XI

[311] Am 29. November zog Kutusow in Wilna ein, in sein gutes Wilna, wie er es nannte. Zweimal in seiner dienstlichen Laufbahn war er in Wilna Gouverneur gewesen. In dem reichen, unversehrt gebliebenen Wilna fand Kutusow, abgesehen von manchem Komfort, der er schon so lange hatte entbehren müssen, alte Freunde und Erinnerungen. Und sofort warf er alle Sorgen um Krieg und Politik von sich und überließ sich dem gewohnten, gleichmäßigen Leben, soweit die um ihn herum brodelnden Leidenschaften ihm dazu die Ruhe ließen, als ob alles, was jetzt in der Weltgeschichte geschehen war und demnächst geschehen sollte, ihn gar nicht berührte.

Tschitschagow, der so leidenschaftlich wie kaum ein anderer die Forderung erhob, man müsse den Feind abschneiden und zurückwerfen, Tschitschagow, der ursprünglich eine Diversion nach Griechenland, dann eine solche nach Warschau hatte machen wollen, aber schlechterdings nie Lust hatte dahin zu gehen, wohin zu gehen ihm befohlen wurde, Tschitschagow, der durch die Kühnheit seiner Ausdrucksweise dem Kaiser gegenüber bekannt war, Tschitschagow, der Kutusow dadurch eine Wohltat erwiesen zu haben glaubte, daß er im Jahre 1811, als er abgeschickt war, um ohne Kutusows Vorwissen mit der Türkei Frieden zu schließen, und sich von dem bereits erfolgten Abschluß des Friedens überzeugt hatte, dem Kaiser gegenüber anerkannte, das Verdienst des Friedensschlusses gehöre Kutusow, derselbe Tschitschagow war[311] der erste, der Kutusow in Wilna am Schloß, wo dieser Wohnung nehmen wollte, begrüßte. Tschitschagow, der die Marineinterimsuniform mit dem kurzen Seitengewehr trug und die Mütze unter dem Arm hielt, überreichte Kutusow den Frontrapport und die Stadtschlüssel. Das geringschätzig-respektvolle Verhalten der jüngeren Leute dem kindisch gewordenen Alten gegenüber brachte auch Tschitschagow, der von den gegen Kutusow erhobenen Beschuldigungen bereits Kenntnis erlangt hatte, durch sein ganzes Benehmen im höchsten Grade zum Ausdruck.

Im Gespräch mit Tschitschagow sagte Kutusow zu ihm unter anderm, die ihm bei Borisow vom Feind weggenommenen Equipagen nebst dem Tafelgeschirr seien unversehrt und würden ihm wieder zugestellt werden.

»Sie wollen mir wohl damit sagen, daß ich keine Teller hätte. Ich bin im Gegenteil in der Lage, Ihnen hinreichend Geschirr zur Verfügung zu stellen, selbst wenn Sie große Diners geben wollen«, sagte Tschitschagow auffahrend; da er selbst es stets bei jedem Wort darauf anlegte, seine Überlegenheit zu zeigen, so setzte er bei Kutusow dasselbe voraus.

Kutusow lächelte in seiner feinen, scharfen Art und erwiderte achselzuckend: »Ich meine nur das, was ich sage.«

In Wilna ließ Kutusow dem Willen des Kaisers zuwider den größten Teil der Truppen haltmachen. Wie die Herren aus seiner nächsten Umgebung sagten, führte er während seines Aufenthalts in Wilna ein recht ausschweifendes Leben, so daß seine Körperkräfte sehr abnahmen. Nur ungern befaßte er sich mit den Angelegenheiten des Heeres, überließ alles seinen Generalen und widmete sich, während er den Kaiser erwartete, allerlei Vergnügungen und Zerstreuungen.

Der Kaiser, der mit seiner Suite (dem Grafen Tolstoi, dem Fürsten Wolkonski, Araktschejew und anderen) am 7. Dezember[312] von Petersburg abgereist war, langte am 11. Dezember in Wilna an und fuhr in seinem Reiseschlitten direkt nach dem Schloß. Vor dem Schloß standen trotz der starken Kälte etwa hundert Generale und Stabsoffiziere in voller Paradeuniform und eine Ehrenwache des Semjonower Regiments.

Ein Kurier, der mit einem schweißbedeckten Dreigespann dem Kaiser zum Schloß vorausgejagt war, rief: »Er kommt!« Konownizyn stürzte in den Flur, um es Kutusow zu melden, der in der kleinen Portiersloge wartete.

Einen Augenblick darauf trat die dicke, große Gestalt des Alten, in voller Paradeuniform, die Brust mit all seinen Orden bedeckt, den Bauch mit der Schärpe umspannt, in wiegendem Gang auf die Freitreppe heraus. Kutusow setzte seinen Feldmarschallhut auf, nahm die Handschuhe in die Hand, stieg seitwärts mit Mühe die Stufen hinab und ließ sich unten den zur Überreichung an den Kaiser fertiggestellten Rapport geben.

Ein Rennen, ein Flüstern, noch ein in höchster Eile vorbeifliegendes Dreigespann – und alle Augen richteten sich auf den heranjagenden Schlitten, in welchem man schon die Gestalten des Kaisers und Wolkonskis erkennen konnte.

Alles dies versetzte einer fünfzigjährigen Gewöhnung zufolge den alten General physisch in starke Erregung; besorgt und eilig tastete er an sich herum und rückte seinen Hut zurecht, und in dem Augenblick, als der Kaiser, aus dem Schlitten steigend, die Augen zu ihm aufhob, nahm er eine gerade, straffe Haltung an, überreichte den Rapport und begann in gemessenem, einschmeichelndem Ton zu reden.

Der Kaiser sah Kutusow mit einem schnellen Blick vom Kopf bis zu den Füßen an, machte einen Augenblick lang ein finsteres Gesicht, überwand sich aber sofort, trat auf ihn zu, breitete die Arme aus und umarmte den alten General. Sowohl weil Kutusow[313] von jeher bei solchen Anlässen gerührt zu werden pflegte, als auch weil er diesmal seine stillen Gedanken dabei hatte, wirkte diese Umarmung auf ihn wie gewöhnlich: er fing an zu schluchzen.

Der Kaiser begrüßte die Offiziere und die Semjonower Ehrenwache und ging, nachdem er dem alten Mann noch einmal die Hand gedrückt hatte, mit ihm ins Schloß hinein.

Als er mit dem Feldmarschall unter vier Augen war, sprach ihm der Kaiser seine Unzufriedenheit mit der Langsamkeit der Verfolgung und mit den bei Krasnoje und an der Beresina von ihm begangenen Fehlern aus und teilte ihm seine Ideen über den bevorstehenden Feldzug im Ausland mit. Kutusow machte weder Einwendungen noch Bemerkungen. Sein Gesicht zeigte dieselbe gedankenlos gehorsame Miene, mit der er sieben Jahre vorher die Befehle des Kaisers auf dem Schlachtfeld von Austerlitz angehört hatte.

Als Kutusow aus dem Zimmer des Kaisers heraustrat und mit seinem schwerfälligen, gleitenden Gang, den Kopf tief gesenkt, durch den Saal ging, veranlaßte ihn eine Stimme stehenzubleiben.

»Euer Durchlaucht«, sagte jemand.

Kutusow hob den Kopf in die Höhe und sah lange dem Grafen Tolstoi in die Augen, der mit einem kleinen Gegenstand auf einer silbernen Schale vor ihm stand. Kutusow schien nicht zu verstehen, was man von ihm wollte.

Auf einmal war es, als ob er zu sich käme; ein ganz leises Lächeln huschte über sein aufgedunsenes Gesicht, und mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung nahm er den Gegenstand, der auf der Schale lag. Es war das Georgskreuz erster Klasse.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 311-314.
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