V

[22] Nikolai saß mit einem vergnügten Lächeln, das nicht von seinem Gesicht wich, etwas zusammengekrümmt auf seinem Sessel, beugte sich nahe zu der schönen Blondine hin[22] und machte ihr Komplimente, die er aus der Mythologie entnahm.

Während er in forscher Manier die Lage seiner in eng anliegenden Reithosen steckenden Beine wechselte, einen Parfümduft verbreitete und wohlgefällig seine Dame und seine eigene Gestalt und namentlich die schönen Formen seiner Füße in den knappen Stiefeln betrachtete, sagte er zu der Blondine, er beabsichtige hier in Woronesch eine junge Frau zu entführen.

»Darf man fragen, wen?«

»Ein reizendes, göttliches Wesen. Die Augen« (Nikolai sah die Dame an, mit der er sprach) »himmelblau, ein Mündchen wie Korallen, ein schneeweißer Teint« (er blickte nach ihren Schultern), »die Gestalt einer Diana ...«

Der Gatte trat zu ihnen und fragte verstimmt seine Frau, worüber sie sprächen.

»Ah! Nikita Iwanowitsch!« sagte Nikolai und stand höflich auf.

Und wie wenn er wünschte, daß auch Nikita Iwanowitsch an seinen Späßen teilnehmen möchte, machte er auch ihm von seiner Absicht, eine Blondine zu entführen, Mitteilung.

Der Gatte lächelte grimmig, die Gattin vergnügt. Die gute Frau Gouverneur näherte sich ihnen mit mißbilligender Miene.

»Anna Ignatjewna möchte mit dir sprechen, Nikolai«, sagte sie und sprach dabei die Worte »Anna Ignatjewna« mit einem solchen Ton, daß Rostow sofort merkte, Anna Ignatjewna müsse eine sehr angesehene Dame sein. »Komm, Nikolai. Du gestattest doch, daß ich dich so nenne?«

»Aber natürlich, liebe Tante. Wer ist denn das?«

»Anna Ignatjewna Malwinzewa. Sie hat von ihrer Nichte gehört, daß du sie gerettet hast ... Rätst du es nun?«

»Ach, wie viele habe ich nicht schon da im Krieg gerettet!« erwiderte Nikolai.[23]

»Ihre Nichte ist die Prinzessin Bolkonskaja. Sie hält sich hier in Woronesch bei ihrer Tante auf. Oho, wie rot du geworden bist! Solltest du etwa ...?«

»Bewahre! Fällt mir nicht ein, liebe Tante.«

»Nun, schön, schön ... Oh, du bist der Richtige!«

Die Frau Gouverneur führte ihn zu einer großen, sehr korpulenten alten Dame mit einer blauen Toque, die soeben ihre Kartenpartie mit den höchstgestellten Persönlichkeiten der Stadt beendet hatte. Dies war Frau Malwinzewa, die Tante der Prinzessin Marja mütterlicherseits, eine reiche, kinderlose Witwe, die in Woronesch ihren ständigen Wohnsitz hatte. Sie stand und berechnete das Ergebnis des Spieles, als Rostow zu ihr trat. Mit ernster, würdevoller Miene kniff sie die Augen zusammen und sah ihn an, fuhr aber fort, den General auszuschelten, der ihr ihr Geld abgewonnen hatte.

»Ich freue mich sehr, mein Lieber«, sagte sie dann und streckte ihm die Hand hin. »Bitte, besuchen Sie mich in meinem Haus.«

Sie sprach noch einige Worte über Prinzessin Marja und deren verstorbenen Vater, den Frau Malwinzewa offenbar nicht hatte leiden können, erkundigte sich, was Nikolai von dem Fürsten Andrei wisse, der sich augenscheinlich gleichfalls nicht ihrer Gunst erfreute, und darauf entließ ihn die würdige Dame, indem sie ihn noch einmal zu einem Besuch einlud.

Nikolai sagte zu und errötete wieder, als er ihr seine Schlußverbeugung machte. Bei der Erwähnung der Prinzessin Marja hatte Rostow ein ihm selbst unverständliches Gefühl der Verlegenheit, ja der Angst empfunden.

Als er von Frau Malwinzewa zurückgetreten war, wollte er wieder zum Tanz zurückkehren; aber die kleine Frau Gouverneur legte ihr rundliches Händchen auf seinen Ärmel, sagte, sie müsse ein paar Worte mit ihm sprechen, und führte ihn in das[24] Sofazimmer, das die darin Anwesenden sofort verließen, um die Frau Gouverneur nicht zu stören.

»Weißt du, mein Lieber«, sagte die Frau Gouverneur mit einem ernsten Ausdruck in ihrem kleinen, gutmütigen Gesicht, »das wäre eine passende Partie für dich. Ist es dir recht, daß ich für dich werbe?«

»Wen meinen Sie denn, liebe Tante?« fragte Nikolai.

»Die Prinzessin Marja meine ich. Katerina Petrowna sagt allerdings, du solltest Lilli nehmen; aber das ist meines Erachtens nicht das Richtige. Die Prinzessin. Ist es dir recht? Ich bin überzeugt, deine Mama wird es mir Dank wissen. Wahrhaftig, was ist das für ein entzückendes Mädchen! Und sie ist gar nicht so häßlich.«

»Durchaus nicht«, erwiderte Nikolai, wie wenn er sich beleidigt fühlte. »Ich, liebe Tante, mache es, wie es sich für einen Soldaten schickt: lange bitten tue ich um nichts, und was ich kriegen kann, nehme ich«, sagte er, ehe er noch recht überlegt hatte, was er sprach.

»Also verstehe wohl: es ist kein Scherz.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht.«

»Ja, ja«, sagte die Frau Gouverneur vor sich hin. »Und noch eins, mein Lieber, unter uns. Du bist zu sehr um die andere herum, die Blonde. Ihr Mann ist schon ganz verdrießlich, kannst du glauben ...«

»Aber nein doch, ich bin ja mit ihm gut Freund«, erwiderte Nikolai in der Einfalt seines Herzens. Er konnte sich gar nicht denken, daß etwas, was für ihn selbst ein so vergnüglicher Zeitvertreib war, einem andern mißfallen könnte.

Beim Abendessen jedoch fiel ihm plötzlich ein: »Was habe ich aber da zu der Frau Gouverneur für eine Dummheit gesagt! Sie wird wirklich die Werbung ins Werk setzen, und Sonja ...?«[25] Und als er sich am Schluß bei der Frau Gouverneur empfahl und diese lächelnd noch einmal zu ihm sagte: »Also, vergiß es nicht!«, da führte er sie beiseite.

»Hören Sie ... um Ihnen die Wahrheit zu sagen, liebe Tante ...«

»Was gibt es denn, was gibt es denn, lieber Freund? Komm, wir wollen uns da hinsetzen.«

Nikolai empfand plötzlich den Wunsch und das Bedürfnis, alle seine intimsten Gedanken, Gedanken, die er weder seiner Mutter, noch seiner Schwester, noch einem Freund mitgeteilt haben würde, dieser ihm fast fremden Frau auszusprechen. Wenn Nikolai sich in späterer Zeit an diesen Anfall unmotivierter, unerklärlicher Offenherzigkeit erinnerte, so kam es ihm vor (wie einem das immer so vorkommt), als hätte ihn da nur so eine dumme Laune angewandelt, und doch hatte dieser Anfall von Offenherzigkeit, im Verein mit anderen, kleinen Ereignissen, für ihn und für seine ganze Familie die bedeutsamsten Folgen.

»Sehen Sie, liebe Tante, Mama hatte schon lange den Wunsch, ich möchte ein reiches Mädchen heiraten; aber mir widersteht schon dieser bloße Gedanke: eine Geldheirat.«

»Jawohl, das kann ich verstehen«, sagte die Frau Gouverneur.

»Aber freilich, die Prinzessin Bolkonskaja, das ist eine andere Sache. Erstens (ich will Ihnen die Wahrheit sagen) gefällt sie mir sehr; sie ist so recht nach meinem Herzen; und dann, nachdem ich ihr in solcher Lage, in so sonderbarer Weise begegnet war, da kam mir oft der Gedanke: das ist höhere Fügung. Bedenken Sie nur: Mama hatte schon längst gerade hieran gedacht; aber es hatte sich früher nie so getroffen, daß ich mit ihr zusammengekommen wäre; wie das ja oft so geht: wir trafen uns eben nicht. Und solange meine Schwester Natascha mit ihrem Bruder verlobt war, da konnte ich ja natürlich nicht daran denken,[26] sie zu heiraten. Und nun mußte ich ihr gerade zu der Zeit begegnen, wo Nataschas Verlobung gelöst war; ja, und seitdem habe ich immer ... Ja, also das ist es. Ich habe mit niemand davon gesprochen und werde es auch nie tun; Sie sind der einzige Mensch, dem ich es sage.«

Die Frau Gouverneur drückte ihm dankbar den Arm.

»Aber kennen Sie meine Kusine Sonja? Ich liebe sie; ich habe ihr versprochen, sie zu heiraten, und werde sie heiraten ... Also sehen Sie, daß von jener andern Sache nicht die Rede sein kann«, sagte Nikolai stockend und errötend.

»Mein Lieber, mein Lieber, was sind das für Gedanken! Sonja hat ja doch nichts, und du hast selbst gesagt, daß die Vermögensverhältnisse deines Vaters in üblem Zustand sind. Und deine Mama? Das würde ihr Tod sein. Das ist das eine; und zweitens Sonja selbst: wenn sie wirklich ein Mädchen ist, das ein gutes Herz hat, was würde denn das für sie für ein Leben sein? Die Mutter in Verzweiflung, die materielle Lage hoffnungslos ... Nein, mein Lieber, das müßt ihr beide einsehen, du und Sonja.«

Nikolai schwieg. Er hörte diese Gründe nicht ungern.

»Aber trotz alledem kann nichts daraus werden, liebe Tante«, sagte er nach kurzem Stillschweigen mit einem Seufzer. »Und ob auch die Prinzessin mich nehmen wird? Sie hat ja jetzt auch Trauer. Da ist wohl nicht daran zu denken!«

»Aber meinst du denn, daß ich deine Heirat für die allernächste Zeit in Aussicht genommen habe? Es muß alles seine Art haben«, sagte die Frau Gouverneur.

»Was sind Sie für eine eifrige Ehestifterin, liebe Tante«, sagte Nikolai und küßte ihr das rundliche Händchen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 22-27.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon