XXXVII

[401] Einer der Ärzte, dessen Schürze und kleine Hände mit Blut befleckt waren, und der in der einen Hand zwischen dem kleinen Finger und dem Daumen, um sie nicht schmutzig zu machen, eine Zigarre hielt, trat aus dem Zelt heraus. Er hob den Kopf in die Höhe und blickte nach den Seiten hin, aber über die Verwundeten hinweg. Offenbar wollte er sich einen Augenblick erholen. Nachdem er eine Zeitlang den Kopf nach rechts und nach links gedreht hatte, seufzte er und senkte die Augen.

»Ja, ja, gleich«, erwiderte er auf die Frage eines Heilgehilfen, der ihn auf den Fürsten Andrei aufmerksam machte, und ordnete an, daß er in das Zelt gebracht werden sollte.

In der Schar der wartenden Verwundeten erhob sich ein Murren.

»Na ja, auch in jener Welt werden die vornehmen Herren gewiß den Vorzug haben«, sagte einer.

Fürst Andrei wurde hereingetragen und auf einen soeben erst freigewordenen Tisch gelegt, von dem der Heilgehilfe noch irgend etwas abspülte. Fürst Andrei konnte nicht im einzelnen unterscheiden, was im Zelt vorhanden war. Darauf zu achten, machte ihm das klägliche Stöhnen, das von verschiedenen Seiten er tönte, sowie der qualvolle Schmerz in seiner Hüfte, seinem Unterleib und seinem Rücken unmöglich. Alles, was er um sich sah, floß für[401] ihn in das eine Gesamtbild nackter, blutiger Menschenkörper zusammen, die das ganze niedrige Zelt auszufüllen schienen, geradeso wie einige Wochen vorher an jenem heißen Augusttag ebensolche Körper den schmutzigen Teich an der Smolensker Landstraße ausgefüllt hatten. Ja, das war dasselbe Menschenfleisch, jenes Kanonenfutter, chair à canon, dessen Anblick ihn schon damals, wie eine Vorbedeutung auf dieses jetzige Schauspiel, hatte zusammenschaudern lassen.

In dem Zelt befanden sich drei Tische. Zwei von ihnen waren besetzt; auf den dritten wurde Fürst Andrei gelegt. Eine Weile ließ man ihn allein, und unwillkürlich blickte er nach dem hin, was auf den beiden anderen Tischen geschah. Auf dem nächststehenden Tisch saß ein Tatar, wahrscheinlich ein Kosak, nach der Uniform zu urteilen, die neben dem Tisch auf den Boden geworfen war. Vier Soldaten hielten ihn fest. Ein Arzt mit einer Brille schnitt etwas an seinem braunen, muskulösen Rücken.

»Uch, uch, uch ...!« grunzte der Tatar; plötzlich aber hob er sein dunkles Gesicht mit den breiten Backenknochen und der aufgestülpten Nase in die Höhe, fletschte die weißen Zähne, suchte heftig zuckend sich loszureißen und stieß ein durchdringendes, langgezogenes Winseln aus.

Auf dem andern Tisch, um den sich viele Menschen drängten, lag ein großer, wohlgenährter Mann mit zurückgeworfenem Kopf auf dem Rücken; sein lockiges Haar, die Farbe desselben und die Form seines Kopfes kamen dem Fürsten Andrei seltsam bekannt vor. Mehrere Heilgehilfen lehnten sich diesem Mann auf die Brust und hielten ihn fest. Sein eines weißes, großes, fleischiges Bein zuckte unaufhörlich fieberhaft zitternd in schnellen Bewegungen. Er schluchzte und schluckte krampfhaft. Zwei Ärzte, von denen der eine blaß war und zitterte, nahmen mit dem andern, rot aussehenden Bein dieses Menschen schweigend[402] etwas vor. Als der bebrillte Arzt mit dem Tataren fertig war, dem dann ein Mantel übergeworfen wurde, wischte er sich die Hände ab und trat zum Fürsten Andrei.

Er blickte dem Fürsten Andrei forschend ins Gesicht und wandte sich eilig ab.

»Entkleiden! Was steht ihr da?« rief er den Heilgehilfen ärgerlich zu.

Die allererste, fernste Kindheit kam dem Fürsten Andrei ins Gedächtnis, als der Heilgehilfe mit aufgestreiften Ärmeln ihm eilig die Knöpfe aufmachte und ihm die Kleider abzog. Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, sondierte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen, und ein qualvoller Schmerz im Innern des Leibes raubte dem Fürsten Andrei das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Knochen aus der Hüfte herausgenommen, die Fleischfetzen abgeschnitten und die Wunde verbunden. Man spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Sobald Fürst Andrei die Augen aufschlug, beugte sich der Arzt über ihn, küßte ihn schweigend auf die Lippen und trat eilig von ihm weg.

Nach dem überstandenen Leiden durchströmte den Fürsten Andrei ein Wonnegefühl, wie er es schon seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Die schönsten, glücklichsten Augenblicke seines Lebens, namentlich aus der fernsten Kindheit, wenn man ihn ausgezogen und in sein Bettchen gelegt hatte und die Wärterin ihn in Schlaf sang und er, den Kopf in die Kissen vergrabend, sich in dem bloßen Bewußtsein des Lebens glücklich fühlte, diese Augenblicke boten sich seinem geistigen Blick dar, und zwar nicht wie etwas Vergangenes, sondern wie Wirklichkeit.

Um jenen Verwundeten, dessen Kopfumrisse dem Fürsten Andrei so bekannt vorgekommen waren, waren die Ärzte eifrig beschäftigt; sie hoben ihn auf und redeten ihm beruhigend zu.[403]

»Zeigen Sie mir ... Oooooh! oh! Oooooh!« erscholl sein von Schluchzen unterbrochenes, angstvolles Stöhnen, dem man es anhörte, daß er vom Schmerz überwältigt war.

Als Fürst Andrei dieses Stöhnen hörte, hätte er am liebsten losgeweint. Ob nun, weil er im Begriff war eines ruhmlosen Todes zu sterben, oder deshalb, weil es ihm ein Schmerz war, vom Leben scheiden zu müssen, oder infolge dieser Erinnerungen an seine unwiederbringliche Kindheit, oder deshalb, weil er litt und andere Menschen litten und dieser Mensch so kläglich neben ihm stöhnte: genug, es drängte ihn, kindliche, gutherzige, beinahe freudige Tränen zu vergießen.

Man zeigte dem Verwundeten sein abgeschnittenes Bein, das noch mit dem Stiefel bekleidet und von geronnenem Blut bedeckt war.

»Oh! Oooooh!« schluchzte er wie ein Weib.

Der Arzt, der vor dem Verwundeten gestanden und dem Fürsten Andrei dessen Gesicht verdeckt hatte, trat zur Seite.

»Mein Gott! Was ist das? Wie kommt der hierher?« fragte sich Fürst Andrei.

In dem unglücklichen, schluchzenden, kraftlosen Menschen, dem soeben das Bein amputiert worden war, hatte er Anatol Kuragin erkannt. Die Heilgehilfen umfingen diesen stützend mit den Armen, und einer hielt ihm ein Glas Wasser hin, dessen Rand Anatol aber mit seinen zitternden, geschwollenen Lippen nicht fassen konnte. Anatol schluchzte heftig. »Ja, das ist er; ja, dieser Mensch steht in irgendeiner nahen, schmerzlichen Beziehung zu mir«, dachte Fürst Andrei, der das, was er vor sich hatte, noch nicht klar begriff. »Worin besteht die Verbindung dieses Menschen mit meiner Kindheit, mit meinem Leben?« fragte er sich, fand aber keine Antwort darauf. Plötzlich jedoch trat eine neue, unerwartete Erinnerung aus einer reinen, lieblichen, kindlichen Welt dem Fürsten[404] Andrei vor die Seele. Er erinnerte sich an Natascha in der Gestalt, wie er sie zum erstenmal auf dem Ball im Jahre 1810 gesehen hatte, mit dem dünnen Hals, den schmächtigen Armen, mit dem zur Freude und zum Entzücken bereiten, ängstlichen, glücklichen Gesicht, und eine zärtliche Liebe zu ihr erwachte noch lebendiger und stärker als je zuvor in seiner Seele. Jetzt fiel ihm auch die Verbindung ein, die zwischen ihm und diesem Menschen bestand, der durch die Tränen hindurch, die seine verschwollenen Augen anfüllten, ihn trüb anblickte. Fürst Andrei erinnerte sich an alles, und sein glückliches Herz wurde von aufrichtigem Mitleid, von herzlicher Liebe zu diesem Menschen erfüllt.

Er konnte sich nicht mehr halten und vergoß milde, liebevolle Tränen über die Menschen, über sich selbst und über ihre und seine Verirrungen.

»Mitleid, Liebe zu unsern Brüdern, zu denen, die uns lieben; Liebe zu denen, die uns hassen, Liebe zu unsern Feinden; ja, jene Liebe, die Gott auf Erden gepredigt hat, jene Liebe, die mich Prinzessin Marja lehren wollte und die ich nicht verstand: das ist's, weswegen es mir leid tat, aus dem Leben scheiden zu müssen; das ist das, was ich noch zu tun vor mir hatte, wenn ich am Leben geblieben wäre. Aber jetzt ist es zu spät. Das weiß ich!«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 401-405.
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