[71] In der Baracke, in die Pierre gebracht worden war und in der er dann vier Wochen verlebte, befanden sich als Gefangene drei Offiziere, dreiundzwanzig Gemeine und zwei Beamte.
Sie alle standen, wenn Pierre später an diese Zeit zurückdachte, ihm nur wie in einem Nebel vor Augen; Platon Karatajew jedoch blieb ihm für immer die lebhafteste und teuerste Erinnerung, eine Verkörperung alles Guten, harmonisch Abgestimmten und Tüchtigen, was im Wesen des russischen Volkes liegt. Als Pierre am andern Tag beim Morgengrauen seinen Nachbar[71] erblickte, fand er seinen ersten Eindruck der Tüchtigkeit und Harmonie voll bestätigt. Und zwar trug dazu in eigentümlicher Weise das Vorherrschen der rundlichen Formen in Platons äußerer Erscheinung bei: seine ganze Figur, in dem mit einem Strick umgürteten französischen Mantel, der Uniformmütze und den Bastschuhen, hatte etwas Rundliches. Sein Kopf war vollkommen rund, der Rücken, die Brust, die Schultern waren rundlich, sogar die Arme, die er immer so hielt, als ob er jeden Augenblick etwas umfassen wollte; auch sein angenehmes Lächeln und seine großen, braunen, zärtlich blickenden Augen waren rundlich.
Platon Karatajew mußte über fünfzig Jahre alt sein, nach seinen Erzählungen von den Feldzügen zu urteilen, die er vor langer Zeit als Soldat mitgemacht hatte. Er selbst wußte nicht, wie alt er war, und vermochte schlechterdings nicht, es genauer anzugeben. Aber seine leuchtend weißen, kräftigen Zähne, die sämtlich als zwei Halbkreise sichtbar wurden, sobald er lachte (was er oft tat), waren noch alle gut und heil; in seinem Bart und auf seinem Kopf fand sich noch kein einziges graues Haar, und sein ganzer Körper machte den Eindruck der Biegsamkeit und ganz besonders der Festigkeit und Ausdauer.
Sein Gesicht trug trotz der kleinen, rundlichen Runzeln das Gepräge der Harmlosigkeit und Jugendlichkeit; seine Stimme war angenehm und hatte etwas Singendes. Die Haupteigentümlichkeit seiner Redeweise aber bestand in einer frischen Natürlichkeit und in den gesunden Gedanken. Offenbar dachte er nie an das, was er gesagt hatte und noch sagen wollte, und daher lag in der Schnelligkeit und Treuherzigkeit, mit der er sprach, eine ganz besondere unwiderstehliche Überzeugungskraft.
Seine physischen Kräfte und seine Gelenkigkeit waren in der ersten Zeit seiner Gefangenschaft so erstaunlich, daß es schien, als wisse er gar nicht, was Müdigkeit und Krankheit seien. An[72] jedem Tag sagte er abends, wenn er sich hinlegte: »Gott, laß mich schlafen wie ein Stein und morgen frisch wie 'n Kuchen sein«; und wenn er morgens aufstand, so zog er immer in gleicher Weise mit den Schultern und sagte: »Legte mich ermüdet nieder, neugestärkt erwach ich wieder, reck und strecke meine Glieder.« Und in der Tat brauchte er sich abends nur hinzulegen, um sofort wie ein Stein zu schlafen, und morgens sich nur ein wenig zu recken, um sogleich, ohne eine Sekunde Zeitverlust, sich an irgendeine Arbeit machen zu können, wie Kinder sofort nach dem Aufstehen ihr Spielzeug zur Hand nehmen. Er verstand alles zu machen, zwar nicht sehr gut, aber auch nicht schlecht. Er buk, kochte, nähte, hobelte und flickte Stiefel. Er war immer beschäftigt, und nur am späten Abend gestattete er es sich, Gespräche zu führen, was er sehr liebte, und Lieder zu singen. Er sang seine Lieder nicht so, wie es Sänger tun, die wissen, daß man ihnen zuhört; sondern er sang, wie die Vögel singen, offenbar weil es ihm ebensosehr Bedürfnis war, diese Töne ausströmen zu lassen, wie man manchmal das Bedürfnis verspürt, sich zu recken oder umherzugehen. Und diese Töne waren stets von einer beinahe weiblichen Feinheit und Zartheit und hatten etwas Wehmütiges; und sein Gesicht nahm dabei immer einen sehr ernsten Ausdruck an.
Seitdem er in Gefangenschaft geraten war und sich wieder den Bart wachsen ließ, hatte er offenbar alles Fremde, Soldatische, das ihm angelernt worden war, wieder von sich geworfen und war unvermerkt zu seinem früheren ländlichen, bäuerlichen Wesen zurückgekehrt.
»Wenn der Soldat auf Urlaub nach Haus kommt, trägt er das Hemd wieder über den Hosen«, sagte er.
Von seiner Soldatenzeit sprach er nicht gern, obwohl er sich nicht beklagte und oft hervorhob, daß er in seiner ganzen Dienstzeit[73] kein einziges Mal körperlich bestraft worden sei. Wenn er erzählte, so trug er vorzugsweise seine alten und ihm augenscheinlich besonders teuren Erinnerungen aus seinem Bauernleben vor. Die sprichwörtlichen Redensarten, mit denen er seine Rede ausstaffierte, waren nicht jene größtenteils unanständigen, kecken Wendungen, deren sich die Soldaten gern bedienen, sondern es waren dies Aussprüche, wie sie im Volk umgehen, Aussprüche, die, außer allem Zusammenhang betrachtet, recht unbedeutend erscheinen, aber plötzlich den Wert einer tiefen Weisheit bekommen, wenn sie an der richtigen Stelle angeführt werden.
Nicht selten sagte er etwas, das dem, was er vorher gesagt hatte, völlig entgegengesetzt war, und doch war das eine sowohl wie das andere richtig. Er sprach gern und sprach gut und schmückte seine Rede mit Koseworten und Sinnsprüchen, die er, wie Pierre meinte, sich selbst ersann; aber der Hauptreiz seiner Erzählungen lag darin, daß bei seiner Darstellung die einfachsten Ereignisse, manchmal dieselben Ereignisse, die auch Pierre, ohne sie weiter zu beachten, mitangesehen hatte, den Charakter einer würdevollen Schönheit erhielten. Gern hörte er zu, wenn einer der Soldaten abends Märchen erzählte (es waren immer ein und dieselben); aber am liebsten hörte er Erzählungen aus dem wirklichen Leben. Wenn er solche Erzählungen anhörte, lächelte er fröhlich, schaltete Bemerkungen ein und stellte Fragen, mit denen er darauf abzielte, sich die Schönheit dessen, was erzählt wurde, recht klarzumachen. Neigungen, Freundschaft und Liebe in dem Sinne, wie Pierre diese Empfindungen auffaßte, kannte Karatajew gar nicht; aber er liebte alles, womit ihn das Leben zusammenführte, und benahm sich liebevoll gegen alles, besonders gegen die Menschen, nicht gegen irgendwelche bestimmten Menschen, sondern gegen diejenigen Menschen, die er gerade vor[74] sich hatte. Er liebte seinen Hund, er liebte seine Kameraden und die Franzosen, er liebte Pierre, der sein nächster Nachbar war; aber Pierre fühlte, daß Karatajew trotz all seiner freundlichen Zärtlichkeit gegen ihn (durch die er unwillkürlich dem höheren geistigen Leben Pierres den schuldigen Tribut abstattete) sich auch nicht einen Augenblick über die Trennung von ihm grämen würde. Und Pierre begann Karatajew gegenüber dasselbe Gefühl zu hegen.
Platon Karatajew war für alle übrigen Gefangenen ein ganz gewöhnlicher Soldat; sie nannten ihn »Falke« oder Platoscha, foppten ihn gutmütig und schickten ihn zu Besorgungen aus. Aber für Pierre blieb er allezeit das, als was er ihm am ersten Abend erschienen war: die ideale, harmonisch abgerundete, ewige Verkörperung des Geistes der Einfalt und Wahrheit.
Platon Karatajew wußte nichts auswendig als sein Gebet. Wenn er seine Reden führte, so schien er am Anfang derselben nicht zu wissen, was er am Schluß sagen werde.
Wenn Pierre manchmal, überrascht durch den Inhalt seiner Rede, ihn bat, das Gesagte zu wiederholen, so war Platon nicht imstande, sich an das zu erinnern, was er einen Augenblick vorher gesagt hatte, ebensowenig wie er es vermochte, Pierre aus seinem Lieblingslied einzelne Stellen zu rezitieren. In diesem Lied kam vor: »Heimat« und »Birkenwäldchen« und »mir ist weh«; aber wenn er nur solche Worte anführen sollte, so kam nichts Vernünftiges heraus. Er verstand die Bedeutung der Worte nicht, sobald sie aus dem Zusammenhang herausgerissen waren, und konnte sie auch nicht verstehen. Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen war das Produkt einer ihm unbekannten wirkenden Kraft, und diese Kraft war sein Leben. Sein Leben aber hatte (und das war seine eigene Anschauung) als Sonderleben keinen Sinn und Wert. Sinn und Wert hatte es nur als[75] Teil eines Ganzen, jenes Ganzen, das er beständig als solches fühlte. Seine Worte und Handlungen entströmten seinem innern Wesen ebenso gleichmäßig, notwendig und selbsttätig, wie der Duft sich von einer Blume loslöst. Er konnte weder den Wert noch die Bedeutung einer Handlung oder eines Wortes begreifen, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang herausnahm.
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