Zwei Lärme

[167] Ich möchte einmal da leben, wo es kein Hundegebell und kein Klavierspiel gibt.

Auf jedem Quadratmeter menschlicher Niederlassung schlägt ein Achtel menschliches Wesen auf ein Klavier, macht: ein Stück auf acht Quadratmeter. Sie kennen Laforgues ›Complainte des Pianos qu'on entend dans les quartiers aisés‹? Hören Sie.


Ces entfants, à quoi rêvent-elles

Dans les ennuis des ritournelles?


»Préaux des soirs,

Christs des dortoirs!


Tu t'en vas et tu nous laisses,

Tu nous laiss's et tu t'en vas,

Défaire et refaire ses tresses,

Broder d'éternels canevas.«[167]


Max Brod und Franz Blei haben das so übersetzt:


Die Mädchen, wovon träumen sie

Zu ihrer faden Melodie?


»Mein Heiland ach

Im Schlafgemach!


Du gehst weg und läßt uns da,

Läßt uns da und gehst vom Haus,

Und wir flechten unser Haar,

Sticken ewig Deckchen aus.«


So singt das Klavier, das Pianino, der Flügel. Es singt aber auch:

»Humtarumtatumta – das habe ich gestern im Varieté gehört, mit Max, und es macht mir Spaß, das noch einmal aufzuwärmen, den holden Rotkohl der Erinnerung! Humtarumta – da hat die Schulreiterin Maxn angelacht, und ich habe ihn geneckt und ihn gefragt: Willst du die? Da hat er mich gekniffen – – mich mochte er, aber nicht sie! Humtarumtatumta – nachher waren wir in einer Bar, wir sind vor Schluß des Programms weggegangen, damit Mama nichts merkt, und dann war ich bei ihm. Und niemand weiß es. Humtarumtatumta . . . « So singt der Flügel, so spielt das Mädchen.

Und der brennende Ehrgeiz rast auf den Tasten, dreihundertmal dasselbe, und es wird nicht besser und wird nicht besser, es soll aber besser werden. Ich bin versucht, der Dame ein Pfefferkuchenverschen durch das stets geöffnete Fenster zu schleudern:


Zwei Mädchen spielten am Klavier.

Da sagt die eine: »Denke dir,

was ich nicht alles spielen kann.«

Die andre nahm sich einen Mann.


Diese nahm sich keinen Mann. »Ich will im Salon eine Rolle spielen und diese Sonate; sie ist so modern, daß ich mir alles und nichts dabei denken kann, und das ist grade das schöne dabei. So gut wie die Grigorjewa spiele ich schon alle Tage, und wenn sie das eben mit dem Geld und mit den Beziehungen – von vorn die Passage! – macht, dann mache ich das mit der Begabung. Ich bin sehr begabt. Der Professor hat es mir noch gestern gesagt. Ich darf die Stunden bei ihm fortsetzen, und wenn ich mir das Geld dazu absparen sollte – ich bin sehr begabt. Jetzt noch ein paar Tonleitern! Das Armband stört mich, ich wills ablegen. Die Grigorjewa legt nie ihre Armbänder ab, die Protzin. Das Cis klingt nicht mehr, die Taste ist entzwei – wovon mag das kommen?«[168]

Ich weiß es. Und bin nur froh, daß sie nicht auch noch heult. Singende Frauen sind um eine Oktave selbstbewußter, dümmer und anmaßender als Tenöre. Und singen dasselbe.

Kinder üben und trainieren sich auf Beethoven. Weiber, die der Himmel ernährt, oder die gar für die Kunsthungern – ein ganz besonderer Fall von Derwischismus –, hacken Musik. Und ich habe die Musik bei mir, über mir, unter mir, bei mir. Darf jemand zu mir hereinkommen und mir Schuberts ›Sang an Ägir‹ und Schrekers ›Hakenkreuz am Stahlhelm‹ vorsingen? Nein. Aber durch Rabitz, Stein und Luftraum klingt es und singt es. Das darf er.

Duette sind hübscher. Und darum bellen die Hunde.

»Ausschlaggebend ist aber das Bellen des Hundes: die absolut verneinende Ausdrucksbewegung. Sie beweist, daß der Hund ein Symbol des Verbrechers ist. Goethe hat dies, wenn es ihm vielleicht auch nicht ganz klar geworden ist, doch sehr deutlich empfunden. Der Teufel wählt bei ihm den Leib eines Hundes. Während Faust im Evangelium laut liest, bellt der Hund immer heftiger: der Haß gegen Christus, gegen das Gute und Wahre.« Und: »Interessant ist es, wen der Hund anbellt: es sind im allgemeinen gute Menschen, die er anbellt, gemeine, hündische Naturen nicht.« Aber das hat einer gesagt, der schon mit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr wollte, so nicht mehr wollte.

Was am dauernden Hundegebell aufreizt, ist das völlig Sinnlose. Wenn die armen Luder, die der Mensch anbindet, bellen, so ist das Hilferuf und Aufschrei eines gequälten Tiers. Ein Kettenhund ist etwas beinah so Naturwidriges wie ein Ziehhund oder ein dressierter Varieté-Affe. Aber das stundenlange, nicht ablassende, immer auf einen Ton gestellte Gebell – das ist bitter. Es zerhackt die Zeit. Es ist wie eine unablässig schlagende Uhr: wieder eine Sekunde ist herum, du mußt sterben, erhebe dich ja nicht in irgendwelche Höhen, bleibe mit den Sohlen auf der Erde, sterben mußt du, du bist aus demselben Staub wie ich Hund, du gehörst zu uns, zu mir, zur Erde, bau-wau-hau!

Und dann sieh hinaus und betrachte dir den da. Wen er anbellt. Was ihm nicht paßt. Wie ers nicht will. Der Wagen soll nicht fahren. Das Pferd soll nicht laufen. Das Kind soll nicht rufen. Er hat Angst, und darum ist er frech. Er ist auch noch da, will er dir mitteilen. Du willst es gar nicht wissen? Dann teilt er dirs noch mal mit. Er schaltet sich in alle Vorgänge ein; er spektakelt, wenn er allein ist, weil er allein ist, und wenn Leute da sind, weil Leute da sind; er muß sich bellen hören, um an sich zu glauben. Er bewacht, was gestohlen ist, verteidigt den, der gemordet hat, er ist treu um der Treue willen und weil er Futter bekommt. Hat nicht ein Philosoph die Empfindungen eines Wachhundes bei Nacht zerlegt? Sie sind so simpel und machen so viel Lärm. Im Grunde um nichts. Und so habe ich auch die Hunde bei mir.

[169] Das Ohr transponiert. Allmorgendlich versammeln sich zwei singende Klavierspielerinnen und sechs Hunde in meinem Zimmer, treffen dort zusammen, die Hunde heulen Symphonien, die Klaviere bellen, die Sängerinnen jaulen. Sie zerstören das Beste: die Ruhe.

Was wächst nicht alles in der Ruhe! Was kommt nicht alles zur Blüte in der Ruhe! Alexander von Villers sagts in den ›Briefen eines Unbekannten‹. »Ich liege im Bett und spüre die zitternde Succession der Sekunden . . . « Stille. Ich sehne mich nach Stille. Schweigen heißt ja nicht: stumm sein. Wenn man Pflanzen spazieren fährt, wachsen sie wohl nicht recht. Sechs Stunden tiefe Ruhe machen satt und schwer, der Atem geht gleichmäßig, die Pulse bewegen sich ganz leise. Der Tribut an das körperliche Leben ist gering. In Stille kann man hineinhorchen, sie durchzieht dich, du verlierst dich an sie und kommst gekräftigt zurück.

Horch! Hektor brüllt, und Fräulein Wegemann macht Musik, nach Noten.

Es gibt vielerlei Lärme. Aber es gibt nur eine Stille.

Wo es kein Hundegebell und kein Klavierspiel gibt – da möchte ich leben.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 28.07.1925, Nr. 30, S. 139.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 167-170.
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