XV

[483] Moskaus letzter Tag brach an. Es war ein Sonntag mit schönem, klarem Herbstwetter. Wie auch sonst immer an Sonntagen wurde in allen Kirchen zur Messe geläutet. Es schien, als habe noch niemand ein Verständnis dafür, was der Stadt bevorstand.

Nur zwei Anzeichen im sozialen Leben deuteten darauf hin, in welcher Lage sich Moskau befand: das Treiben der ärmeren Bevölkerung und die Preise mancher Gegenstände. Ein gewaltiger Haufe von Fabrikarbeitern, Gutsleuten und Bauern, vermischt mit Beamten, Seminaristen und Adligen, zog an diesem Tag frühmorgens auf die Drei Berge hinaus. Nachdem die Leute dort eine Weile gestanden, vergeblich auf Rastoptschin gewartet und die Überzeugung erlangt hatten, daß Moskau dem Feind überlassen werden würde, kehrten sie in die Stadt zurück und zerstreuten sich in die Schenken und Speisewirtschaften. Die Preise wiesen an diesem Tag gleichfalls auf die Lage der Dinge hin. Die Preise für Waffen, Bauernwagen und Pferde sowie der Kurs des Goldes stiegen immer höher, wogegen der Kurs des Papiergeldes und die Preise für feinere Waren immer mehr sanken. Gegen Mittag kam es vor, daß Fuhrleute für das Herausschaffen teurer Waren, z.B. besserer Tuche, aus der Stadt die Hälfte der Waren erhielten und für ein Bauernpferd fünfhundert Rubel bezahlt wurden: Möbel aber, Spiegel und Bronzen wurden umsonst weggegeben.

In dem alten, soliden Rostowschen Haus machte sich dieser Zerfall der bisherigen Lebensverhältnisse nur wenig fühlbar. In bezug auf die Leute kam weiter nichts vor, als daß in der Nacht von der großen Dienerschaft drei Mann heimlich davongingen, ohne indes etwas zu stehlen; und was die Veränderungen im[484] Wert mancher Dinge anlangte, so stellte sich heraus, daß die dreißig Fuhrwerke, die von den Gütern hereingekommen waren, einen gewaltigen Reichtum repräsentierten, um welchen Rostows von vielen beneidet wurden; man bot ihnen für diese Fuhrwerke enorme Summen Geldes. Ja, am Abend des vorhergehenden Tages und frühmorgens am 1. September kamen, von den verwundeten Offizieren geschickt, Burschen und Diener auf den Rostowschen Hof, und auch die Verwundeten selbst, die bei Rostows und in den Nachbarhäusern einquartiert waren, schleppten sich hin und flehten die Rostowschen Leute an, ihnen doch zu erwirken, daß sie ein Fuhrwerk bekämen, um Moskau verlassen zu können. Der Haushofmeister, an den sie sich mit solchen Bitten wandten, hatte zwar mit den Verwundeten alles Mitleid, schlug aber die Bitten rundweg ab, indem er sagte, er wage nicht ein mal, dem Grafen davon Meldung zu machen. Wie leid ihm auch die zurückbleibenden Verwundeten täten, so sei es doch klar, daß, wenn man ein Fuhrwerk bewilligte, man auch ein zweites nicht wohl abschlagen könne; und so würden schließlich alle hingegeben werden, auch die eigenen Equipagen der Herrschaft. Dreißig Fuhrwerke würden ja auch gar nicht ausreichen, um alle Verwundeten in Sicherheit zu bringen, und bei dem allgemeinen Unglück müsse ein jeder auch für sich und für seine Familie sorgen. So dachte der Haushofmeister für seinen Herrn.

Als Graf Ilja Andrejewitsch am Morgen des 1. September aufgewacht war, ging er leise, um die Gräfin nicht zu wecken, die erst gegen Morgen eingeschlafen war, aus dem Schlafzimmer und trat in seinem lilaseidenen Schlafrock auf die Freitreppe hinaus. Die verschnürten Fuhrwerke standen auf dem Hof, die Kutschen bei der Freitreppe. Der Haushofmeister stand in der Nähe und redete mit einem alten Offiziersburschen und einem jungen blassen Offizier mit verbundenem Arm. Als der Haushofmeister[485] den Grafen erblickte, machte er dem Offizier und dem Burschen ein bedeutsames, energisches Zeichen, daß sie weggehen möchten.

»Nun, wie steht's? Alles bereit, Wasiljewitsch?« fragte der Graf. Er rieb sich seinen kahlen Kopf, blickte den Offizier und den Burschen gutmütig an und nickte ihnen zu. Der Graf hatte überhaupt stets seine Freude daran, neue Gesichter zu sehen.

»Es kann sofort angespannt werden, wenn Euer Erlaucht befehlen.«

»Nun, das ist ja prächtig. Die Gräfin wird auch bald aufwachen, und dann wollen wir in Gottes Namen fahren! Was wünschen Sie, mein Herr?« wandte er sich an den Offizier. »Sind Sie bei mir im Haus?«

Der Offizier trat näher heran. Sein blasses Gesicht wurde auf einmal von einer hellen Röte übergossen.

»Graf, tun Sie mir den großen Gefallen und erlauben Sie mir, um Gottes willen, mir irgendwo auf einem Ihrer Fuhrwerke ein Plätzchen zu suchen. Sachen habe ich keine bei mir. Wenn es auch auf einem Bauernwagen ist; mir ganz gleich.«

Der Offizier hatte noch nicht ausgesprochen, als sich der Bursche mit derselben Bitte für seinen Herrn an den Grafen wandte.

»O gewiß, jawohl, jawohl«, sagte der Graf eilig. »Es freut mich, freut mich sehr. Wasiljewitsch, ordne das Nötige an; laß da einen oder zwei Wagen leer machen; nun ja, da ... schön ... soviel wie nötig ...«, sagte der Graf, sich bei seinem Befehl recht unbestimmter Ausdrücke bedienend.

Aber in demselben Augenblick machte der Ausdruck heißer Dankbarkeit, der auf das Gesicht des Offiziers trat, gewissermaßen den vom Grafen erteilten Befehl unwiderruflich. Der Graf blickte um sich; auf dem Hof, im Tor, an den Fenstern des Nebengebäudes waren Verwundete und Burschen sichtbar.[486] Alle sahen sie nach dem Grafen hin und setzten sich nach der Freitreppe zu in Bewegung.

»Darf ich Euer Erlaucht bitten, mit nach der Galerie zu kommen? Ich möchte um Ihre Befehle bitten, wie es da mit den Bildern gehalten werden soll«, sagte der Haushofmeister.

Der Graf ging mit ihm ins Haus hinein und wiederholte ihm dabei seinen Befehl, Verwundeten, die mitfahren zu dürfen bäten, solle dies bewilligt werden.

»Nun, warum denn nicht? Man kann ja etwas herunternehmen«, fügte er leise und gewissermaßen heimlich hinzu, als ob er fürchtete, von jemand gehört zu werden.

Um neun Uhr wachte die Gräfin auf, und Matrona Timofjejewna, ihr ehemaliges Stubenmädchen, das jetzt bei der Gräfin sozusagen das Amt eines Polizeiinspektors versah, kam, um ihrer früheren Herrin zu melden, daß Marja Karlowna höchst entrüstet sei und daß die Sommerkleider der jungen Damen unmöglich hiergelassen werden könnten. Auf ihre Frage, warum denn Madame Schoß entrüstet sei, erfuhr die Gräfin dann, der Koffer der Madame Schoß sei vom Wagen wieder heruntergenommen worden; es sollten alle Fuhren wieder aufgeschnürt, die Sachen abgeladen und Verwundete hineingesetzt werden, die der Graf in seiner Gutmütigkeit mitzunehmen befohlen habe. Die Gräfin befahl, ihren Mann zu ihr zu bitten.

»Was hat das zu bedeuten, mein Freund, ich höre, daß die Sachen wieder abgeladen werden?«

»Weißt du, liebe Frau, ich wollte es dir eben sagen ... meine liebe Gräfin ... Da ist ein Offizier zu mir gekommen; die Verwundeten bitten, ihnen ein paar Wagen zu überlassen. Die Sachen lassen sich ja alle wieder beschaffen; aber wie traurig wäre es für diese armen Menschen, wenn sie hierbleiben müßten, überlege das einmal! Wahrhaftig! Wir haben da Offiziere in[487] unserm Haus, wir haben sie ja selbst zu uns eingeladen ... Weißt du, ich glaube, wahrhaftig, liebe Frau, siehst du wohl, liebe Frau ... mögen sie doch die Wagen benutzen ... mit uns hat es ja keine Not.«

Der Graf sagte das schüchtern, so wie er stets sprach, wenn es sich um Geldsachen handelte. Die Gräfin ihrerseits kannte diesen Ton recht gut, dessen sich der Graf immer bediente, wenn er irgend etwas vorhatte, wodurch der finanzielle Ruin der Kinder beschleunigt wurde, etwa den Bau einer Galerie oder eines Gewächshauses oder die Einrichtung eines Haustheaters oder eines Hausorchesters; die Gräfin kannte diesen Ton und hielt es für ihre Pflicht, immer gegen das anzukämpfen, was der Graf in diesem schüchternen Ton vorbrachte.

Sie nahm also ihre unterwürfige, weinerliche Miene an und sagte zu ihrem Mann: »Höre einmal, Graf, du hast es schon dahin gebracht, daß wir für das Haus nichts bekommen, und nun willst du auch noch unsere ganze bewegliche Habe, die Habe unserer Kinder, zugrunde richten. Du hast ja doch selbst gesagt, daß die Sachen in unserm Hause einen Wert von hunderttausend Rubeln haben. Ich für meine Person, mein Freund, bin darin mit dir nicht einverstanden, durchaus nicht einverstanden. Nimm es mir nicht übel. Für die Verwundeten ist die Regierung da. Die wird schon wissen, was zu tun ist. Sieh nur: da drüben bei Lopuchins ist schon gestern alles, geradezu alles weggeschafft. So machen es alle vernünftigen Leute. Nur wir sind die Dummen. Habe doch wenigstens mit den Kindern Mitleid, wenn du mit mir schon keines hast.«

Der Graf schwenkte resigniert die Arme und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer.

»Papa, worüber haben Sie sich denn gestritten?« fragte ihn[488] Natascha, die nach ihm in das Zimmer der Mutter gekommen war und ihm nun in den Salon folgte.

»Über nichts! Was geht es dich an!« antwortete der Graf ärgerlich.

»Aber ich habe es doch gehört«, sagte Natascha. »Warum will Mama es denn nicht?«

»Was geht es dich an?« schrie der Graf.

Natascha trat von ihm weg ans Fenster und überließ sich ihren Gedanken.

»Papa, Berg kommt bei uns vorgefahren«, sagte sie, durch das Fenster blickend.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 483-489.
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