XV

[329] Wie es schwer zu erklären ist, warum und wozu die Ameisen nach Zerstörung ihres Haufens umherrennen, die einen von dem Haufen weg, Körnchen, Eier und Leichname mit sich schleppend, die andern nach dem Haufen zurück, warum sie sich[329] stoßen, einander überholen, sich miteinander schlagen: ebenso schwer würde es sein, die Ursachen zu erklären, durch welche die Russen nach dem Abzug der Franzosen veranlaßt wurden, sich an jener Stelle wieder umherzudrängen, die vorher Moskau genannt worden war. Aber wie man bei Betrachtung der um einen zerstörten Haufen wimmelnden Ameisen trotz der vollständigen Vernichtung des Haufens dennoch aus der zähen Ausdauer, der Energie und der zahllosen Menge der sich eifrig tummelnden Insekten deutlich ersehen kann, daß bei aller sonstigen Zerstörung doch etwas Unzerstörbares, Immaterielles erhalten geblieben ist, worauf gerade die eigentliche Kraft des Ameisenhaufens beruht: so war auch Moskau im Oktober, trotzdem es dort keine Behörden, keine Kirchen, keine Reichtümer, keine Häuser mehr gab, immer noch dasselbe Moskau, das es im August gewesen war. Alles war zerstört außer jenem immateriellen, aber mächtigen und unzerstörbaren Bestandteil seines Wesens.

Die Beweggründe, durch die nach der Räumung Moskaus seitens des Feindes die Leute veranlaßt wurden, von allen Seiten dorthin zu strömen, waren sehr mannigfaltige persönliche und in der ersten Zeit großenteils solche von niederer, animalischer Art. Nur ein Beweggrund war allen gemeinsam: das Streben nach dem Ort, der früher Moskau geheißen hatte, um dort dies oder das zu tun.

Nach einer Woche waren in Moskau bereits fünfzehntausend Einwohner, nach zwei Wochen fünfundzwanzigtausend usw. Immer wachsend und wachsend erreichte diese Zahl im Herbst 1813 eine Höhe, welche noch über die Bevölkerungsziffer des Jahres 1812 hinausging.

Die ersten Russen, die wieder nach Moskau kamen, waren Kosaken des Wintzingerodeschen Korps, Bauern aus den Nachbardörfern[330] und Einwohner, die aus Moskau geflüchtet waren und sich in der Umgegend verborgen gehalten hatten. Die Russen, die nach dem zerstörten Moskau kamen, fanden die Stadt geplündert und begannen nun gleichfalls zu plündern. Sie setzten fort, was die Franzosen getan hatten. Die Bauern kamen mit langen Reihen von Wagen nach Moskau, um alles nach ihren Dörfern hinauszuschaffen, was in Moskau auf den Straßen und in den zerstörten Häusern umherlag. Die Kosaken nahmen, was sie nur konnten, nach ihren Lagern mit; die Hausbesitzer suchten alles zusammen, was sie in andern Häusern fanden, und brachten es in ihre eigenen, unter dem Vorwand, es sei ihr Eigentum.

Aber nach den ersten Plünderern kamen andere und wieder andere, und das Plündern wurde mit jedem Tag, je mehr die Zahl der Plünderer zunahm, schwieriger und nahm festere Formen an.

Die Franzosen hatten Moskau zwar fast ohne Bewohner vorgefunden, aber doch ausgestattet mit dem gesamten Apparat einer Stadt, deren Organismus ordnungsmäßig funktioniert, mit den mannigfaltigen Einrichtungen des Handels, des Handwerks, des Luxus, der staatlichen Verwaltung, der Religion. Dieser Apparat war beim Einzug der Franzosen ohne Leben; aber er existierte noch. Da waren Budenreihen, Kaufläden, Magazine, Speicher, Basare, größtenteils mit Waren gefüllt; da waren Fabriken und Werkstätten; da waren Paläste und reiche Häuser, angefüllt mit Gegenständen des Luxus; da waren Krankenhäuser, Gefängnisse, Amtslokale, große und kleine Kirchen. Je länger die Franzosen blieben, um so mehr verschwand dieser Apparat des städtischen Lebens, und gegen das Ende ihres dortigen Aufenthalts war alles eine ununterbrochene, gleichmäßige, leblose Stätte der Plünderung geworden.

Die Plünderung durch die Franzosen verminderte, je länger[331] sie dauerte, in um so höherem Grade die Reichtümer Moskaus und die Kräfte der Plünderer. Die Plünderung durch die Russen, mit welcher die Wiederbesetzung der Hauptstadt durch die Russen begann, stellte, je länger sie dauerte und je mehr Menschen sich daran beteiligten, um so schneller den Reichtum Moskaus und das regelmäßige Leben der Stadt wieder her.

Außer den Plünderern strömten von allen Seiten, wie das Blut zum Herzen, nach Moskau Menschen von mannigfaltigster Art, herbeigezogen teils durch Neugier, teils durch die Dienstpflicht, teils durch ihren Vorteil: Hausbesitzer, Geistliche, hohe und niedere Beamte, Handelsleute, Handwerker, Bauern.

Nach einer Woche wurden die Bauern, die mit leeren Wagen angefahren kamen, um Sachen fortzuschaffen, bereits von der Behörde angehalten und genötigt, Leichen aus der Stadt hinauszuschaffen. Andere Bauern, die von dem Mißgeschick ihrer Genossen gehört hatten, kamen in die Stadt mit Getreide, Hafer und Heu und unterboten einander mit dem geforderten Preis so, daß er niedriger war als vorher. Täglich kamen neue Genossenschaften von Zimmerleuten in der Hoffnung auf guten Verdienst nach Moskau, und überall wurden neue Häuser gebaut und alte, durch das Feuer beschädigte repariert. Die Kaufleute eröffneten wieder ihren Handel in den Buden. Garküchen und Herbergen wurden in nur angebrannten Häusern eingerichtet. Die Geistlichkeit nahm den Gottesdienst in vielen vom Feuer verschonten Kirchen wieder auf. Opferwillige brachten Ersatzstücke für die geraubten Kirchengegenstände. Die Beamten in ihren kleinen Bureaus bedeckten ihre Tische mit Tuch und füllten ihre Schränke mit Akten. Die höchste Behörde und die Polizei trafen Anordnungen darüber, wie mit der von den Franzosen zurückgelassenen Habe zu verfahren sei. Die Besitzer derjenigen Häuser, in denen sich viele von den Franzosen aus anderen Häusern[332] zusammengetragene und dann dort zurückgelassene Sachen befanden, klagten, es sei eine Ungerechtigkeit, alle diese Sachen nach dem Facettenpalast im Kreml zu schaffen; andere wieder erklärten, da die Franzosen aus verschiedenen Häusern Sachen an einen Ort zusammengebracht hätten, so sei es ungerecht, nun dem Hauswirt alle die Sachen zuzusprechen, die in seinem Haus gefunden seien. Man schimpfte auf die Polizei; man bestach sie; man stellte für verbrannte fiskalische Gegenstände Kostenanschläge zum zehnfachen Wert auf; man forderte Unterstützungen. Graf Rastoptschin schrieb seine Proklamationen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 329-333.
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