Das Buch vom Kaiser

[296] Emil Ludwigs Buch über Wilhelm II. (erschienen bei Ernst Rowohlt) ist einzig nach seiner Wirkung zu beurteilen.

Hier ist zum ersten Mal eines aus der Opposition, das an indifferente Intellektuelle der Provinz herankommt, an Schichten, die wir niemals erreichen, und die unsre Bestrebungen nur aus den Verleumdungen ihrer schlecht besoldeten, also überzahlten Redakteure kennen. Die hundert Auflagen, die das Werk voraussichtlich haben wird, tun gute Arbeit.

Die bis dahin versäumt worden war. Sie kommt ein bißchen spät. Die bedächtig schlafenden Demokraten, die übervorsichtigen Sozialdemokraten, der dümmsten Einwände voll, wenn es galt, aufzuklären – die oppositionelle Presse mit Ausnahme ganz weniger Organe hat die entscheidenden Monate nach dem Kriege nicht ausgenützt. Damals war das Eisen heiß: da war zu sagen, was das Volk im Kriege gefühlt hat, da war auszusprechen, was gelitten und heruntergeschluckt worden war . . . nichts. Wenn ich bei dieser Gelegenheit immer wieder an Felix Stössingers ›Freie Welt‹ erinnere, so zeigt das, wie allein sie stand. Der Rest verpaßte den psychologischen Augenblick.

Die fast schon zu einer fixen Idee ausartende Beschäftigung mit den vergangenen Dingen setzte erst ein, als die geschlagenen Militärs die Frechheit hatten, aus ihrer Niederlage, Flucht und Desertion einen Sieg zu konstruieren – was heute republikanisch in Deutschland ist, steht in der Abwehr. Dieses Buch Emil Ludwigs aber ist eine Attacke und ein voller Sieg. Es ist die schwerste Niederlage, die der Kaiser jemals erlitten hat – und das will etwas heißen.

Im Buch finden sich elf Fotografien des Kaisers – die für den Kenner jeden Text fast überflüssig machen. Sie sind vernichtend. ›Als Admiral‹ steht unter einer, und ›Als . . . ‹ könnte unter jeder stehen. Es sind Aufnahmen eines mäßigen Provinzschauspielers in seinen Rollen. Das Schlimmste freilich ist das Bild: ›In Zivil‹.

Der sauber gewaschene Inhaber eines Wäschegeschäfts der Mark Brandenburg, Reserve-Offizier, ordentlich verheiratet, respektabel rasiert – zum Heulen. Es ist im übrigen aus diesem Bild zu lernen, wie[296] der Typus die Nation verseucht hat, und wie sehr er der Ausdruck seiner Epoche gewesen ist. Ein Tyrann? Eine bemusterte Offerte.

Der Text faßt schlicht und scharf zusammen, was Eulenburg, Eckardstein, Hohenlohe, Moltke, Tirpitz, Waldersee und andre Freunde des Kaisers ausgesagt haben – also nichts Neues? Für die Hunderttausende von Lesern ist es neu – weil sie nicht Geld und Zeit hatten, diese Memoiren zu lesen, und weil man nicht genug für ihre Verbreitung getan hat. Das Bild, das sich ergibt, ist klar und sieht so aus:

Ein innerlich haltloser, selbst zum Schlechten zu schwacher Mensch wird die Katastrophe seines Volkes, weil alle seine schlimmen Eigenschaften den verborgenen und offenen Nationallastern entgegenkommen: Repräsentationssucht, Parvenütum, Lautheit, Betriebsamkeit, hinter der sich Faulheit verbirgt – Organisation ist, wenn die andern arbeiten –, maßlose Herrschsucht, ohne daß er zum Herrschen legitimiert gewesen wäre . . . und eben jene Umgebung.

Hier scheint mir das Hauptverdienst des Buches: mit welchem Takt Ludwig diesen trüben Morast passieren läßt. Die dünne Stelle – der Grund des Einflusses von Holstein – wird kaum berührt, wahrscheinlich hätte man mit Gasmasken lesen müssen. Hier hat sich Ludwig jedes persönlichen Angriffs enthalten und nur die Tatsachen sprechen lassen.

Ob das Seelenbild des Kaisers ganz geglückt ist, läßt sich schwer sagen. Man tut Emil Ludwig keinen Gefallen, wenn man ihn ›den Plutarch seiner Zeit‹ nennt – davon ist gar keine Rede. Aber erstens mußte dieses Buch kommen – spät kommt ihr, doch ihr kommt! –, und zweitens scheint mir die Gestalt des Kaisers nicht so interessant, daß man alle psychologischen Künste daran üben sollte. Wäre der Mann nicht zufällig auf diesen Platz gelangt, er wäre gewiß kein Stoff für einen Seelenforscher. Er ist nicht einfach – aber seine Kompliziertheit reizt nicht, man wendet sich schließlich gelangweilt von so viel Fahrigkeit, Haltlosigkeit, Oberflächlichkeit ab.

Ich habe viele Briefe bekommen, die mir gezeigt haben, wer dieses Buch liest: Leute, die sonst an solche Fragen überhaupt nicht mehr herangingen, und denen die außerordentlich geschickte Formulierung, diese unterhaltsame Prosa, die Glätte der Darstellung einging wie Öl. Das Buch wird – für deutsche Verhältnisse gewiß Anlaß zum Tadel – auch von Frauen gelesen.

Die Mitwirkung und Mitschuld des deutschen Volkes an diesem Stück Unglück geht aus dem Werk unzweifelhaft hervor. Sie haben alle mitgetan, alle Vögel, alle: und es ist beschämend zu sehen, daß dieselben Bürger, die damals an der Hoftafel ihren Kotau machten, heute über Republik sprechen dürfen, als seien sie mit ihr aufgewachsen. Maximilian Harden, der diesen Kaiser schon bekämpfte, als noch Festung drauf stand (und zweimal verhängt wurde), hatte nicht viele[297] Bundesgenossen. Das Bürgertum – auch Walther Rathenau – war für ihn. Solange er an der Macht war.

Das Buch mußte geschrieben werden. Nur die vollendetste Instinktlosigkeit wird verkennen, wie nötig, wie nützlich, wie außerordentlich dankenswert ein solches Buch ist. Es gibt keinen Leser, der nicht zum mindesten zum Nachdenken veranlaßt wird – und das ist viel für viele.

Ich glaube nicht, daß die dem Autor imputierte Formel: ›Der Kaiser hat den Krieg verloren, weil er einen zu kurzen Arm hatte‹, dem Buch gerecht wird. So einfach hat sichs Ludwig nicht gemacht – obgleich er sichs gewiß nicht schwer gemacht hat. Aber die deutsche Demokratie hat viel zu wenig für die Aufklärung breiter Massen getan, als daß sie heute das Recht hätte, mit Besserwisserei und ästhetisch-psychologischer Splitterrichterei an einer Leistung herumzunörgeln, die an Wirkung die zweite Heirat des Kaisers noch übertrifft. Kein Hund wird heute mehr von dem ein Stück Brot nehmen. Außer den Redakteuren der ›Kreuzzeitung‹.

Das Umschlagbild enthüllt eine ganze Epoche. Da sitzt er, bei Bieber von der Schokoladenseite aufgenommen, mit allem behängt, was ein Kaiser so auf der Bühne zu haben pflegt, geschmückt wie ein Indianerhäuptling zur Hochzeit. Lassen wir ihn sitzen. Aber dahinter, die graue Atelierwand: das ist das Land, das ihn bejaht hat. Das Land, das ihm zujubelte, in seiner Verehrung die eigne Nationaleitelkeit ehrte, den Lokalehrgeiz pflegte, die kleinen Beamten, die ihre Herrschsucht mit diesem Bild drapierten, die Klassen, die ihn vor sich her trugen, um hinter ihm ihre Geschäfte und vor allem ihre politischen Machinationen zu betreiben. Er ist schuld. Vielleicht mildernde Umstände. Dem Lande können sie nicht gewährt werden.

Und wenn dieses Buch eine Wirkung haben kann, so ist es eine, die sich nicht nur rückwärts erstrecken sollte.

Der Mann ist geflohen, wie ein Köter auskneift. Kein Wachtposten an einem Pulvermagazin im Frieden hat jemals so erbärmlich gehandelt wie Wilhelm der Zweite, der davonlief, als zum ersten Mal in seinem Leben die Lage für ihn brenzlig wurde. Was zwölf Millionen vier Jahre lang ertragen mußten (weil sie es so wollten) – für ihn war es zu viel.

Und diesem Mann zahlt die Kaiserlich Deutsche Republik 50000 Mark monatlich, also 600000 Mark jährlich. Ein Prozeß, den die weißen Juden in Doorn gegen den Fiskus angestrengt haben, wird wahrscheinlich zu einem Vergleich führen, der dem da noch mehr in den Rachen fallen läßt, als er schon über die Grenzen hat schieben lassen.

Hier kann eine Wirkung des Buches liegen.

Jeder Pfennig, der diesem Kaiser weiterhin ausbezahlt wird, ist ein Verbrechen, dem deutschen Volk zugefügt. Er hat Anspruch auf nichts. Es gibt keine juristische Trennung zwischen ›Privat-Eigentum‹ und[298] ›Hohenzollern-Eigentum‹ – denn die Hohenzollern sind niemals Privatleute gewesen, und der Thron war keine Gesellschaft mit beschränkter Haftung und kein Sondergut. Die politische Verblendung, mit der sogar die Unabhängigen sich auf die juristische Ebene haben locken lassen, die lächerliche Ordnungssucht, das Bestreben, ›gerecht‹ zu sein, wo ein politisches Exempel zu statuieren war – das hat zur schlimmsten Ungerechtigkeit geführt. Zur Ungerechtigkeit an seinen Opfern.

Es gibt in Deutschland Hunderttausende von Invaliden, die bittern Hunger leiden, die hinken, sich in Krämpfen winden, blind sind, das Gehör verloren haben. Die beschämenden Verhandlungen vor den Rentenämtern zeigen, wie mit diesen Leuten umgegangen wird – nicht nur ungehörig im Ton, sondern herzlos in der Sache. Für sie ist kein Geld da.

Es ist für sie Geld da.

Die Marksummen, die allmonatlich nach Doorn gehen, sind ein Diebstahl an der deutschen Nation und an ihren wehrlosesten und ärmsten Gliedern: an den armen, betrogenen, zerschossenen und verkrüppelten Soldaten.

Emil Ludwigs Buch hat uns eine Erkenntnis vermittelt. Wenn es nicht bei der Erkenntnis bleibt, hat es den schönsten aller Erfolge davongetragen.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 29.12.1925, Nr. 52, S. 980.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 296-301.
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