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[144] Vor Wronskis Abreise zu den Wahlen hatte Anna überlegt, daß die Auftritte, die sich jedesmal, wenn er irgendwohin reiste, zwischen ihnen wiederholten, nur dazu dienen konnten, ihn ihr zu entfremden, nicht aber, ihn an sie zu fesseln, und sie hatte sich deshalb vorgenommen, sich mit aller Gewalt zu beherrschen, um den Abschied von ihm mit Ruhe zu ertragen. Aber der kalte, strenge Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als er gekommen war, um ihr von seiner bevorstehenden Abreise Mitteilung zu machen, hatte sie schmerzlich gekränkt, und er war noch nicht abgefahren, als auch schon ihre Ruhe dahin war.

In der Einsamkeit sann sie dann immer wieder über diesen Blick nach, in dem Wronskis Rechtsanspruch auf Freiheit zum[144] Ausdruck gekommen war, und gelangte, wie stets, zu dem gleichen Ergebnis: zu dem Bewußtsein ihrer Erniedrigung. ›Er hat das Recht wegzufahren, wann und wohin er will. Und nicht nur wegzufahren, sondern auch mich ganz zu verlassen. Er hat alle Rechte, und ich habe gar keine. Aber eben, weil er das weiß, sollte er nicht so handeln ... Indessen, was hat er denn eigentlich getan? Er hat mich mit kalter, strenger Miene angeblickt. Selbstverständlich ist das nichts Bestimmbares, nichts Greifbares; aber früher kam das nicht vor, und dieser Blick ist ein bedeutungsvolles Zeichen‹, sagte sie zu sich. ›Dieser Blick zeigt, daß seine Liebe zu erkalten beginnt.‹

Und obgleich sie überzeugt war, daß seine Liebe zu erkalten begann, so sah sie sich doch außerstande, etwas dagegen zu tun und ihr Verhältnis zu ihm in irgendeinem Punkte zu ändern. Ganz wie bisher konnte sie ihn nur durch ihre persönliche Anziehungskraft und dadurch, daß er sie liebte, festhalten. Und ganz wie bisher konnte sie nur durch stete Beschäftigung am Tage und durch Morphium zur Nacht die entsetzlichen Gedanken an das betäuben, was dann werden sollte, wenn er aufhörte, sie zu lieben. Allerdings gab es noch ein Mittel, ein Mittel, nicht ihn festzuhalten – festhalten sollte ihn, das war ihr entschiedener Wunsch, nichts anderes als seine Liebe – aber doch ihm nahe zu bleiben und zu ihm in einem solchen Verhältnis zu stehen, daß er sich nicht von ihr lossagen konnte. Dieses Mittel war die Scheidung und die Eingehung einer neuen Ehe. So begann sie denn dies zu wünschen und nahm sich vor, sobald nur Wronski oder Stiwa mit ihr davon zu reden anfangen würde, sich sofort damit einverstanden zu erklären.

Unter solchen Gedanken verbrachte sie, von ihm getrennt, fünf Tage, eben die fünf Tage, auf die er ursprünglich die Dauer seiner Abwesenheit berechnet hatte.

Spaziergänge, Gespräche mit der Prinzessin Warwara, Besuche des Krankenhauses und namentlich Lesen, Lesen eines Buches nach dem andern, füllten ihre Zeit aus. Als aber am sechsten Tage der Kutscher ohne ihn zurückkam, da fühlte sie, daß sie den Gedanken an ihn und an das, was er dort wohl tue, durch nichts mehr zu übertäuben vermochte. Gerade um diese Zeit war ihr Töchterchen krank geworden. Anna übernahm die Pflege des Kindes; doch auch dies brachte ihr keine Ablenkung ihrer Gedanken, um so weniger, da die Krankheit nicht gefährlich war. Wie sehr sie sich auch Mühe gab, sie konnte dieses Kind nicht lieben, und Liebe zu heucheln vermochte sie gleichfalls nicht. Am Abend dieses Tages empfand Anna, als sie allein geblieben war, eine solche Angst um ihn, daß sie nahe daran[145] war, nach der Stadt zu fahren; indessen sammelte sie ihre Gedanken doch noch so weit, daß sie davon Abstand nahm; sie schrieb dann jenen widerspruchsvollen Brief, den Wronski bei dem Festessen empfing, und schickte ihn, ohne ihn noch einmal durchgelesen zu haben, durch einen besonderen Boten ab. Am anderen Morgen erhielt sie Wronskis Brief und bereute nun die Absendung des ihrigen. Mit Schrecken erwartete sie eine Wiederholung jenes strengen Blickes, mit dem er sie vor seiner Abreise angesehen hatte, namentlich sobald er erfahren werde, daß die Kleine gar nicht gefährlich krank sei. Aber trotzdem freute sie sich auch wieder, an ihn geschrieben zu haben. Jetzt zweifelte Anna zwar gar nicht mehr daran, daß er sie als Hemmschuh empfinde und nur mit Bedauern auf seine Freiheit verzichte, um zu ihr zurückzukehren; aber trotzdem freute sie sich, daß er nun kommen werde. Mochte er sie immerhin als Hemmschuh empfinden; aber er würde doch jedenfalls hier bei ihr sein, und sie würde ihn sehen und um jede seiner Bewegungen wissen.

Sie saß im Wohnzimmer unter der Lampe, las in einem neuen Buche von Taine, horchte auf die Töne des Windes draußen und erwartete jeden Augenblick die Ankunft des Wagens. Mehrmals hatte sie geglaubt, das Geräusch der Räder zu hören; aber immer hatte sie sich geirrt. Endlich hörte sie nicht nur das Geräusch der Räder, sondern auch den Ruf des Kutschers und das dumpfe Rollen in der überdachten Anfahrt. Selbst die Prinzessin Warwara, die sich Patience legte, bestätigte diese Wahrnehmung. Anna wurde dunkelrot und stand auf; aber statt hinunterzugehen, wie sie es vorher zweimal vergeblich getan hatte, blieb sie stehen. Sie schämte sich plötzlich des Betruges, den sie begangen hatte; ganz besonders aber war ihr bange, wie Wronski ihr entgegentreten werde. Das Gefühl der Kränkung war schon ganz verflogen; nur Furcht empfand sie jetzt, Furcht vor sei nem Unwillen. Sie bedachte, daß die Kleine nun schon eine ganze Weile wieder gesund war; es war ihr sogar unangenehm, daß Annys Befinden sich gerade um die Zeit, wo sie den Brief abgeschickt hatte, wieder gebessert hatte. Dann aber dachte sie daran, daß er nun da sei, der ganze Mensch, mit seinen Händen, mit seinen Augen. Sie hörte seine Stimme. Und alles vergessend, lief sie ihm freudig entgegen.

»Nun, was macht Anny?« fragte er zaghaft von unten, als er sah, daß Anna zu ihm heruntergelaufen kam.

Er saß auf einem Stuhl, und ein Diener zog ihm die gefütterten Stiefel aus.

»Es geht zur Zufriedenheit; sie befindet sich besser.«

»Und du?« fragte er, indem er sich den Schnee abschüttelte.[146]

Sie ergriff mit beiden Händen seinen Arm und zog ihn um ihre Hüfte herum, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

»Nun, das freut mich sehr«, sagte er und ließ einen kalten Blick über sie, über ihre Frisur und über ihr Kleid gleiten, das sie, wie er wußte, seinetwillen angelegt hatte.

Alles dies gefiel ihm; aber wie oft hatte es ihm schon gefallen! Und jener strenge, steinerne Ausdruck, den sie so sehr fürchtete, dauerte auf seinem Gesichte an.

»Nun, das freut mich sehr. Also du bist gesund?« sagte er, und nachdem er sich mit dem Taschentuche den feuchten Bart abgetrocknet hatte, küßte er ihr die Hand.

›Ganz gleich‹, dachte sie. ›Die Hauptsache ist, daß er hier ist, und wenn er hier ist, so soll und wird er mich lieben.‹

Der Abend verging heiter und fröhlich in Gesellschaft der Prinzessin Warwara, die bei Wronski über Anna Klage führte, weil sie, während er weg war, Morphium genommen habe.

»Was sollte ich machen? Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken hinderten mich daran. Wenn er hier ist, nehme ich nie welches. Fast nie.«

Er erzählte von den Wahlen, und Anna verstand es, ihn durch Fragen zu dem Gegenstand hinzuleiten, von dem er mit Vergnügen sprach: von dem Erfolg, den er gehabt hatte. Sie ihrerseits erzählte ihm alles, was ihn von den häuslichen Erlebnissen interessieren konnte. Und alle ihre Nachrichten waren erfreulich.

Aber als sie spät am Abend allein waren und Anna sah, daß sie ihn wieder vollständig unter ihrer Herrschaft hatte, wollte sie die unangenehme Erinnerung an den Blick verwischen, mit dem er sie wegen ihres Briefes angesehen hatte. Sie sagte:

»Gestehe nur, du hast dich geärgert, als du meinen Brief bekamst, und hast mir nicht geglaubt?«

Sobald sie das ausgesprochen hatte, merkte sie auch schon, daß, mochte er im Augenblick auch noch so verliebt in sie sein, er ihr dies nicht verziehen habe.

»Der Brief war allerdings recht sonderbar«, erwiderte er. »Zuerst schriebst du, Anny sei krank, und dann, daß du selbst hinkommen wolltest.«

»Es war alles die Wahrheit.«

»Daran zweifle ich auch nicht.«

»Doch, du zweifelst daran. Du bist mit mir unzufrieden; das sehe ich dir an.«

»Ich zweifle nicht einen Augenblick. Unzufrieden bin ich wohl, das ist richtig, aber nur deswegen, weil du, wie es scheint, nicht anerkennen willst, daß es Pflichten gibt ...«

»Die Pflicht, in ein Konzert zu gehen ...«[147]

»Wir wollen nicht weiter davon reden«, sagte er.

»Warum sollten wir denn nicht davon reden?« versetzte sie.

»Ich will nur sagen, daß doch auch Angelegenheiten vorkommen können, denen man sich durchaus nicht entziehen kann. So werde ich jetzt wegen des Hauses nach Moskau fahren müssen ... Ach, Anna, warum bist du nur so reizbar? Weißt du denn nicht, daß ich ohne dich nicht leben kann?«

»Wenn du gleich wieder weg willst«, sagte Anna in plötzlich verändertem Tone, »so sehe ich daraus, daß dir das Leben mit mir lästig ist ... Du kommst auf einen Tag und fährst wieder fort; so machen das ...«

»Anna, es ist grausam von dir, so zu reden. Ich bin bereit, mein ganzes Leben hinzugeben ...«

Aber sie hörte gar nicht auf ihn.

»Wenn du nach Moskau fährst, fahre ich auch hin. Ich bleibe hier nicht allein. Entweder müssen wir uns ganz trennen oder dauernd zusammen leben.«

»Du weißt ja doch, daß dies mein einziger Wunsch ist. Aber um das zu ermöglichen ...«

»Ist die Scheidung nötig? Ich will an ihn schreiben. Ich sehe, daß ich so nicht weiterleben kann ... Aber nach Moskau fahre ich mit dir doch.«

»Du sprichst das wie eine Drohung. Und doch wünsche ich nichts so sehnlich, als mich nie mehr von dir zu trennen«, erwiderte Wronski lächelnd.

Aber nicht mehr nur ein kalter Blick lag in seinen Augen, sondern es blitzte darin der böse Blick eines aufs höchste gereizten und erbitterten Menschen auf, während er diese zärtlichen Worte sprach.

Sie sah diesen Blick und verstand seine Bedeutung richtig.

›Wenn es so steht, dann ist es ein Unglück!‹ sagte dieser Blick von ihm. Und obgleich dieser Eindruck nur einen Augenblick gedauert hatte, vergaß sie ihn in der Folgezeit nie wieder.

Anna schrieb an ihren Mann und bat ihn um die Scheidung. Gegen Ende November siedelten Wronski und Anna, nachdem die Prinzessin Warwara, die nach Petersburg reisen mußte, sich von ihnen getrennt hatte, nach Moskau über. Da sie jeden Tag Alexei Alexandrowitschs Antwort und im Anschluß an diese die Scheidung erwarteten, so wohnten sie jetzt wie Eheleute zusammen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 144-148.
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