VII

[209] Als Petja seine Angehörigen und Moskau verlassen hatte, war er bei seinem Regiment eingetreten und bald darauf Ordonnanz bei einem General geworden, der eine größere Abteilung befehligte. Seit seiner Beförderung zum Offizier und namentlich seit seinem Eintritt in die aktive Armee, mit der er an der Schlacht bei Wjasma teilgenommen hatte, befand sich Petja fortwährend in einem Zustand glückseliger Erregung und[209] Freude darüber, daß er nun ein Erwachsener sei, und war stets mit enthusiastischem Eifer darauf bedacht, keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, wo er sich als wahrer Held zeigen könnte. Er war sehr glücklich über das, was er bei der Armee sah und erlebte, hatte aber trotzdem immer die Vorstellung, daß gerade dort, wo er nicht war, jetzt die wahren, großen Heldentaten verrichtet würden. Und so strebte er denn immer dorthin zu kommen, wo er augenblicklich nicht war.

Als am 21. Oktober sein General den Wunsch aussprach, jemanden zu Denisows Abteilung zu schicken, da bat Petja so inständig, ihn dazu zu verwenden, daß der General es ihm nicht abschlagen konnte. Aber der General erinnerte sich an Petjas sinnloses Verhalten in der Schlacht bei Wjasma, wo er, statt auf dem Weg dahin zu reiten, wohin man ihn geschickt hatte, zur Vorpostenkette in den Schußbereich der Franzosen gesprengt war und dort zweimal seine Pistole abgeschossen hatte; deshalb verbot ihm der General bei der Abfertigung ausdrücklich, sich an irgendwelchen Unternehmungen Denisows zu beteiligen. Aus diesem Grund war Petja rot und verlegen geworden, als Denisow ihn gefragt hatte, ob er dableiben dürfe. Bis sie aus dem Innern des Waldes an den Saum gelangten, war Petja noch der Ansicht gewesen, er müsse in strenger Erfüllung seiner Pflicht sofort zurückkehren. Aber als er die Franzosen erblickte und Tichon sah und vernahm, daß der Angriff in der Nacht bestimmt stattfinden werde, da ging er nach Art junger Leute schnell von einer Ansicht zur andern über und sagte sich nun, sein General, den er bis dahin sehr hochgeschätzt hatte, sei doch eigentlich ein unbedeutender Wicht, ein Deutscher, Denisow dagegen sei ein Held, und der Jesaul sei ein Held, und Tichon sei ein Held, und er müsse sich schämen, wenn er sie in einem so schweren Augenblick verließe.[210]

Die Abenddämmerung brach schon an, als Denisow, Petja und der Jesaul bei dem Wächterhäuschen ankamen. Im Halbdunkel sah man die gesattelten Pferde und die Kosaken und Husaren, die auf einer Lichtung Hütten aus Zweigen bauten, und ein rotleuchtendes Feuer, das sie, damit die Franzosen den Rauch nicht sähen, in einer Schlucht des Waldes angezündet hatten. Im Flur des kleinen Häuschens zerhieb ein Kosak mit aufgestreiften Ärmeln Hammelfleisch. In dem Häuschen selbst waren drei Offiziere von Denisows Freischar, die sich aus einer Tür einen Tisch herstellten. Petja zog sich die nassen Kleider aus, gab sie zum Trocknen und machte sich dann sogleich daran, den Offizieren bei der Errichtung des Eßtisches zu helfen.

In zehn Minuten war der Tisch fertig und mit einer Serviette gedeckt. Auf dem Tisch standen Schnaps, eine Flasche Rum, Weißbrot, gebratenes Hammelfleisch und Salz.

Als Petja mit den Offizieren am Tisch saß und mit den Fingern, an denen das Fett entlanglief, das appetitlich duftende, fette Hammelfleisch zerriß, befand er sich in einem kindlich schwärmerischen Zustand zärtlicher Liebe zu allen Menschen und war infolgedessen auch der Überzeugung, daß die andern Menschen ihn in gleicher Weise liebten.

»Also wie denken Sie darüber, Wasili Fedorowitsch?« wandte er sich an Denisow. »Es ist doch wohl nichts dabei, wenn ich einen Tag bei Ihnen bleibe?« Und ohne die Antwort abzuwarten, beantwortete er sich seine Frage selbst: »Es ist mir ja befohlen, mich zu erkundigen; nun, das tue ich ja doch auch ... Stellen Sie mich nur an den ... an den wichtigsten Platz ... Es liegt mir nichts an äußerer Anerkennung ... Aber ich möchte gern ...«

Petja preßte die Zähne aufeinander, blickte um sich, zuckte mit dem hochgereckten Kopf und schwenkte den einen Arm.

»An den wichtigsten Platz ...«, wiederholte Denisow lächelnd.[211]

»Oder, bitte, übergeben Sie mir das Kommando ganz; ich möchte gar zu gern kommandieren«, fuhr Petja fort. »Es kostet Sie ja nur ein Wort ... Ah, Sie möchten ein Messer?« wandte er sich an einen Offizier, der sich ein Stück Hammelbraten abschneiden wollte.

Und er reichte ihm sein Taschenmesser hin. Der Offizier lobte das Messer.

»Bitte, behalten Sie es doch. Ich habe noch eine ganze Menge davon ...«, sagte Petja errötend. »Mein Gott, das habe ich ja ganz vergessen ...«, rief er plötzlich. »Ich habe Rosinen, vorzügliche Rosinen, wissen Sie, solche ohne Kerne. Wir haben einen neuen Marketender, der sehr gute Ware führt. Ich habe zehn Pfund gekauft. Ich bin gewöhnt, etwas Süßes zu essen. Mögen Sie welche ...?« Und Petja lief auf den Flur zu seinem Kosaken und holte eine Tasche herein, in welcher etwa fünf Pfund Rosinen waren. »Essen Sie, meine Herren, essen Sie.«

»Können Sie nicht eine Kaffeemaschine gebrauchen?« wandte er sich an den Jesaul. »Ich habe bei unserm Marketender eine ganz ausgezeichnete gekauft! Er führt vorzügliche Sachen. Und er ist ein ehrlicher Mensch. Das ist die Hauptsache. Ich werde sie Ihnen zuschicken, unter allen Umständen. Und vielleicht sind Ihnen die Feuersteine ausgegangen, haben sich abgenutzt; das kommt ja nicht selten vor. Ich habe welche mitgenommen; ich habe hier« (er zeigte auf die Tasche), »hundert Stück bei mir. Ich habe sie sehr billig gekauft. Nehmen Sie doch, bitte, soviel Sie mögen, oder auch alle ...«

Aber plötzlich bekam er einen Schreck, ob er auch nicht gar zu viel schwatze, und hielt errötend inne.

Er suchte in seinem Gedächtnis nach, ob er auch wohl nicht noch irgendwelche anderen Dummheiten begangen habe. Und indem er die Erinnerungen des heutigen Tages durchmusterte, kam[212] ihm der Gedanke an den kleinen französischen Tambour in den Sinn. »Wir haben es hier so gut; aber wie mag es ihm gehen? Wo mögen sie ihn gelassen haben? Ob sie ihm wohl etwas zu essen gegeben haben? Und ob ihm auch niemand etwas zuleide getan hat?« dachte er. Aber da er sich bewußt war, über die Feuersteine zuviel geschwatzt zu haben, so scheute er sich jetzt, von dem Knaben zu reden.

»Ob ich wohl danach fragen darf?« dachte er. »Aber sie werden sagen: ›Er hat mit dem Knaben Mitleid, weil er selbst noch ein Knabe ist.‹ Aber morgen werde ich ihnen zeigen, was ich für ein Knabe bin! Muß ich mich schämen, wenn ich danach frage?« dachte Petja. »Na, ganz egal!« Und sofort sagte er, indem er errötete und die Offiziere ängstlich ansah, ob wohl auf ihren Gesichtern ein spöttischer Ausdruck erscheinen werde:

»Könnte vielleicht der Knabe hereingerufen werden, der heute gefangengenommen wurde? Und etwas zu essen bekommen ... vielleicht ...«

»Ja, der arme Junge«, erwiderte Denisow, der offenbar in dieser Anregung nichts fand, dessen Petja sich zu schämen hätte. »Wir wollen ihn hereinrufen. Vincent Bosse heißt er. Wir wollen ihn rufen.«

»Ich werde ihn rufen«, sagte Petja.

»Das tu, das tu. Der arme Junge«, sagte Denisow noch einmal.

Petja stand schon an der Tür, als Denisow das sagte. Aber er wand sich zwischen den Offizieren hindurch und trat dicht an Denisow heran.

»Erlauben Sie mir, Sie zu küssen, Sie Lieber, Guter«, sagte er. »Ach wie wunderschön! Wie wunderschön!«

Er küßte Denisow und lief auf den Hof.

»Bosse! Vincent!« rief Petja, an der Tür sehenbleibend.[213]

»Wen rufen Sie, gnädiger Herr?« fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.

Petja antwortete, er rufe den kleinen Franzosen, der heute gefangengenommen worden sei.

»Ah! Den Wessenni?« sagte der Kosak.

Seinen Namen Vincent hatten die Kosaken bereits in Wessenni umgewandelt, und die andern Soldaten und die Bauern in Wissenja. Bei beiden Umgestaltungen floß die Erinnerung an den Frühling1 mit der Vorstellung der Jugendlichkeit des Knaben zusammen.

»Er hat sich da ans Feuer gesetzt, um sich zu wärmen. He, Wessenni! Wissenja! Wissenja!« ertönten in der Dunkelheit Stimmen, die den Ruf weitergaben; Gelächter schloß sich daran an. »Das ist ein fixer kleiner Bursche«, sagte ein Husar, der neben Petja stand. »Wir haben ihm vorhin zu essen gegeben; er hatte einen gewaltigen Hunger!«

In der Dunkelheit wurden Schritte vernehmbar, und mit den nackten Füßen durch den Schmutz patschend, näherte sich der Tambour der Tür.

»Ah, da bist du ja!« sagte Petja auf französisch. »Willst du etwas essen? Habe keine Furcht; es wird dir nichts zuleide getan«, fügte er hinzu und berührte mit schüchterner Freundlichkeit den Arm des Knaben. »Komm herein, komm herein.«

»Danke, Monsieur«, antwortete der Tambour mit zitternder, beinahe kindlicher Stimme und wischte sich die schmutzigen Füße an der Schwelle ab.

Petja hätte dem kleinen Tambour gern noch vieles gesagt; aber er wagte es nicht. Verlegen und unschlüssig stand er neben ihm[214] auf dem Flur. Dann griff er in der Dunkelheit nach seiner Hand und drückte sie ihm.

»Tritt ein, tritt ein«, sagte er noch einmal zärtlich flüsternd.

»Ach, was könnte ich wohl noch für ihn tun?« sagte Petja bei sich, öffnete die Tür und ließ den Knaben an sich vorbei hineingehen.

Als der Tambour in die Stube getreten war, nahm Petja in einiger Entfernung von ihm Platz, da er seiner Würde etwas zu vergeben glaubte, wenn er ihm seine Aufmerksamkeit zuwendete. Er tastete nur in der Tasche nach seinem Geld und war im Zweifel, ob er sich schämen müßte, wenn er es dem Tambour gäbe.

Fußnoten

1 Russisch wesna.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 209-215.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon