pferde zur Verfügung: manche Pferde seien mit fiskalischen Fuhren weg; andere seien entkräftet; vielen Bauern seien auch die Pferde aus Mangel an Futter krepiert. Es war nach Drons Meinung überhaupt nicht möglich, Pferde zu beschaffen, weder für das Gepäck noch für die Equipagen.
Alpatytsch blickte den Dorfschulzen forschend an und zog die Augenbrauen zusammen. Wie Dron ein Muster von einem Dorfschulzen war, so hatte auch Alpatytsch nicht vergebens die Güter[228] des Fürsten zwanzig Jahre lang verwaltet und war ein Muster von einem Verwalter. Er war im höchsten Grade befähigt, instinktiv die Bedürfnisse und Wünsche des Volkes, mit dem er zu tun hatte, zu erkennen, und eben darum war er ein so vorzüglicher Verwalter. Als er Dron an blickte, erkannte er sofort, daß Drons Antworten nicht dessen eigene Anschauung zum Ausdruck brachten, sondern die allgemeine Stimmung der Bauernschaft von Bogutscharowo, von der sich der Dorfschulze beeinflussen ließ. Zugleich aber wußte Alpatytsch auch, daß der reich gewordene und bei der Bauernschaft verhaßte Dron nicht anders konnte, als zwischen den beiden Lagern, dem der Herrschaft und dem der Bauernschaft, zu schwanken. Dieses Schwanken bemerkte Alpatytsch an Drons Blick, und darum trat er, die Stirne runzelnd, ganz nahe an ihn heran.
»Hör mal, Dronuschka«, sagte er, »mach mir da keinen Wind vor. Seine Durchlaucht Fürst Andrei Nikolajewitsch selbst hat mir befohlen, die ganze Einwohnerschaft wegzuschicken und sie mit dem Feind nicht in Berührung kommen zu lassen; auch besteht darüber ein Befehl des Zaren. Wer hierbleibt, ist ein Verräter am Zaren. Hörst du wohl?«
»Ich höre«, erwiderte Dron, ohne die Augen aufzuschlagen.
Alpatytsch begnügte sich mit dieser Antwort nicht.
»Ei, ei, Dron, das wird euch schlimm bekommen!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend.
»Es steht in Euren Händen!« antwortete Dron traurig.
»Na, Dron, nun hör aber mal auf!« sagte Alpatytsch, nahm die Hand heraus, die er vorn in den Rock gesteckt hatte, und wies mit feierlicher Gebärde auf den Boden unter Drons Füßen. »Ich sehe nicht nur quer durch dich hindurch, sondern auch unter dir drei Ellen tief in die Erde hinein.« Dabei blickte er nach dem Boden unter Drons Füßen.[229]
Dron wurde ängstlich, warf einen verstohlenen Blick nach Alpatytsch hin und schlug die Augen wieder nieder.
»Hör nun auf, Unsinn zu reden, und sage den Leuten, sie sollen sich fertigmachen, ihre Wohnungen zu verlassen und nach Moskau zu gehen, und sie sollen morgen früh die Fuhren für das Gepäck der Prinzessin stellen; du selbst aber geh nicht in die Gemeindeversammlung. Hast du gehört?«
Dron warf sich auf einmal Alpatytsch zu Füßen.
»Jakow Alpatytsch, entlaß mich aus meinem Amt! Nimm mir die Schlüssel ab; entlaß mich, um Christi willen!«
»Hör auf!« sagte Alpatytsch in strengem Ton. »Ich sehe unter dir drei Ellen tief in die Erde«, wiederholte er, weil er wußte, daß seine Meisterschaft in der Bienenzucht, seine ausgezeichnete Kenntnis der besten Saatzeit für den Hafer und die Kunst, mit der er es verstanden hatte, zwanzig Jahre lang es dem alten Fürsten zu Dank zu machen, ihm schon längst den Ruf eines Zauberers eingetragen hatten, und daß den Zauberern die Fähigkeit zugeschrieben wird, drei Ellen tief unter einem Menschen in die Erde hineinzusehen.
Dron stand auf und wollte etwas sagen; aber Alpatytsch unterbrach ihn:
»Was ist euch denn in den Kopf gefahren? He? Was denkt ihr euch eigentlich? He?«
»Was soll ich mit diesem Volk anfangen?« erwiderte Dron. »Sie sind ganz außer Rand und Band. Ich habe ihnen schon gesagt ...«
»Das scheint mir allerdings«, sagte Alpatytsch. »Trinken sie?« fragte er kurz.
»Ganz außer Rand und Band sind sie, Jakow Alpatytsch; schon das zweite Faß Branntwein haben sie herangeschleppt.«
»Also höre nun: ich fahre zum Bezirkshauptmann, und du mach[230] den Leuten bekannt, sie sollen ihre Torheiten lassen und die Fuhren stellen.«
»Zu Befehl«, antwortete Dron.
Weiter setzte ihm Jakow Alpatytsch nicht zu. Er war lange genug bei diesem Volk Verwalter gewesen, um zu wissen, daß das wichtigste Mittel zur Erzielung des Gehorsams darin besteht, die Leute nicht merken zu lassen, daß man einen Ungehorsam von ihrer Seite für möglich hält. Nachdem Jakow Alpatytsch von Dron dieses gehorsame »Zu Befehl« erreicht hatte, begnügte er sich damit, obwohl er nicht nur an dem Gehorsam zweifelte, sondern beinahe überzeugt war, daß ohne Hilfe einer Abteilung Militär die Lieferung der Fuhren nicht durchzusetzen sein werde.
Und wirklich waren am Abend die Fuhren nicht zur Stelle. Im Dorf hatte wieder beim Krug eine Gemeindeversammlung stattgefunden, und in dieser war beschlossen worden, die Pferde in den Wald zu treiben und keine Wagen herauszugeben. Ohne der Prinzessin hiervon etwas zu sagen, befahl Alpatytsch, von den aus Lysyje-Gory gekommenen Wagen seine eigenen Sachen abzuladen und diese Pferde für die Equipagen der Prinzessin bereitzuhalten; er selbst aber fuhr zur Obrigkeit.
Buchempfehlung
Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.
52 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro