[393] Das Regiment des Fürsten Andrei gehörte zu den Reservetruppen, die bis ein Uhr hinter Semjonowskoje untätig in starkem Artilleriefeuer standen. Nach ein Uhr wurde das Regiment, das schon mehr als zweihundert Mann verloren hatte, nach einem zertretenen Haferfeld vorgezogen, in den Zwischenraum zwischen Semjonowskoje und der Hügelbatterie, auf welchem an diesem Tag Tausende von Menschen getötet wurden und auf den nach ein Uhr das verstärkte, konzentrierte Feuer mehrerer hundert feindlicher Geschütze gerichtet wurde.
Ohne sich von seinem Platz zu rühren und ohne einen einzigen Schuß zu tun, verlor das Regiment hier noch ein Drittel seiner Leute. Von vorn und namentlich von rechts her donnerten in dem Rauch, der sich gar nicht mehr zerteilte, die Kanonen, und aus diesem geheimnisvollen Rauchmeer, von dem das ganze Terrain nach dem Feind zu bedeckt war, flogen unaufhörlich mit schnellem Zischen Kanonenkugeln sowie mit langsamerem Pfeifen Granaten herüber. Manchmal, wie wenn den Truppen eine Erholung gegönnt werden sollte, verging eine Viertelstunde,[393] innerhalb deren alle Kanonenkugeln und Granaten über sie hinwegflogen; aber manchmal wurden in einer einzigen Minute eine Menge Leute aus dem Regiment getroffen und ohne Unterbrechung Tote weggeschleppt und Verwundete wegtransportiert.
Mit jeder neuen Kugel, welche traf, wurde für diejenigen, die noch nicht getötet waren, die Wahrscheinlichkeit, daß sie am Leben bleiben würden, immer geringer. Das Regiment stand in Bataillonskolonnen mit Abständen von dreihundert Schritten; aber trotz dieser Abstände befanden sich alle Soldaten dauernd unter der Einwirkung einer und derselben Stimmung. Alle Leute des Regiments waren gleichmäßig schweigsam und finster. Nur selten war in den Reihen ein Gespräch zu hören, und ein solches Gespräch verstummte jedesmal, wenn das Getöse einer einschlagenden Kanonenkugel und der Ruf: »Tragbahren!« erschollen. Die meiste Zeit über saßen die Soldaten des Regiments nach dem Befehl der Offiziere auf der Erde. Der eine hatte seinen Tschako abgenommen, nahm sorgsam das gefaltete Futter auseinander und legte es ebenso sorgsam wieder zusammen; ein anderer zerrieb trockenen Lehm in den Händen zu Pulver und putzte damit sein Bajonett; ein anderer machte sein Lederzeug geschmeidig und zog die Schnalle des Bandeliers fester; ein anderer brachte seine Fußlappen sorgfältig in Ordnung, indem er sie neu umwickelte, und zog sich die Stiefel wieder an. Manche bauten Häuschen aus den Erdschollen des Ackers oder machten kleine Geflechte aus Strohhalmen. Alle schienen in diese Beschäftigungen ganz vertieft zu sein. Wenn Kameraden verwundet oder getötet wurden, wenn eine Reihe von Tragbahren vorbeikam, wenn die Unsrigen von einem Vorstoß zurückkehrten, wenn durch den Rauch hindurch große Massen von Feinden sichtbar wurden, dann schenkte niemand diesen Vorgängen irgendwelche Beachtung. Wenn dagegen unsere Artillerie oder Kavallerie vorging oder ein Vorrücken[394] unserer Infanterie zu bemerken war, dann hörte man von allen Seiten beifällige Bemerkungen. Die größte Aufmerksamkeit erregten aber ganz nebensächliche Ereignisse, die auf die Schlacht gar keinen Bezug hatten. Es war, als ob der Geist dieser seelisch gemarterten Menschen in der Aufmerksamkeit auf diese gewöhnlichen alltäglichen Ereignisse eine gewisse Erholung fände. Eine Batterie fuhr vor der Front des Regiments vorbei, und vor einem Munitionswagen trat das Seitenpferd über den Strang. »He! He! Das Seitenpferd ...! Bringt es doch in Ordnung! Es fällt sonst noch ... Ach, sie sehen es nicht ...!« riefen im ganzen Regiment die Soldaten zugleich aus den Reihen. Ein andermal zog ein kleines braunes Hündchen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, das Gott weiß woher gekommen sein mochte und nun mit steif erhobenem Schwanz vor der Front umhertrabte, plötzlich aber, als eine Kanonenkugel in der Nähe einschlug, aufwinselte, den Schwanz einkniff und nach der Seite fortstürzte. Lautes Lachen und vergnügtes Kreischen erscholl durch das ganze Regiment. Indessen dauerten derartige Zerstreuungen immer nur einen Augenblick; die Leute aber warteten nun schon mehr als acht Stunden ohne Nahrung und ohne Beschäftigung, unaufhörlich vom Tod bedroht, und die blassen, finsteren Gesichter wurden immer blasser und finsterer.
Fürst Andrei, der ebenso finster und blaß aussah wie alle Soldaten seines Regiments, ging, die Hände auf den Rücken gelegt, mit gesenktem Kopf auf einer Wiese neben dem Haferfeld von einem Rain zum andern auf und ab. Zu tun und zu befehlen hatte er nichts. Alles machte sich von selbst. Die Getöteten wurden hinter die Front geschleppt, die Verwundeten fortgetragen, die Reihen schlossen sich wieder zusammen. Wenn Soldaten austraten, so kamen sie sogleich eilig wieder zurück. Anfangs war Fürst Andrei, da er es für seine Pflicht hielt, den Mut der Mannschaft[395] zu beleben und ihnen ein gutes Beispiel zu geben, in den Reihen hin und her gegangen; aber er hatte sich bald überzeugt, daß die Soldaten keiner Belehrung und Mahnung von seiner Seite bedurften. Alle Kräfte seiner Seele waren, wie bei jedem Soldaten, unbewußt darauf gerichtet, die Gedankentätigkeit von der schrecklichen Lage, in der sie sich befanden, abzulenken. Bald schleppte er beim Hin- und Herwandern auf der Wiese mit den Füßen, machte das Gras strubblig und betrachtete den Staub, der seine Stiefel bedeckte; bald ging er mit großen Schritten und versuchte in die Fußtapfen zu treten, die die Mäher auf der Wiese hinterlassen hatten; bald zählte er seine Schritte und stellte Berechnungen darüber an, wie oft er von einem Rain bis zum andern gehen müsse, um eine Werst zurückzulegen; bald streifte er von den am Rain wachsenden Wermutstauden die Blüten ab, zerrieb sie in den Händen und sog ihren kräftigen, aromatisch bitteren Duft mit der Nase ein. Von der ganzen gestrigen Gedankenarbeit war nichts zurückgeblieben. Er dachte an nichts. Mit müdem Ohr horchte er immer auf dieselben beiden verschiedenen Töne, das Pfeifen der fliegenden Geschosse und das Donnern der Schüsse, betrachtete die ihm schon langweilig gewordenen Gesichter der Mannschaft des ersten Bataillons und wartete. »Da ist eine ... die kommt wieder zu uns!« dachte er, während er auf das sich nähernde Pfeifen eines Dinges horchte, das aus der undurchdringlichen Rauchregion herüberkam. »Eine, eine zweite! Noch eine! Hat sie getroffen ...?« Er blieb stehen und blickte über die Reihen hin. »Nein, sie ist darüberhin geflogen. Aber diese hier hat getroffen.« Er nahm seine Wanderung wieder auf und bemühte sich, große Schritte zu machen, um mit sechzehn Schritten bis zu dem Rain zu gelangen.
Ein Pfeifen und ein Schlag! Fünf Schritte von ihm entfernt hatte eine Kanonenkugel die trockene Erde aufgewühlt und war[396] darin verschwunden. Ein kalter Schauder lief ihm unwillkürlich über den Rücken. Er blickte wieder über die Reihen hin. Wahrscheinlich hatte die Kugel viele niedergerissen; beim zweiten Bataillon hatten sich die Soldaten zu einem großen Haufen zusammengedrängt.
»Herr Adjutant!« rief er. »Verbieten Sie den Leuten, sich so zusammenzudrängen.«
Der Adjutant erfüllte seinen Auftrag und trat dann zum Fürsten Andrei heran. Von der andern Seite kam der Bataillonskommandeur herbeigeritten.
»Vorgesehen!« erscholl der ängstliche Ruf eines Soldaten, und wie ein Vögelchen, das in schnellem Flug pfeift und zwitschert und sich dann auf die Erde setzt, klatschte zwei Schritte vom Fürsten Andrei entfernt neben dem Pferd des Bataillonskommandeurs mit nur mäßigem Geräusch eine Granate nieder. Als erstes äußerte das Pferd seine Empfindungen: ohne danach zu fragen, ob es passend oder unpassend sei, seine Furcht zu zeigen, schnaubte es, bäumte sich, so daß es den Major beinah abgeworfen hätte, und jagte nach der Seite davon. Der Schrecken des Pferdes teilte sich auch den Menschen mit.
»Hinlegen!« rief der Adjutant und warf sich auf die Erde.
Fürst Andrei blieb unschlüssig stehen. Die Granate drehte sich wie ein Kreisel rauchend zwischen ihm und dem am Boden liegenden Adjutanten an der Scheidegrenze des Ackers und der Wiese neben einem Wermutstrauch.
»Ist das wirklich der Tod?« dachte Fürst Andrei. Mit einem ganz neuen Gefühl des Neides blickte er nach den vom Tod nicht bedrohten Grasbüscheln und Wermutstauden und beobachtete das Rauchstreifchen, das aus dem sich drehenden schwarzen Ball sich herausschlängelte. »Ich kann nicht sterben, ich will nicht sterben, ich liebe das Leben, ich liebe dieses Gras, die Erde, die[397] Luft ...« So dachte er, und zugleich fiel ihm ein, daß viele Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Schämen Sie sich, Herr Adjutant!« sagte er. »Was für ein ...«
Er sprach nicht zu Ende. In demselben Augenblick ertönte eine Explosion, ein Klirren und Pfeifen von Splittern, wie wenn ein Fensterrahmen zerbräche, ein betäubender Pulverqualm verbreitete sich, Fürst Andrei wurde zur Seite geschleudert und fiel, den einen Arm in die Höhe hebend, auf die Brust.
Einige Offiziere liefen zu ihm hin. Aus der rechten Seite des Unterleibes strömte Blut und breitete sich auf dem Gras zu einem großen Fleck aus. Die herbeigerufenen Landwehrmänner blieben mit ihrer Tragbahre hinter den Offizieren stehen. Fürst Andrei lag auf der Brust; sein Gesicht war in das Gras gesunken; er atmete schwer und röchelnd.
»Nun, was steht ihr? Kommt heran!«
Die Bauern traten hinzu und faßten ihn an den Schultern und Beinen; aber er begann kläglich zu stöhnen, und nachdem sie einen Blick miteinander gewechselt hatten, ließen sie ihn wieder zurücksinken.
»Faßt an, legt ihn darauf; das hilft nichts!« rief eine Stimme.
Sie faßten ihn zum zweitenmal an und legten ihn auf die Tragbahre.
»O Gott, o Gott! Das ist ja entsetzlich ... Der ganze Unterleib! Da ist's aus! O Gott!« äußerte dieser und jener von den Offizieren.
»Ein Haarbreit an meinem Ohr summte sie vorbei«, sagte der Adjutant.
Die Bauern rückten die Tragbahre auf ihren Schultern zurecht und setzten sich auf dem von ihnen ausgetretenen Steig eilig nach dem Verbandsplatz in Bewegung.[398]
»Geht doch im Tritt ...! He ...! Ihr Bauernvolk!« rief ein Offizier, packte die Bauern, die ungleich gingen und die Bahre dadurch erschütterten, an den Schultern und brachte sie so wieder zum Stehen.
»Fjodor, halte Tritt, paß auf, Fjodor!« sagte der Vordermann.
»Ja, ja, so! So ist's gut!« antwortete vergnügt der Hintermann, nachdem er in Tritt gekommen war.
»Euer Durchlaucht ... Was ist Ihnen, Fürst?« sagte der herbeigeeilte Timochin mit zitternder Stimme und blickte auf die Tragbahre.
Fürst Andrei schlug die Augen auf und schaute aus der Tragbahre heraus, in die sein Kopf tief hineingesunken war, nach dem Redenden hin, ließ dann aber die Lider wieder sinken.
Die Landwehrleute trugen den Fürsten Andrei nach dem Wald, wo die Fuhrwerke standen und der Verbandsplatz eingerichtet war. Der Verbandsplatz bestand aus drei am Rand des Birkenwaldes aufgeschlagenen Zelten, mit zurückgeklappten Vorderwänden. In dem Birkenwald standen die Fuhrwerke und Pferde. Die Pferde fraßen Hafer aus ihren Futterbeuteln; eine Menge von Sperlingen hatte sich bei ihnen eingefunden und suchte am Boden die verschütteten Körner auf. Krähen, die das Blut witterten, flatterten ungeduldig krächzend auf den Birken umher. Um die Zelte herum, auf einem Raum von mehr als zwei Deßjatinen, lagen, saßen und standen blutbefleckte Menschen in mannigfaltigen Uniformen. Rings um die Verwundeten standen mit traurigen Mienen in gespannter Aufmerksamkeit Scharen von Landwehrleuten, welche die Tragbahren hergebracht hatten; vergeblich versuchten die Offiziere, die hier auf Ordnung zu halten hatten, sie von diesem Ort wegzujagen. Ohne auf die[399] Offiziere zu hören, blieben sie, auf die Tragbahren gestützt, stehen und blickten unverwandt, als ob sie sich über den schwerverständlichen Sinn dieses Schauspiels klarzuwerden suchten, nach dem hin, was da vor ihren Augen vorging. Aus den Zelten hörte man bald lautes, grimmiges Schreien, bald klägliches Stöhnen. Ab und zu kamen Heilgehilfen von dort herausgelaufen, um Wasser zu holen, und bezeichneten dann auch diejenigen, die hereingetragen werden sollten. Die Verwundeten, die bei den Zelten darauf warteten, daß sie an die Reihe kämen, röchelten, stöhnten, weinten, schrien, schimpften und baten um Branntwein. Manche redeten irre. Den Fürsten Andrei, als einen Regimentskommandeur, trugen die Landwehrleute, durch die noch unverbundenen Verwundeten hinschreitend, näher an eines der Zelte heran und blieben, in Erwartung weiterer Weisungen, dort stehen. Fürst Andrei öffnete die Augen und konnte lange Zeit nicht begreifen, was um ihn herum vorging. Die Wiese, der Wermutstrauch, der Acker, der schwarze, sich drehende Ball und sein leidenschaftlicher Ausbruch von Liebe zum Leben kamen ihm ins Gedächtnis. Zwei Schritte von ihm stand, laut redend und dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehend, auf einen Ast gestützt, mit verbundenem Kopf ein großgewachsener, schöner, schwarzhaariger Unteroffizier. Er hatte Schußwunden im Kopf und im Bein. Um ihn hatte sich, begierig seinen Worten lauschend, ein Haufe von Verwundeten und Trägern versammelt.
»Als wir sie von da wegjagten«, rief der Soldat, indem er rings um sich blickte, wobei seine schwarzen, funkelnden Augen nur so blitzten, »da haben sie alles hingeschmissen, und ihren König selbst haben wir gefangengenommen. Wenn bloß da gerade die Reserven gekommen wären, dann wäre von den Feinden auch nicht so viel übriggeblieben, Jungens, das kann ich euch bestimmt sagen ...«[400]
Wie alle, die den Erzähler umgaben, sah auch Fürst Andrei ihn mit leuchtenden Augen an und fühlte, daß eine tröstliche Empfindung sich in ihm regte. »Aber ist denn nicht jetzt alles gleich?« dachte er. »Wie wird es dort sein, und was hat mir das Leben hier geboten? Warum tat es mir so leid, vom Leben scheiden zu müssen? Es war in diesem Leben etwas, das ich nicht verstand und auch jetzt noch nicht verstehe.«
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro