[569] Pierre, der sich die Meinung zurechtgemacht hatte, er dürfe vor Ausführung seiner Absicht weder seinen Stand noch seine Kenntnis des Französischen merken lassen, stand in der halbgeöffneten Korridortür und hatte vor, sofort zu verschwinden, sobald die Franzosen hereinkämen. Aber die Franzosen kamen herein, und Pierre ging trotzdem nicht von der Tür fort: eine unbezwingliche Neugier hielt ihn fest.
Es waren ihrer zwei: der eine ein Offizier, ein schöner Mann von hohem Wuchs und mutigem Aussehen, der andre offenbar ein Gemeiner oder ein Bursche, untersetzt, mager, von der Sonne verbrannt, mit eingefallenen Backen und stumpfem Gesichtsausdruck. Der Offizier, der sich auf einen Stock stützte und ein wenig hinkte, ging voran. Nachdem er einige Schritte getan hatte, schien er mit sich darüber ins reine gekommen zu sein, daß dieses Quartier gut für ihn passe; er blieb stehen, wandte sich zu dem in der Tür stehenden Soldaten zurück und rief ihm mit lauter Kommandostimme zu, sie sollten die Pferde hereinbringen. Nachdem er dies erledigt hatte, strich sich der Offizier mit einer forschen Gebärde, indem er den Ellbogen hoch aufhob, den Schnurrbart zurecht und legte die Hand an die Mütze.[569]
»Guten Tag, allerseits!« sagte er auf französisch und blickte vergnügt lächelnd rings um sich.
Niemand antwortete.
»Sind Sie der Hausherr?« wandte er sich an Gerasim.
Gerasim sah den Offizier erschrocken und fragend an.
»Quartier, Quartier, Logis«, fuhr der Offizier fort und betrachtete den kleinen Menschen von oben bis unten mit einem leutseligen, gutmütigen Lächeln. »Die Franzosen sind gute Kerle. Weiß Gott! Sie sollen sehen, Alterchen: wir werden uns schon vertragen«, fügte er hinzu und klopfte dem erschrockenen, schweigsamen Gerasim auf die Schulter.
»Nun? Sagen Sie mal, spricht denn hier im Haus kein Mensch französisch?« redete er weiter, sah sich rings um, und seine Blicke begegneten den Blicken Pierres. Pierre zog sich von der Tür zurück.
Der Offizier wandte sich wieder an Gerasim. Er verlangte, Gerasim solle ihm die Zimmer im Haus zeigen.
»Der Herr ist nicht da ... ich verstehe Sie nicht ...«, sagte Gerasim, bemühte sich aber dabei, seine Worte dadurch verständlicher zu machen, daß er sie in verdrehter Weise aussprach.
Der französische Offizier breitete, dicht vor Gerasim hintretend, lächelnd die Arme auseinander und gab dadurch zu verstehen, daß auch er ihn nicht verstände; dann ging er, leicht hinkend, zu der Tür hin, an welcher Pierre stand. Pierre wollte weggehen, um sich vor ihm zu verbergen; aber in diesem Augenblick sah er, wie sich die Küchentür öffnete und Makar Alexejewitsch mit der Pistole in der Hand sich von dort hereinbog. Mit der den Wahnsinnigen eigenen Schlauheit betrachtete Makar Alexejewitsch den Franzosen, hob dann die Pistole in die Höhe und zielte.
»Zum Entern!« schrie der Betrunkene und fingerte an der Pistole herum, um sie abzudrücken. Der französische Offizier[570] wandte sich auf den Schrei um, und in demselben Augenblick stürzte sich Pierre auf den Betrunkenen. In dem Augenblick, als Pierre die Pistole faßte und nach oben drehte, hatte Makar Alexejewitsch endlich mit den Fingern den Abzug gefunden, und es ertönte ein betäubender Schuß, der alle Anwesenden in Pulverdampf hüllte. Der Franzose wurde blaß und stürzte zur Tür zurück.
Pierre vergaß seinen Vorsatz, nicht merken zu lassen, daß er des Französischen mächtig sei, riß dem Betrunkenen die Pistole aus der Hand und warf sie beiseite; dann lief er zu dem Offizier hin und redete ihn auf französisch an.
»Sie sind nicht verwundet?« fragte er.
»Ich glaube nicht«, antwortete der Offizier, indem er an sich herumtastete. »Diesmal bin ich glücklich davongekommen«, fügte er hinzu und deutete auf den abgeschlagenen Kalkbewurf an der Wand. »Was ist das für ein Mensch?« fragte er, Pierre streng ansehend.
»Ich bin wirklich in Verzweiflung über diesen Vorfall«, erwiderte Pierre schnell, ohne an seine Rolle zu denken. »Er ist ein Narr, ein Unglücklicher, der nicht wußte, was er tat.«
Der Offizier trat zu Makar Alexejewitsch hin und packte ihn am Kragen.
Makar Alexejewitsch machte die Lippen auseinander, wie wenn er einschliefe, schwankte hin und her und lehnte sich gegen die Wand.
»Mordbube, das sollst du mir büßen!« sagte der Franzose und zog seine Hand wieder zurück. »Wir sind milde nach dem Sieg; aber Verräter finden bei uns keine Gnade«, fügte er mit finsterem, feierlichem Ernst in der Miene und mit einer hübschen, energischen Handbewegung hinzu.
Pierre fuhr fort, den Offizier auf französisch zu bitten, er[571] möchte doch diesen betrunkenen, geistesschwachen Menschen nicht zur Verantwortung ziehen. Der Franzose hörte ihn schweigend an, ohne seine finstere Miene zu ändern; aber plötzlich wandte er sich lächelnd zu Pierre hin. Er betrachtete ihn einige Sekunden lang schweigend. Sein schönes Gesicht nahm einen theatralischen Ausdruck zärtlicher Rührung an, und er streckte ihm die Hand hin.
»Sie haben mir das Leben gerettet! Sie sind ein Franzose«, sagte er.
Für einen Franzosen war diese Schlußfolgerung zwingend. Eine große, edle Tat vollbringen, das konnte nur ein Franzose, und ihm das Leben zu retten, ihm, Herrn Ramballe, Kapitän im dreizehnten Regiment Chevauleger, das war ohne Zweifel eine sehr große, edle Tat.
Aber mochte diese Schlußfolgerung auch noch so zwingend und die sich darauf gründende Überzeugung des Offiziers noch so fest sein, so hielt es Pierre doch für nötig, seine falsche Vorstellung zu zerstören.
»Ich bin Russe«, sagte er schnell.
»Papperlapapp! Machen Sie mir nichts weis!« erwiderte der Franzose lächelnd und bewegte einen Finger vor seiner Nase hin und her. »Sie werden mir sehr bald erzählen, wie es damit steht. Ich bin entzückt, hier einen Landsmann zu treffen. Nun also, was werden wir mit diesem Menschen anfangen?« fügte er, zu Pierre gewendet, hinzu, den er schon wie einen guten Kameraden behandelte.
Die Miene und der Ton des französischen Offiziers besagten ungefähr: selbst wenn Pierre kein Franzose sein sollte, so könne er doch, nachdem er einmal diese Benennung, die höchste in der ganzen Welt, erhalten habe, sie nicht ablehnen. Auf die letzte Frage antwortend, setzte Pierre noch einmal auseinander, wer Makar Alexejewitsch sei, und erzählte, daß kurz vor ihrer Ankunft[572] dieser betrunkene, geistesschwache Mensch sich unversehens der geladenen Pistole bemächtigt habe, die man ihm so schnell noch nicht habe wieder wegnehmen können, und bat, von einer Strafe für seine Tat abzusehen.
Der Franzose drückte die Brust heraus und machte eine Handbewegung, deren sich kein Kaiser zu schämen gehabt hätte.
»Sie haben mir das Leben gerettet! Sie sind ein Franzose. Sie bitten mich um seine Begnadigung? Ich bewillige sie Ihnen. Man führe diesen Menschen fort!« sagte der französische Offizier schnell und energisch, faßte dann Pierre, den er zum Dank für die Rettung seines Lebens zum Franzosen befördert hatte, unter den Arm und ging mit ihm in die Wohnung.
Die Soldaten, die sich auf dem Hof befunden hatten, waren, als die den Schuß gehört hatten, in den Flur gekommen, um zu fragen, was geschehen sei, und um sich zwecks Bestrafung der Schuldigen zur Verfügung zu stellen; aber der Offizier wies sie in strengem Ton zurück.
»Wenn ich euch brauche, werde ich euch rufen«, sagte er.
Die Soldaten gingen wieder hinaus. Der Bursche, der unterdessen schon Zeit gefunden hatte, in der Küche einen Besuch zu machen, trat an den Offizier heran.
»Kapitän, sie haben hier Suppe und Hammelkeule in der Küche«, sagte er. »Soll ich es Ihnen bringen?«
»Ja, und auch Wein«, erwiderte der Kapitän.
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