XVI

[489] Berg, der Rostowsche Schwiegersohn, war schon Oberst, war mit dem Wladimir- und dem Anna-Orden am Halse dekoriert und bekleidete immer noch denselben ruhigen, angenehmen Posten als Gehilfe des Stabschefs des Gehilfen der ersten Abteilung des Stabschefs des zweiten Armeekorps.

Er kam am 1. September von der Armee nach Moskau.

Zu tun hatte er in Moskau eigentlich nichts; aber er hatte wahrgenommen, daß alle sich von der Armee Urlaub nach Moskau geben ließen, ohne daß er wußte, was sie dort täten, und so hielt er es denn gleichfalls für nötig, sich in häuslichen und Familienangelegenheiten Urlaub geben zu lassen.

Berg fuhr in seinem sauberen Kutschwägelchen, das mit zwei wohlgenährten Hellbraunen bespannt war (genau solchen, wie sie ein gewisser Fürst besaß), vor dem Haus seines Schwiegervaters vor. Aufmerksam blickte er auf den Hof nach den Fuhrwerken hin, zog, als er die Stufen vor der Haustür hinanstieg, sein reines Taschentuch heraus und band einen Knoten hinein.

Aus dem Vorzimmer ging Berg mit schleifendem, ungeduldigem[489] Gang in den Salon, umarmte dort den Grafen, küßte Natascha und Sonja die Hand und erkundigte sich eilig nach dem Befinden der Mama.

»Wie könnte sie sich jetzt wohlbefinden? Nun, aber erzähle doch«, sagte der Graf, »was macht die Armee? Ziehen sie sich zurück, oder wird noch eine Schlacht geliefert werden?«

»Nur der allmächtige Gott, Papa«, antwortete Berg, »kann über das Schicksal unseres Vaterlandes entscheiden. Die Armee glüht von heroischem Mut, und jetzt sind die geistigen Leiter derselben, um mich so auszudrücken, zur Beratung zusammengetreten. Was geschehen wird, ist noch unbekannt. Aber von dem ganzen russischen Heer kann ich Ihnen sagen, Papa: ein so heldenmütiger Geist, ein so wahrhaft antiker Mannesmut, wie sie ... wie es« (verbesserte er sich) »ihn in diesem Ringen am sechsundzwanzigsten gezeigt oder bewiesen hat, läßt sich gar nicht mit würdigen Worten schildern. Ich sage Ihnen, Papa« (er schlug sich ebenso gegen die Brust, wie das vor kurzem in seiner Gegenwart ein russischer General getan hatte, der von der Schlacht erzählte; freilich tat Berg es etwas zu spät, da er sich bei den Worten »das russische Heer« hätte gegen die Brust schlagen müssen), »ich sage Ihnen wahrheitsgemäß: wir Offiziere brauchten nicht nur die Soldaten nicht anzufeuern, sondern wir konnten sogar nur mit Mühe diese, diese ... ja, diese mannhaften, des Altertums würdigen Heldentaten mäßigen«, sagte er in schnellfließender Rede. »General Barclay de Tolly hat sein Leben überall vor der Front der Truppen aufs Spiel gesetzt, kann ich Ihnen sagen. Unser eigenes Korps war am Abhang eines Berges aufgestellt. Sie können sich vorstellen, wie es da herging!«

Und nun erzählte Berg alles, was ihm von den verschiedenen Erzählungen, die er diese Zeit her gehört hatte, im Gedächtnis war. Natascha sah ihn unverwandt an, als ob sie auf seinem Gesicht[490] über irgend etwas ins klare zu kommen suchte; dieser Blick machte Berg verlegen.

»Ein solcher Heroismus, wie ihn die russischen Truppen an den Tag gelegt haben, läßt sich überhaupt gar nicht beschreiben, gar nicht genug rühmen«, fuhr Berg fort; er blickte dabei zu Natascha hin und lächelte ihr in Erwiderung auf ihren hartnäckigen Blick zu, als ob er sie damit bestechen wollte. »Es ist ein schönes Wort: ›Rußland ist nicht in Moskau, es ist in den Herzen seiner Söhne!‹ Nicht wahr, Papa?« sagte Berg.

In diesem Augenblick kam die Gräfin mit müdem mißvergnügtem Gesicht vom Sofazimmer in den Salon. Eilfertig sprang Berg auf, küßte ihr die Hand, erkundigte sich nach ihrem Befinden und blieb, durch bedauerndes Hin- und Herwiegen des Kopfes seine Teilnahme zum Ausdruck bringend, bei ihr stehen.

»Ja, Mama, das sage ich Ihnen aus tiefster Seele: es sind schwere, traurige Zeiten für jeden Russen. Aber wozu beunruhigen Sie sich so? Sie werden noch rechtzeitig fortkommen.«

»Ich verstehe gar nicht, was die Leute machen«, sagte die Gräfin, sich zu ihrem Mann wendend. »Es wurde mir soeben gesagt, es sei noch nichts bereit. Es müßte doch jemand das Erforderliche anordnen. Schade, daß wir Dmitri nicht hier haben. Wir werden ja nie fertig!«

Der Graf wollte etwas erwidern, beherrschte sich aber offenbar. Er stand von seinem Stuhl auf und ging zur Tür.

In diesem Augenblick zog Berg, wohl um sich die Nase zu putzen, sein Taschentuch heraus; als er dabei den Knoten erblickte, wurde er nachdenklich und wiegte ernst und trübe den Kopf hin und her.

»Ich habe eine große Bitte an Sie, Papa«, sagte er.

»Hm?« erwiderte der Graf und blieb stehen.[491]

»Ich kam soeben an dem Jusupowschen Haus vorbei«, sagte Berg lächelnd. »Da kam der Verwalter, den ich kenne, herausgelaufen und fragte mich: ›Wollen Sie nicht etwas kaufen?‹ Ich ging hinein, wissen Sie, nur so aus Neugierde, und da fand ich ein Näh-und Putztischchen. Sie wissen, daß Wjera sich eines wünschte und daß wir uns darüber stritten.« (Berg war, als er von dem Näh- und Putztischchen zu sprechen angefangen hatte, unwillkürlich in einen Ton freudiger Erregung über seine kluge Benutzung der Umstände übergegangen.) »Und so allerliebst ist das Tischchen! Zum Herausziehen und mit einem englischen Geheimfach, wissen Sie. Und Wjera hat sich schon lange so ein Tischchen gewünscht. Also möchte ich sie damit überraschen. Nun habe ich bei Ihnen eine solche Menge Bauern auf dem Hof gesehen. Bitte, geben Sie mir einen davon zum Transport des Tischchens; ich will es ihm gut bezahlen und ...«

Der Graf runzelte die Stirn und räusperte sich.

»Wenden Sie sich mit Ihrer Bitte an die Gräfin; ich habe hier nichts anzuordnen.«

»Wenn es irgendwie Umstände macht, so ist es ja nicht nötig«, sagte Berg. »Es wäre mir nur um Wjeras willen sehr lieb gewesen.«

»Ach, schert euch alle zum Teufel, jawohl zum Teufel!« schrie der alte Graf. »Mir ist der Kopf ganz wirbelig.«

Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. Die Gräfin brach in Tränen aus.

»Ja, ja, Mama, es sind recht schwere Zeiten!« sagte Berg.

Natascha war mit dem Vater zugleich hinausgegangen; anfangs ging sie wie in schwerem Nachdenken hinter ihm her, aber dann lief sie nach unten.

Auf der Freitreppe stand Petja, der damit beschäftigt war, die Leute, die aus Moskau wegfahren sollten, zu bewaffnen. Auf[492] dem Hof standen immer noch wie vorher die beladenen, bespannten Fuhrwerke. Nur zwei Fuhrwerke waren leer gemacht, und auf eines von ihnen stieg, von seinem Burschen unterstützt, ein Offizier hinauf.

»Weißt du, warum?« fragte Petja seine Schwester.

Natascha verstand, was er meinte: ob sie wüßte, warum der Vater und die Mutter sich gestritten hätten. Sie gab ihm keine Antwort.

»Weil Papa alle Fuhrwerke für die Verwundeten hergeben wollte«, sagte Petja. »Wasiljewitsch hat es mir gesagt. Meiner Ansicht nach ...«

»Meiner Ansicht nach«, rief Natascha auf einmal fast schreiend, indem sie ihr zorniges Gesicht zu Petja hinwandte, »meiner Ansicht nach ist das eine Schändlichkeit, eine Gemeinheit, eine ... ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll. Sind wir denn etwa Deutsche?«

Die Kehle zitterte ihr von krampfhaftem Schluchzen; aus Furcht, sie werde sich nicht halten können und die ganze Ladung ihres Ingrimms nutzlos verpuffen, drehte sie sich um und lief eilig die Treppe hinauf.

Berg saß bei der Gräfin und tröstete sie in der respektvollen Weise eines jüngeren Familienmitgliedes. Der Graf ging mit der Pfeife in der Hand im Zimmer auf und ab, als plötzlich Natascha mit einem Gesicht, das von zorniger Erregung ganz entstellt aussah, wie ein Sturmwind ins Zimmer hereinstürzte und mit schnellen Schritten auf die Mutter zutrat.

»Das ist eine Schändlichkeit, eine Gemeinheit!« rief sie. »Es ist unmöglich, daß Sie das befohlen haben.«

Berg und die Gräfin blickten sie verständnislos und erschrocken an. Der Graf blieb auf seiner Wanderung am Fenster stehen und horchte auf.[493]

»Mama, das darf nicht sein!« rief sie. »Sehen Sie nur einmal auf den Hof; sie sollen hierbleiben!«

»Was hast du? Von wem redest du? Was willst du denn?«

»Von den Verwundeten rede ich! Das darf nicht sein, liebe Mama; das wäre ja unerhört ... Nein, liebe, beste Mama, das ist nicht das Richtige; verzeihen Sie mir, bitte, liebe Mama ... Liebe Mama, was haben wir von den Sachen, die wir mitnehmen könnten! Sehen Sie nur einmal auf den Hof ... Liebe Mama ...! Das kann nicht sein ...!«

Der Graf stand am Fenster und horchte, ohne das Gesicht umzuwenden, auf Nataschas Worte hin. Plötzlich schnob er hörbar durch die Nase und hielt sein Gesicht dicht an das Fenster.

Die Gräfin blickte ihre Tochter an, sah, wie deren Gesicht von Scham über das Verhalten ihrer Mutter übergossen war, sah Nataschas Aufregung, begriff, weshalb ihr Mann sich jetzt nicht nach ihr umsehen mochte, und schaute mit verlegener Miene rings um sich.

»Ach, tut meinetwegen, was ihr wollt! Als ob ich jemanden hinderte!« sagte sie in einem Ton, als wolle sie sich doch nicht gleich mit einemmal völlig ergeben.

»Liebe Mama, beste Mama, verzeihen Sie mir!«

Aber die Gräfin schob die Tochter von sich und trat an den Grafen heran.

»Mein Lieber, ordne du nur alles an, wie du es für nötig hältst; ich verstehe ja nichts davon«, sagte sie, schuldbewußt die Augen niederschlagend.

»Hier ist einmal wirklich das Ei klüger gewesen als die Henne«, sagte der Graf unter Tränen glückseliger Freude und umarmte seine Frau, die froh war, ihr von Scham übergossenes Gesicht an seiner Brust verbergen zu können.

»Lieber Papa, liebe Mama, darf ich es anordnen? Darf ich?«[494] fragte Natascha. »Das Notwendigste werden wir trotzdem mitnehmen können.«

Der Graf nickte ihr bejahend zu, und Natascha lief mit solcher Geschwindigkeit wie früher beim »Greifen«-Spielen durch den Saal ins Vorzimmer und die Treppe hinunter auf den Hof.

Die Leute versammelten sich um Natascha und vermochten an den seltsamen Befehl, den sie ihnen überbrachte, nicht eher zu glauben, als bis der Graf selbst, zugleich im Namen seiner Frau, den Befehl bestätigte, daß alle Fuhrwerke den Verwundeten eingeräumt, die Kisten aber in die Vorratsräume gebracht werden sollten. Als sie den Befehl richtig erfaßt hatten, machten sich die Leute mit sichtlicher Freude und emsiger Geschäftigkeit an die neue Arbeit. Der Dienerschaft erschien dies jetzt ganz und gar nicht seltsam, ja, sie hatte im Gegenteil das Gefühl, es könne gar nicht anders sein, gerade wie es eine Viertelstunde vorher keinem von ihnen seltsam erschienen war, daß die Verwundeten zurückgelassen und die Sachen mitgenommen werden sollten, sondern sie dies für selbstverständlich gehalten hatten.

Alle Hausgenossen nahmen mit großem Eifer, wie wenn sie es wiedergutmachen wollten, daß sie dies nicht früher getan hatten, die neue Aufgabe in Angriff, die Verwundeten auf den Fuhrwerken unterzubringen. Die Verwundeten kamen aus ihren Zimmern herausgekrochen und umringten mit blassen, aber freudigen Gesichtern die Fuhrwerke. Auch nach den Nachbarhäusern war das Gerücht gedrungen, daß hier Fuhrwerke zu haben seien, und so begannen auch aus anderen Häusern Verwundete zu Rostows auf den Hof zu kommen. Viele der Verwundeten baten, die Sachen nicht herunterzunehmen, sondern sie nur obendrauf zu setzen. Aber das einmal begonnene Werk des Abladens der Sachen ließ sich nicht mehr hemmen; auch war es ganz gleich, ob alles dagelassen wurde oder nur die Hälfte. Auf[495] dem Hof standen die noch nicht weggeräumten Kisten mit Bronzen, Gemälden, Spiegeln und Geschirr umher, die am vorhergehenden Abend bis in die Nacht hinein so eifrig gepackt waren, und immer suchte und fand man noch eine Möglichkeit, auch dies und das noch abzuladen und immer noch einen Wagen nach dem andern für die Verwundeten zu bestimmen.

»Vier können wir noch mitnehmen; ich will gern mein Fuhrwerk dazu hergeben«, sagte der Verwalter. »Aber wohin mit den letzten?«

»Nehmt nur den Wagen mit meiner Garderobe«, sagte die Gräfin. »Dunjascha kann sich zu mir in die Kutsche setzen.«

Auch der Garderobewagen wurde noch dazugenommen, und da noch Platz blieb, wurde er nach einem der Nachbarhäuser geschickt, um auch von dort noch Verwundete zu holen. Alle Familienmitglieder und die Dienerschaft waren in heiterer Erregung. Natascha befand sich in einer so lebhaften, feierlich-glückseligen Gemütsstimmung, wie sie sie seit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte.

»Wo sollen wir die denn festbinden?« fragten die Leute, die vergebens eine Kiste an das schmale Hinterbrett eines der Kutschwagen heranpaßten. »Wenigstens einen Bauernwagen müßten wir doch für die Sachen behalten.«

»Was ist denn darin?« fragte Natascha.

»Die Bücher des Grafen.«

»Laßt die Kiste nur hier; Wasiljewitsch wird sie wegstellen; die braucht nicht mit.«

In der Britschke waren alle Plätze besetzt; es wurde überlegt, wo denn nun Petja sitzen sollte.

»Er kann auf dem Bock sitzen. Nicht wahr, du steigst auf den Bock, Petja?« rief Natascha.

Auch Sonja war unablässig tätig; aber ihre Geschäftigkeit hatte[496] gerade das entgegengesetzte Ziel wie die Nataschas: Sonja räumte die Sachen beiseite, die dableiben sollten, machte auf Wunsch der Gräfin ein Verzeichnis davon und suchte soviel wie möglich mitzunehmen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 489-497.
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