Die Republik Andorra

[111] Sie waren vier Schwestern: Andorra, Liechtenstein, San Marino und Monaco – und Wir durften sie beim Roten in der Geographiestunde rasch aufsagen: Andorra, Liechtenstein . . . und die Hauptstädte – und aus. Inzwischen hat sich die Familie bedeutend vermehrt, denn was wir da alles an kleinen Staaten in Europa dazubekommen haben, tut diesen vieren keinen Abbruch, sondern macht sie zu ganz respektabeln Anwesen.

Die Andorraner sind 5200 Menschen, also ein paar Straßen voll. Aber die Täler, die sie bewohnen, sind nun einmal seit Jahrhunderten eine Republik, eine selbständige Sache – zuletzt wurde das im Jahre 1806 geregelt, und Spanien und Frankreich bekommen noch heute das Überbleibsel eines Tributs: an den Präfekten der Ostpyrenäen gehen 900 Francs im Jahr, an den Bischof von Urgel 450 Pesetas. Im übrigen läßt man die Andorraner in Ruhe.

[111] In Bourg-Madame ging ich über die Grenze – zunächst nach Spanien. Eine hellgelbe Baumallee durchfuhren wir, der Herbst setzte ein, und die Blätter schrien im Licht. In Puigcerda standen die Bauern auf dem Markt, von wegen Sonntag; ein altes Überlandauto nahm mich auf, ein Kasten, der kurz vor Erfindung des Automobils in Gebrauch genommen worden war. Es war aber erstaunlich, wo diese Arche fahren konnte! Mit einem Pferdewagen wäre es auf den spanischen Landstraßen schon nicht sehr heiter gewesen, aber nun –! Das riesige Boot schwankte und taumelte von einer Seite auf die andre, der Hund, der auf dem Verdeck angebunden war, machte sich vor Angst in die Hosen, und daher regnete es – und die Fahrt nahm nie ein Ende. Aber sie war schön. Wir fuhren, dreiunddreißig Bauern und Bauersfrauen, neunundneunzig Bündel, Stücke, Körbe, Koffer, Kisten, Käfige . . . wir fuhren in eine weite Ebene, die großen, weißen Wolken standen da oben unbeweglich, und ich war so froh, einmal aus dem Gebirge hinausgekommen zu sein und nach Monaten endlich wieder die flache Erde zu sehn. Wir passierten zweihundert Gendarmen und dreihundert Pfaffen. Hier und da sah man auch Menschen.

In Seo de Urgel, dem Bischofssitz, war umzusteigen. Ein riesiges Bischofshaus stand da, es sah aus wie eine Kaserne, und das war es ja wohl auch. Und dann blätterte noch einmal ein spanischer Gendarm in meinem Paß, kratzte sich hinterm Ohr, holte sich eine Fibel, lernte rasch die großen Buchstaben . . . und dann war ich in Andorra.

Die Täler sahen aus wie alle Pyrenäentäler dieser Gegend – aber als wir nach Andorra-la-Vella kamen, der Hauptstadt, da sah ich den Unterschied. Die Hauptstadt hat fünfhundert Einwohner, und diese Belegschaft eines berliner Ackerstraßenhauses verteilt sich in graubraunen, primitiv gebauten Häusern, die Feldsteine sind nicht übertüncht, sondern liegen nackt. Die Ritzen sind mit Erde verstopft.

Es war später Nachmittag. Ich klapperte durch die grob gepflasterten Straßen, und was nie in Frankreich geschehen war, geschah hier: Kinder bettelten mich an, Bitten, ausgestreckte Hände – und ein paar ganz kleine Steinchen. Das Hotel war ein altes Haus wie die andern auch, der Wirt sprach Katalanisch, wie alle Leute in Andorra, aber wir kamen einigermaßen zurecht miteinander. Ich wollte ›das Haus‹ sehen. ›Das Haus‹ – als ob es nur dies eine gäbe; Casa de la Val ist das Regierungsgebäude.

Es war grade keiner drin. Es erschien ein riesiger Schlüssel mit einem Mann hinten dran, beide schlossen auf. Außen war ein bißchen Latein an der Tür, innen war ein Schulraum mit alten Fresken und nackten Bänken und einem Lehrertischchen. Daneben das Beratungszimmer des Rats. Es sind vierundzwanzig Männer, die das Land verwalten, vier aus jeder der sechs Gemeinden: Canillo, Odeillo, La Masana,[112] Encamps, Andorra, San Julia de Loria. Dieser Rat wird alle zwei Jahre zur Hälfte erneuert; das ist seit Jahrhunderten so. Zwei Vögte führen die Verwaltungsgeschäfte, einer ist von den Franzosen, der andre von den Spaniern ernannt. Sie sind Chefs der Landesmiliz. Es gibt aber keine.

Neben dem Beratungszimmer lagen der Eßsaal und eine kleine Kapelle. Ich wußte, was sich in dieser Kapelle befinden mußte, und ich suchte es mit den Augen. Eine alte Kopierpresse lag in der Ecke, das konnte es nicht sein, ich getraute mich nicht recht, zu fragen . . . Da hob der Schlüsselmann die Presse in die Höhe und sagte, das wäre es: la garotte – die Schraube, mit der man Leute erwürgen kann, wenn man will. Der Schlüsselmann sagte, er hätte das noch in seiner Jugend mitangesehn.

Und er zeigte mir die Amtskleidung der Räte, die Galaröcke der Vögte, ihre Dreispitze – alles zeigte er mir. Trutz'ge Bauern, die da ihre stolze Unabhängigkeit bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. Aber auf der Pappschachtel, in der die guten Staatshüte lagen, stand: ›Columbia U.S.A.‹ Ich sah ein, daß ich dem deutschen Ideal ganz nahe war: Mittelalter G.m.b.H. Trotz aller Sprüche der Andorraner: ›Toca hi so goses‹ heißt einer etwa: ›Fire, but don't hurt the flag!‹ – es sind doch keine Ritter mehr. Ritter bezogen nur ganz selten ihre Hüte aus Amerika. Und dann ging ich wieder auf die Gasse.

Die war mittlerweile dunkel geworden, und ich schlich mich auf den kleinen Marktplatz, der sonderbar und finster dalag. An der Kirche vorbei . . . Das Pfarrhaus lag am Marktplatz, und eines der Häuser war 90 wunderlich bemalt mit blassen Farben und Figuren . . . Die Traumstadt ›Perle‹ von Kubin gibt es nicht. Aber hier lag sie. Eine Katze huschte an meinen Füßen vorbei. Ich drehte mich um: durch die krummen Gassen schleifte die Cholera ihre Gewänder, ein Laken fegte um die Ecke . . . es wäre ein bißchen kalt, fand ich, nun könnte man wohl nach Hause gehen.

Es gab, mit einem süßen spanischen Wein, so viel zu essen, daß mir himmelangst wurde. Ein spanischer Handlungsreisender war auch da, und wir begannen eine merkwürdige Unterhaltung, die ihr Fundament in romanischen Wörtern eigener Prägung hatte . . . Es war nicht leicht. Am nächsten Morgen ritt ich ab.

Ich zog mit einem Führer die Nationalstraße Andorras entlang; sie ist einen Meter fünfundsiebzig breit und höckrig. Eine Fahrstraße durch das Land gibt es nicht. Die Staatspost ging mit uns und erzählte sich ellenlange Geschichten mit dem Eselstreiber; sie marschierten in gleichmäßigem Schritt, und dabei sprachen sie ununterbrochen. Ich verstand kein Wort – aber wenn sie ihre Feinde nachahmten, das verstand ich gleich. In ihrer Rede kam nach dem schreienden Diskant des Gegners der ruhige Männerton zur Geltung – das war dann der Berichterstatter[113] selber, der gesprochen hatte, ein umsichtiger, vernünftiger Mann.

Wir kamen an Eskaldas vorbei, einem kleinen Flecken mit etwas feinem Häusern; ein schwacher Ansatz war zu bemerken, das Ding als Badeort auszugeben, aber sie schämten sich wohl selber ein bißchen und so blieb es bei einigen Aufschriften. La Mosquera erschien und Meritxell, da stieg ich ab. Ich wollte die Kirche sehen, zu der die Leute gewallfahrt kommen. Es war eine weißgetünchte kleine Bergkirche, mit hübschem gedecktem Gang draußen vor der Tür; drin stak alles voll Weihgeschenken und frisch gekauften Statuen. An einer versteckten Stelle schien die Sonne hindurch und warf ein hellgrünes Mondantlitz auf die gegenüberliegende Wand, das war offenbar ein himmlisches Gesicht. In Soldeu blieb ich sitzen.

Der Briefträger und der Eselstreiber aßen mit mir zusammen Mittag – um wieviel anständiger benehmen sich oft Romanen als manchmal andere Leute! Es waren doch Bauern, aber da war nichts Schmeichlerisches und nichts Rohes – es war ein Mittagessen unter drei Gleichberechtigten, und sie hatten gute Tischmanieren und aßen appetitlich. Nur mit dem Trinken war das nicht einfach; da gab es so eine Glasflasche mit einem dünnen Rohr, das man sich eine Spanne breit vom Gesicht weghielt, und dann ergoß sich ein dünner Strahl in den Mund. Bei mir auf den Fußboden. Nachmittags legte ich mich ins Gras.

»Jede Provinz, jeder Winkel auf der Erde gibt dem Vorüberkommenden, der keine Zeit hat, lange zu verweilen, etwas mit, was ich ein Stückchen Herz nennen möchte. Manchmal ist es ein Schritt Tanzender; ein paar Töne, vom Fels zurückgeworfen oder vom Wind getragen, ein Nichts . . . irgend etwas ganz Simples . . . ein Stein, das bemooste Kreuz an der Straße, ein verfallenes Grab . . . und alles spricht.« So stand in einem Reiseführer durch Andorra, und das ist richtig. Was war es denn –?

Ein heißer Tag und das herrliche Gefühl, in der roten Hitze eisig kaltes Wasser aus einem blitzenden Glas zu trinken, die Müdigkeit nach dem Ritt und dann die Ruhe im Gras. Eine Stute beschnupperte mich und ging langsam weiter; ein paar Schweine kamen und brachen mit großem Gegurgel einen Kohlgarten auf, daraus verjagte sie die Bauersfrau: »Hé, Hé! Porc! Porc!« Das bezogen die Schweine auf sich und liefen eilig davon; dann schlief ich ein. Als ich aufwachte, stand die Sonne schon tiefer, und drüben, auf der andern Seite des Tales, sang eine helle Männerstimme ewig dieselben sechs traurigen Töne: d, b, g; c, as, f – Die kleine Melodie verwob sich mit dem Grillenzirpen und dem leisen Wind zu einem weichen Netz . . .

Dann überkam mich unbändige Lachlust: ich mußte an das Buch von Isabelle Sandy denken: ›Andorra oder Die Männer aus Erz‹. So sah das Land grade aus. Das ist die Räubergeschichte von einer[114] andorraner Familie, die wegen des Erbrechts, mit dem es ähnlich stand wie bei den Basken, viel Sorgen hatte. Der Vater wollte den Jüngern zum Erben, also zum Alleinerben machen, und der Ältere tötete und mordete wie ein Marder die ganze Konkurrenz, die ihm in den Weg kam. Da ging es zu –! Geballte Fäuste, geknirschte Zähne, mit Pulver gefüllte Holzscheite für den heimischen Herd, verführte Mädchen, erschossene Schmuggler, geschluchzte Gebete und zum Schluß Absprung des Bösewichts in den Schlund der Hölle. Von dem Edelmut, mit dem das uneheliche Kind heimlich mit Land dotiert wurde, gar nicht zu reden.

Nun, die andorranische Jugend in Andorra-la-Vella hatte am Sonntag zum Klang eines mechanischen Klaviers Onestep getanzt, und was die Rechnungen dieser treuherzigen Landbevölkerung anbelangt, so hatte man das Gefühl, unter die Räuber gefallen zu sein. Sie machten kräftige Frankenpreise und setzten hinter die Ziffer: Peseta. Was eine romantische Multiplikation mit dreieinhalb bedeutete.

Man kennt ein Land natürlich nicht, wenn man es nur bereist, ohne darin zu leben. Aber Salontiroler . . . nein: die ganze Sehnsucht einer zu kurz gekommenen Klavierlehrerin sprach aus dem Buch, die Verachtung, mit der die poesielose Stadt Paris beiseitegeschoben wurde – da droben, bei euch, ihr Starken, da wohnt das Glück! Heirate, mein gutes Kind. Aber das macht den Leuten in der Stadt so unendlich viel Vergnügen, Romane in die Natur zu verpflanzen. Bäuerliche Heldenverehrung ist die Romantik der Dummen.

»Wenn ich den Wald besinge, tue ich das deshalb, weil die Fabrik wütet . . . « So Isabelle Sandy. Wo wolltest du leben? In dem muschelförmigen Tal Andorras, umgeben von Faunen und Waldgöttern? Gegen Morgen hätten sie dir eine Rechnung präsentiert:

Eine Waldorgie . . . 85 Pesetas.


Von Hospitalet, im Französischen, ging früh ein Auto ab, das mußte ich haben. Dazu war es nötig, nachts zu marschieren. Ich verabredete mit dem zweiten Briefträger der Staatspost das Nötige und verließ den Ort morgens, um vier Uhr.

Der Mond hing hoch über dem Tal, es war kalt, und alle Sterne flimmerten. Totenstille. Den Weg hatte ich nach der Karte auswendig gelernt; verfehlte ich ihn, war ich meinen Briefträger los, der hinter mir heraufstieg. An verschlossenen Häusern kam ich vorbei, an einer dunkeln Scheune und an einem Steinbruch. Er bewegte sich. Da lag, im kaltbleichen Mondschein, eine Schafherde im Pferch, wie versteinert ruhten sie, nur die vordersten kauten leise und hoben die Köpfe. Ich blieb stehen – hundert Augen sahen mich an.

Dann entfärbte sich der Himmel, auf den Hügeln wurde es Licht, jetzt stieg der Weg an, und nun hörte ich unten den Briefträger pfeifen.[115] Ich wartete. Dann wurde es immer heller, die Felsen gegenüber waren rosenrot, der Mond blieb oben stehen, um ja nichts zu versäumen – jetzt mußte die Sonne aufgegangen sein, aber wir sahen sie noch nicht, der Paß verdeckte sie.

Der Briefträger legte ein Tempo vor . . . Er ging, wie Älpler gehen: ganz leicht. Man sah ihm an, daß er sich nicht anstrengte, sein Schritt war von vollendeter Gleichmäßigkeit, hinauf, hinunter, kein Unterschied. Ganz oben auf dem Paß lag Reif.

Wir stiegen zu Tal. Wir kamen an die kleine graue Brücke: die Grenze. Nun war ich wieder in Frankreich, und das freute mich. Der Mann lief, aber man sah das nicht; welche Beine –! Die Sonne ergoß sich noch purpurrot auf den breiten Weg, die Täler lagen still, nur einmal begegneten wir ein paar Füllen. Hoch oben stand das Eingangshaus zu einer verlassenen Eisenmine.

Die Fünftausend da hinter mir sind Bauern, und kleine Bauern. Es gibt etwa sieben oder acht wohlhabende Familien – der Rest schlägt sich so durch. Die Gemeinden nehmen durch die Pacht der Berghalden dies und jenes ein; großer Wohlstand herrscht da jedenfalls nicht. Was die Viehzucht nicht bringt, macht natürlich der, sagen wir, Transithandel. Da gab es einfache Andorrabauern, die bestellten sich aus Frankreich die teuersten Mähmaschinen, die mehr kosteten, als ihr ganzer Besitz wert war. In Andorra wurden diese Maschinen auseinandergenommen und über die Berge nach Spanien getragen: auch hier eine große Kraftanspannung, körperliche Arbeit, Mut – und eine elende Bezahlung. Alle Welt weiß das, hier an der Grenze erzählten mir zwei französische Gendarmen voller Bonhomie die schönsten Schmugglergeschichten und suchten mit ihren Ferngläsern die kahlen Bergwände ab. Es kam aber keiner, und in meinen Morgenschuhen war kein Tabak.

Republik Andorra . . . ! Dieser Staat hat – im Gegensatz zu Hamburg – in Berlin keinen Gesandten. Wenn aber die Republik Andorra in Deutschland läge, hätte sie einen, aber dann wäre es keine Republik.

Waren die Mädchen Andorras eigentlich hübsch –? So sehr nicht, aber schließlich . . . Die Andorraner brauchen nicht zu dienen – weder in Spanien noch in Frankreich. Und wenn man eine Andorranerin heiratet, dann erwirbt der Mann ihre Staatsangehörigkeit.

Ewig werde ich mich nach den Frauen dieses Landes zurücksehnen. Welcher Seelenadel! Welcher Zauber! Welches Feuer –! Und welch schöne Staatsangehörigkeit.


Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 111-116.
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