Rausch, Suff und Katzenjammer

[392] Eine Woge von Betrunkenheit raste vor sechs Jahren über dieses Land, durch die Bürostuben, die Kasernenhöfe, die Rinnsteine, durch öffentliche Häuser, Börsensäle, Schulklassen und Redaktionszimmer. Niemand mag heute daran zurückdenken. Wenn man am 1. August dieses Jahres die bürgerliche Presse las, so fühlte man sich genötigt (mit einer einzigen Ausnahme: der ›Berliner Volkszeitung‹), den Herren Redakteuren je ein Eisenkreuzchen aus Blech zum Andenken an die große Zeit zu schenken. Sie haben sie alle vergessen. Man muß aber an sie zurückdenken.

Zehn Tage vor Eröffnung der großen Zeit, so um den 20. Juli herum, ahnte noch kein Mensch, daß Deutschland vom lieben Gott ausersehen sei, den Völkern der Erde ein leuchtendes Beispiel zu werden für und für, Amen. Die Bürger lagen im Seesand am Meer oder krabbelten auf den Bergen umher, der Arbeiter schuftete oder begoß seine Laubenkolonie, die Börse machte in gewohnter Ruhe ihre Geschäfte – alles war still. Und nur eine ganz kleine Schar von Menschen in Europa wußte, daß dieser ganze Kontinent eine Minute vor dem Untergang stand, und daß zwei Zeiten anbrechen würden: eine kleine für die Proletarier und eine große für die Verdiener.

Der seit langem geschürte Militärwahnsinn des Keimschen Flottenvereins und der zahllosen militärischen Gruppen und Grüppchen, die sich bis in die Schulen hinein erstreckten, trug seine Früchte: der Mob[392] stand auf, der Sturm brach los, der Wilhelm winkte und alle, alle kamen. Kamen, um zu verdienen, um befördert zu werden, um eine Rolle zu spielen . . . und kamen aber auch, im Suff ihres Patriotismus, während der allerersten Wochen – das muß gesagt werden –: um zu sterben.

Was der General Ilse, ›der Kindermörder von Ypern‹, bei Langemarck in den Tod jagte, waren gutgläubige, frische deutsche Jungen, die, fanatisiert, nicht wußten, für welch eine schlechte Sache sie rufend und singend in den Tod gingen. Der Sohn Heinrich Brauns, Otto Braun, ist so ein Beispiel davon. Der Rest war fürchterlich.

Ich kannte aus dem Frieden den Sohn eines Generals von Werder, der so dumm war, daß ihm auf Betreiben des Vaters das Einjährige ohne Prüfung geschenkt wurde. Ich sehe den Jungen noch wie heute in einem Auto den Kurfürstendamm herunterfahren: in voller Kriegsbemalung, auf ein großes Schlachtschwert gestützt, strahlend, eitel und in der ganzen Gloriole seiner königlich preußischen Dämlichkeit. Er war ein Sinnbild seiner Epoche.

Denn was so unbeschreiblich an diesen ersten Wochen war, erkannten damals nur wenige und weil heute die Zeit des Rausches fast vergessen ist, wissens auch heute nicht allzuviele: das Schlimme in Deutschland war das völlige Fehlen jeder Ethik. Für alles, aber auch für alles, auch noch für die letzten Schweinereien war der Rock des Kaisers und das Wort ›dienstlich‹ eine Deckung. Mißbrauch von Gefangenen zu Kriegsarbeiten in der Feuerzone, Unterschlagung, Verführung von Mädchen, Mord an Zivilisten, die man zu diesem Behufe Franktireurs getauft hatte, ekelhafteste Schlächterei der Verwundeten – dies alles und noch viel mehr vollzog sich unter dem fast einmütigen Gesang von ›Deutschland, Deutschland über alles‹, und unter den brausenden Akkorden des Liedes versanken Europa, Menschlichkeit, Charakter und Christentum.

Der große und zum Glück erfolglose Bittgottesdienst, den Wilhelm, kniend inmitten seiner Truppen, auf dem Schloßplatz zelebrierte, war für ihn durchaus keine Komödie. Er glaubte daran, wie er an die Pickelhaube und damit an sich selbst glaubte. Es gab eine Kommißfrömmigkeit, von der vor allem die Pfaffen befallen wurden, und obgleich nach unserem guten alten Dogma Religion Privatsache ist, muß doch gesagt werden, daß es kaum etwas Widerwärtigeres gab, als die maßlose Dummheit (zur Verlogenheit langte es kaum), mit der die Priester aller drei Konfessionen ihre Bibeln so lange drehten und wendeten, bis unten der Spruch herausfiel: »Du sollst töten«.

Man log sich gegenseitig einen Landsknechtkrieg vor, indes hinten die gerissenen Kapitalisten bei den schneidigen, aber dummen Militärs in Lederlieferungen und Pferden mogelten und gaunerten. Man tat so, als sei der ganze Krieg von Joseph von Lauft oder von Ganghofer:[393] frumb und mit der Kartaun gerüstet zog ein Fähnlein Landsknecht' mutig und mit frischen deutschen Liedlein ins Feld, nicht wahr? Und die operettenhaften Arrangeure eines blutigen Karnevals wollten nicht sehen, daß geknechtete und ohnmächtige Proletarier und Kleinbürger zitternd, klagend oder stumpf in der Massensuggestion befangen vor die Maschinengewehre torkelten. Der Kaiser spielte: historisches Ausstattungsstück. Die Wirklichkeit spielte: Tobsuchtsanfall Europas bis zum Weißbluten.

Aber was wußte Berlin, was wußte Deutschland damals davon? Vorläufig zogen die Abonnenten des ›Berliner Lokalanzeigers‹ (und leider auch andere) von Café zu Café, verlangten mit Stentorstimme mutig, tapfer und deutsch die Entfernung des welschen Akzents, der Feldwebel auf dem Bezirkskommando sagte nicht mehr Adieu, sondern auf Wiedersehen, und es zeigte sich nach kurzer Zeit, daß man alle Gemeinheiten auch ganz gut ohne Fremdworte in seiner Muttersprache ausüben konnte. Es war wirklich eine große Zeit.

Eine Pressemache bis zur Marneschlacht war gar nicht nötig. So tobsüchtig und militärfromm benahmen sich späterhin die reklamiertesten Redakteure nicht, wie das Schreibervolk zu Kriegsbeginn. Wenn ihr nur zurückblättern wolltet! Hat sich denn die Presse seitdem gewandelt? Wie könnt ihr einer Gilde Vertrauen schenken, die solch einen Bockmist prophezeit, zusammengestellt und aufgeschrieben hat? Kaum an irgend einer Stelle haben die Redakteure und Zeitungsleser gewechselt (gefallen sind von den Kriegsbegeisterten nur wenige; man war reklamiert), und heute noch prangen dieselben Namen an denselben Stellen, wo im Jahre 1914 unwiderleglich bewiesen wurde, daß es mit England nun aber endgültig zu Ende ginge. Es war wirklich eine Große Zeit!

Schämen sich die Deutschen der Erinnerung? Schämen nicht! Sie denken nur nicht daran, weil man ja unangenehme Lagen seines Lebens leichter zu vergessen geneigt ist, als die schönen Tage. Sie schämen sich nicht. Die braven Kriegervereinler denken nur nicht immer an die Zeit, wo sie – es war im September 1914 – Balkonplätze für den Einzug Kaiser Wilhelms des Zweiten Unter den Linden durch Zeitungsinserat suchten und ausboten . . .

Lehre? – Nie wieder Krieg. Mittel? – Den Heeresdienst auch dann zu verweigern, wenn ihn ein Gesetz vorschreibt. Beginn des Kampfes gegen den Kampf? – Heute.

Der Mann mit den schwarz-weiß-roten Anzeichen, mit der schwarzweiß-roten Binde um den Arm hatte unter heftigem Gejohle so viel Schnaps aus der schwarz-weiß-roten Flasche zu sich genommen, daß er endlich, leise glucksend, umsank. Da lag er im Rinnstein und schnarchte, beschmutzt, bespritzt – die Hunde schnupperten an ihm herum und hoben ein Bein – da lag er, der Preuße, in allen Gassen,[394] da lag er. Und als er aufwachte und sich schwankend erhob, stieß er tief auf, zog die Luft ein, riß die verklebten Äuglein auf und murmelte: »Es war – hup – eine Große Zeit!«

Wir andern aber wollen uns ihrer erinnern, den Burschen nicht vergessen und sorgsam darauf achten, daß beide nicht wiederkommen.


  • · Ignaz Wrobel
    Freiheit, 03.08.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 392-395.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Komödie in einem Akt

Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Komödie in einem Akt

Ein alternder Fürst besucht einen befreundeten Grafen und stellt ihm seinen bis dahin verheimlichten 17-jährigen Sohn vor. Die Mutter ist Komtesse Mizzi, die Tochter des Grafen. Ironisch distanziert beschreibt Schnitzlers Komödie die Geheimnisse, die in dieser Oberschichtengesellschaft jeder vor jedem hat.

34 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon