[276] Nach der Abreise des Kaisers von Moskau floß das Moskauer Leben wieder in der früheren gewohnten Ordnung dahin, und dieses Leben war wieder ein so alltägliches geworden, daß es einem schwerfiel, sich an die vorhergegangenen Tage enthusiastischer patriotischer Begeisterung wie an etwas wirklich Geschehenes zu erinnern und zu glauben, daß Rußland tatsächlich in Gefahr sei, und daß die Mitglieder des Englischen Klubs zugleich Söhne des Vaterlandes seien, die sich vor keinem Opfer scheuten. Das einzige, was an die gehobene patriotische Stimmung erinnerte, die bei der Anwesenheit des Kaisers überall in Moskau geherrscht hatte, war das Einfordern der Opferspenden an Mannschaften und an Geld, die, sobald sie einmal zugesagt waren, in gesetzliche, offizielle Form gebracht worden waren und nun notwendigerweise geliefert werden mußten.
Mit dem immer näheren Heranrücken des Feindes an Moskau wurde bei den Moskauern die Auffassung ihrer Lage keineswegs ernster, sondern im Gegenteil noch leichtsinniger, wie das stets[276] bei Menschen der Fall ist, die eine große Gefahr herannahen sehen. Bei der Annäherung einer Gefahr reden in der Seele des Menschen immer zwei Stimmen gleich stark: die eine mahnt verständig, der Mensch solle das wahre Wesen der Gefahr erwägen und auf Mittel zur Rettung sinnen; die andere sagt noch verständiger, es sei zu lästig und schrecklich, an die Gefahr zu denken, da es doch nicht in der Macht des Menschen stehe, alles vorherzusehen und sich aus dem allgemeinen Gang der Dinge zu retten, und daher sei es das beste, sich von dem Schrecklichen abzuwenden, solange es noch nicht herangekommen sei, und an Angenehmes zu denken. Ist der Mensch für sich allein, so hört er meist auf die erste Stimme, in Gesellschaft dagegen auf die zweite. So war es auch jetzt mit den Einwohnern Moskaus. Seit langer Zeit hatte man sich in Moskau nicht so amüsiert wie in diesem Jahr.
Rastoptschins Flugblätter, oben mit der Abbildung einer Schenke, eines Schankwirtes und des Moskauer Kleinbürgers Karpuschka Tschigirin, »der, zur Landwehr eingezogen, ein Gläschen Schnaps zuviel trinkt und, als er hört, Bonaparte wolle nach Moskau kommen, in Zorn gerät, mörderlich auf alle Franzosen schimpft, aus der Schenke herausgeht und unter dem Adlerwappen eine Ansprache an das sich um ihn versammelnde Volk hält«, wurden ganz in derselben Weise gelesen und kritisiert wie die letzten Reimspiele von Wasili Lwowitsch Puschkin.
Im Klub versammelte man sich in einem bestimmten Eckzimmer, um diese Flugblätter zu lesen, und manchen gefiel es, daß Karpuschka sich über die Franzosen lustig machte und sagte, sie bekämen vom Kohlessen einen aufgeblähten Leib, von Grütze platzten sie auseinander, und an russischer Krautsuppe erstickten sie; sie seien sämtlich Zwerge, und ein einziges altes Weib werfe ihrer drei mit der Heugabel weg. Manche dagegen billigten diesen Ton nicht und sagten, daß sei unwürdig und dumm. Man[277] sprach davon, daß Rastoptschin die Franzosen und sogar auch alle andern Ausländer aus Moskau weggeschafft habe, weil sich unter ihnen Spione und Agenten Napoleons befunden hätten; aber man sprach davon namentlich, um bei dieser Gelegenheit ein Witzwort weiterzuverbreiten, dessen sich Rastoptschin bei ihrer Wegschaffung bedient hatte. Die Ausländer sollten zu Schiff nach Nischni transportiert werden, und Rastoptschin hatte zu ihnen auf französisch gesagt: »Gehen Sie in sich, gehen Sie in dieses Schiff, und sorgen Sie dafür, daß es Ihnen nicht ein Nachen des Charon werde.« Man sprach davon, daß bereits alle Gerichts- und Verwaltungsbehörden aus Moskau fortgeschafft seien, und schloß einen Witz von Schinschin daran an, daß schon allein dafür Moskau dem Kaiser Napoleon dankbar sein müsse. Man erzählte, dem reichen Mamonow komme sein Regiment auf achthunderttausend Rubel zu stehen, und Besuchow habe für seine Landwehrleute noch mehr ausgegeben; aber das beste an Besuchows Handlungsweise sei doch, daß er selbst die Uniform anziehen und vor dem Regiment einherreiten werde, ohne für die Plätze der Zuschauer, die ihn dabei sehen möchten, ein Entree zu erheben.
»Aber Sie haben doch auch mit niemand Erbarmen«, sagte Julja Drubezkaja, indem sie mit ihren schlanken, ringgeschmückten Fingern ein Häufchen Scharpie zusammenstrich und zusammendrückte.
Julja beabsichtigte, am nächsten Tag von Moskau wegzufahren, und gab eine Abschiedssoiree.
»Besuchow est ridicule«, fuhr sie fort; »aber er ist ein so braver, netter Mensch. Ein sonderbares Vergnügen, so caustique zu sein!«
»Geldstrafe!« rief ein junger Mann in Landwehruniform, den Julja »mon chevalier« zu nennen pflegte und der mit ihr nach Nischni fahren wollte.[278]
In Juljas Gesellschaften, wie in vielen anderen Moskaus, sollte einer gemeinsamen Festsetzung gemäß nur russisch gesprochen werden, und wer dagegen verstieß und französische Ausdrücke gebrauchte, bezahlte eine Geldstrafe zum Besten des Opferfonds.
»Und noch eine zweite Geldstrafe für den Gallizismus«, sagte ein russischer Schriftsteller, der gleichfalls im Salon anwesend war. »›Ein Vergnügen, zu sein‹ ist nicht russisch.«
»Sie haben mit niemand Erbarmen«, fuhr Julja, zu dem Landwehroffizier gewendet, fort, ohne zunächst auf die Bemerkung des Schriftstellers einzugehen. »Für caustique bin ich straffällig und werde ich bezahlen; und für das Vergnügen, Ihnen die Wahrheit gesagt zu haben, bin ich sogar bereit noch etwas dazuzuzahlen. Für Gallizismen aber« (hier wandte sie sich an den Schriftsteller) »kann ich nicht verantwortlich gemacht werden; ich habe weder das Geld noch die Zeit dazu, mir wie Fürst Golizyn einen Lehrer zu nehmen und russisch zu lernen. Aber da ist er ja selbst!« unterbrach sie sich. »Quand on ... Nein, nein«, wandte sie sich an den Landwehroffizier, »Sie sollen mich nicht noch einmal fangen. Wenn man von der Sonne spricht, sieht man ihre Strahlen«, sagte sie mit dem liebenswürdigen Lächeln der Hausfrau zu dem eintretenden Pierre. »Wir haben soeben von Ihnen gesprochen«, fuhr sie mit der den Weltdamen eigenen Gewandtheit im Lügen fort. »Wir sagten, daß Ihr Regiment gewiß noch besser sein wird als das Mamonowsche.«
»Ach, reden Sie mir nicht von meinem Regiment«, antwortete Pierre, indem er der Wirtin die Hand küßte und sich neben sie setzte. »Mein Regiment ist mir schon ganz zuwider geworden.«
»Sie werden es doch wohl gewiß selbst kommandieren?« fragte Julja und warf dem Landwehroffizier einen schlauen, spöttischen Blick zu.
Aber der Landwehroffizier war in Pierres Gegenwart nicht[279] mehr so caustique und brachte durch seine Miene seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, was denn Juljas Lächeln zu bedeuten habe. Trotz seiner Zerstreutheit und Gutmütigkeit unterdrückte Pierres Persönlichkeit von vornherein jeden Versuch, in seiner Gegenwart über ihn zu spotten.
»Nein«, antwortete Pierre lachend, indem er seinen großen, dicken Körper betrachtete. »Es würde den Franzosen doch gar zu leicht sein, mich zu treffen, und dann fürchte ich auch, daß ich gar nicht aufs Pferd hinaufkomme.«
Nachdem Julja und ihre Gäste eine Reihe von anderen Personen durchgehechelt hatten, kamen sie auch auf die Familie Rostow zu sprechen.
»Die Verhältnisse der Familie sind, wie es heißt, sehr schlecht«, sagte Julja. »Und er, der Graf selbst, ist so unverständig. Rasumowskis wollten ihm sein hiesiges Haus und sein Landhaus vor der Stadt abkaufen; aber die Sache zieht sich immer noch hin, weil er zu viel fordert.«
»Nicht doch, es scheint, daß der Verkauf in diesen Tagen zustande kommen wird«, sagte jemand. »Wiewohl es jetzt geradezu sinnlos ist, in Moskau etwas zu kaufen.«
»Wieso?« fragte Julja. »Meinen Sie wirklich, daß für Moskau Gefahr besteht?«
»Warum reisen Sie denn weg?«
»Ich? Eine sonderbare Frage. Ich reise weg, weil ... nun, weil alle wegreisen, und dann ... ich bin keine Jeanne d'Arc und keine Amazone.«
»Nun ja, ja.«
»Reichen Sie mir doch, bitte, noch ein paar Läppchen herüber.«
»Wenn er richtig zu wirtschaften verstände, so könnte er alle seine Schulden bezahlen«, nahm der Landwehroffizier das Gespräch über den alten Grafen Rostow wieder auf.[280]
»Ein guter alter Mann, aber ein armer Tropf. Und warum wohnen sie denn so lange hier? Sie wollten ja schon längst auf das Land ziehen. Natalja ist ja doch wohl jetzt wieder gesund?« fragte Julja mit schlauem Lächeln den neben ihr sitzenden Pierre.
»Sie erwarten den jüngeren Sohn«, antwortete Pierre. »Er war bei Obolenskis Kosaken eingetreten und nach Bjelaja Zerkow gereist. Da wird das Regiment formiert. Aber jetzt haben die Eltern seine Versetzung in mein Regiment veranlaßt und erwarten ihn jeden Tag. Der Graf wollte schon längst wegziehen; aber die Gräfin läßt sich um keinen Preis darauf ein, von Moskau wegzugehen, ehe nicht der Sohn ankommt.«
»Ich habe Rostows vorgestern bei Archarows gesehen. Natalja ist wieder recht hübsch geworden, auch heiterer. Sie sang ein gefühlvolles Lied. Wie leicht doch bei manchen Menschen alles vorübergeht!«
»Was geht vorüber?« fragte Pierre unwillig.
Julja lächelte.
»Wissen Sie, Graf, solche Ritter, wie Sie, kommen sonst nur in den Romanen von Madame Souza vor.«
»Was soll ich denn für ein Ritter sein? Wieso?«
»Nun, lassen Sie es gut sein, lieber Graf; c'est la fable de tout Moscou. Je vous admire, ma parole d'honneur.«
»Strafe, Strafe!« rief der Landwehroffizier.
»Nun, meinetwegen. Aber man kann ja gar nicht mehr reden; recht öde!«
»Was ist das Stadtgespräch von ganz Moskau?« fragte Pierre ärgerlich und stand auf.
»Lassen Sie es gut sein, Graf. Das wissen Sie ja!«
»Nichts weiß ich«, erwiderte Pierre.
»Ich weiß, daß Sie mit Natalja in freundschaftlichem Verhältnisse[281] standen, und darum ... Ich meinerseits habe mich immer mehr zu Wjera hingezogen gefühlt. Die liebe Wjera!«
»Nein, Fürstin«, fuhr Pierre unwillig fort. »Ich habe ganz und gar nicht die Rolle eines Ritters der Komtesse Rostowa übernommen und bin schon beinahe einen Monat lang nicht bei ihnen gewesen. Aber ich begreife die Grausamkeit nicht ...«
»Qui s'excuse, s'accuse«, sagte Julja lächelnd und machte mit der Hand, in der sie die Scharpie hielt, eine bedeutsame Geste. Und um das letzte Wort zu behalten, wechselte sie sogleich das Thema der Unterhaltung. »Was sagen Sie dazu? Ich habe heute gehört, die arme Marja Bolkonskaja ist gestern in Moskau angekommen. Sie wissen wohl schon, daß sie ihren Vater verloren hat?«
»Oh! Ist es möglich! Wo ist sie? Ich würde sie gern aufsuchen«, sagte Pierre.
»Ich bin gestern den Abend über bei ihr gewesen. Sie fährt heute oder morgen früh mit ihrem Neffen auf ihr Landgut hier in der Nähe.«
»Nun, und wie geht es ihr?« fragte Pierre.
»Nur mäßig; sie ist sehr traurig. Aber wissen Sie, wer sie gerettet hat? Es ist ein vollständiger Roman. Nikolai Rostow. Sie war umringt, man wollte sie ermorden, mehrere ihrer Leute waren schon verwundet. Da eilte er herbei und rettete sie ...«
»Also noch ein Roman!« rief der Landwehroffizier. »Diese allgemeine Flucht ist entschieden in Szene gesetzt, damit alle alten Jungfern unter die Haube kommen. Numero eins Catiche, Numero zwei die Prinzessin Bolkonskaja.«
»Wissen Sie, ich glaube wahrhaftig, sie ist un petit peu amoureuse du jeune homme.«
»Strafe, Strafe, Strafe!«
»Aber wie kann man das überhaupt auf russisch sagen?«
Buchempfehlung
Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro