Mit einem Zuchthäusler?

[205] Der härteste Augenblick im deutschen Strafvollzug ist der, wo der Entlassene wieder vor dem Zuchthaus steht, dessen Tore sich langsam von innen geschlossen haben. Was nun –?

Nun beginnt entweder die Hetze durch die Polizeiorgane, die lächerliche Barbarei der Polizeiaufsicht, oder der Mann sucht sich Arbeit, er möchte arbeiten – es will ihn aber keiner.

Hier muß die Wahrheit gesagt werden:

Es ist nicht immer nur der Arbeitgeber, der den ehemaligen Zuchthäusler aus dem Büro jagt; es ist leider noch sehr oft der deutsche Arbeiter, der sich weigert, ›mit einem Zuchthäusler‹ zusammenzuarbeiten. Der Arbeiter begeht hier ein schweres Unrecht.

Deutsche Richter und solche, die es werden wollen, sind geneigt, dieses kleinbürgerliche Schlagwort vom ›ehemaligen Zuchthäusler‹ auf das Konto: ›natürliches Rechtsempfinden des Volkes‹ zu buchen, ein Posten, auf den sie sonst herzlich wenig Rücksicht nehmen. Hier tun sie es nur, weil ihnen das Schlagwort schmeichelt. Der Arbeiter überlege. Daß jemand gänzlich unschuldig ins Zuchthaus kommt, gehört auch in Deutschland, dessen Strafjustiz auf einer verhältnismäßig niedrigen Stufe steht, zu den Ausnahmen. Geschieht es einmal, so ist fast immer damit zu rechnen, daß die richterliche Clique den von ihr begangenen Fehler zu vertuschen und darauf hinzuwirken sucht, daß der so schwer Getroffene nicht anständig entschädigt wird; wie sie überhaupt bemüht ist, von einer Verantwortung abzurücken, die sie, vom Assessor bis zum Reichsgerichtspräsidenten, ununterbrochen im Munde führt. Ja, die Unabsetzbaren halten es sogar für völlig in der[205] Ordnung, daß ein Staatsanwalt, der bei einem Justizmord mitgewirkt hat, wiederum bei einem Mordprozeß und wiederum mit behaupteten Indizien mitwirken darf. Daß keine Bestrafung der an einem Justizverbrechen Schuldigen eintritt, bedarf keiner Erwähnung.

Unschuldige im Zuchthaus aber gehören zu den Ausnahmen. Ganz etwas andres ist es schon mit der Verhängung der Zuchthausstrafe an Stelle einer Gefängnisstrafe. Die Strafrahmen lassen dem Richter, der bei seiner jetzigen Vorbildung und Personalauswahl keine Eignung für sein Amt besitzt, sehr viel Freiheit; es ist bekannt, daß zum Beispiel vorbestrafte Taschendiebe ihre fremde Staatsangehörigkeit sehr oft mit Zuchthaus büßen, denn die Hirne der Richter treiben in solchen Prozessen sonderbare Blasen von Nationalstolz.

Nach welchen Gesichtspunkten die Dauer der Zuchthausstrafe bestimmt wird, würfelt man sich am besten aus; die wenigsten deutschen Richter ahnen auch nur, was sie da verhängen. Den Unterschied zwischen zwei und zweieinhalb Jahren Zuchthaus macht sich auch nicht der Tausendste unter ihnen klar.

Setzen wir nun den Fall, daß ein zu recht Verurteilter wegen einer gesellschaftsschädlichen Handlung eine Zuchthausstrafe verbüßt hat. Seine Schuld, nehmen wir an, verteile sich gleichermaßen auf das soziale Milieu, dessen Opfer er ist, und auf seine biologischen Anlagen, die er nun einmal zu vertreten hat. Wenn dieser Mann aus dem Zuchthaus herauskommt, wird er in fünfundneunzig von hundert Fällen überhaupt keine Arbeit bekommen, oder aber sie wird ihm unter derartig entwürdigenden Umständen gegeben, daß sich sein bißchen Stolz eines Tages dagegen auflehnt; dann wirft er sie hin, wird arbeitslos und beginnt seinen Paragraphenweg von vorn. Soweit der Arbeitskollege, der Angestellte oder der Arbeiter daran schuld sind, begehen sie einen schweren Denkfehler.

Man kann von einer kleinbürgerlich erzogenen Verkäuferin nicht verlangen, daß sie über Strafe, Strafvollzug, Schuld und Sühne in einem kapitalistisch organisierten Staat hinreichend aufgeklärt ist; man kann es von einem sozial geschulten Angestellten, von einem gewerkschaftlich organisierten Arbeiter wohl verlangen.

Bei denen ist aber das kleinbürgerliche Ressentiment ungeheuer groß. Den ›ehemaligen Zuchthäusler‹ umgibt das Grauen, genährt von der Schule, dem kirchlichen Unterricht, schlechter Literatur und halbdunkeln Vorstellungen vom Klirren der Ketten, Ratten in Zellen und dem Gedanken, durch einen aktenmäßig aufgezeichneten Spruch verkleideter Funktionäre verwandele sich ein Mensch, der Böses getan hat, in einen bösen Menschen. Sie stoßen den Entlassenen ab; alte Vorstellungen von infamierten Personen tauchen vage auf: so wenig ein biederer Zunftmeister des Mittelalters mit dem Schinder an einem Tisch getrunken hätte, so wenig wollen sie mit dem Zuchthäusler zu tun haben.

[206] Wer einen Menschen die eben verbüßte Strafe noch einmal verbüßen läßt, der demütigt ihn. Mit welchem Recht stößt er ihn ab? Wenn es sich nicht um ganz schwere Fälle handelt, was immerhin nachzuprüfen ist, so spricht nichts, aber auch gar nichts dafür, daß der Zuchthäusler auch nur im kleinen Fingernagel schlimmer sei als irgendein Proletarier, der säuft, arbeitsscheu ist und nur eben bisher von der letzten Konsequenz, ein Verbrechen zu begehen, aus irgendwelchen Gründen zurückgescheut ist. Der Zuchthäusler ist gedemütigt, in seinem Stolz tausendmal zerschlagen, durch die fürchterliche Sexualnot langer Jahre zermürbt, sie haben ihm zehnmal am Tage das Rückgrat gebrochen; man braucht nur zu sehn, wie dieser Staat, der soviel Geld für seine Reichswehr, für seine Gasfabriken und für seine Verwaltungskindereien übrig hat, die Gefangenenwärter bezahlt, aus welchen Kreisen sich die rekrutieren und welche Bildung und Vorbildung sie haben . . . man braucht nur einen Blick in diese Muffhölle zu tun, um zu verstehen, was es heißt, deren Opfer zu sein. Es gibt schlimmeres als körperliche Prügel.

Und das ist die zweite schwere Schuld der arbeitenden Kleinbürger: sie zerstören durch ihre Intoleranz seelische Werte, die man nutzbar machen könnte.

Sicherlich geht es manchmal schief. Es ist durchaus möglich, daß der unvorbestrafte Steinhauer Schulze die Arbeitsbude in Brand steckt und den Vorarbeiter erschlägt; die Chance, daß der ›ehemalige Zuchthäusler‹ es tut, ist fast immer viel kleiner als man gemeinhin denkt.

Die oft geübte Praxis, entlassene Strafgefangene überhaupt nicht oder als zweitklassige Menschen zu beschäftigen, ist grausam, unsozial und falsch.

»Also sollen die ehemaligen Zuchthäusler genau so behandelt werden, wie alle andern Arbeiter und Angestellten auch – ja, wozu führt man sich denn dann sein ganzes Leben lang gut –?«

Nicht, um eine Schicht Menschen als Gehsteig unter sich zu haben. Ein allgemeines Urteil aus der Tatsache einer Verurteilung zu Zuchthaus herzuleiten, ist unmöglich. So, wie bei uns geurteilt und verurteilt wird: aus Denkfaulheit, aus Trägheit des Herzens, aus Routine, aus Ehrgeiz, aus Karrieresucht und aus Überheblichkeit . . . , es ist nicht angängig, alle aus dem Zuchthaus Entlassenen nur nach einer und noch dazu nach einer falschen Schablone zu beurteilen. Einen wegen Defraudation Verurteilten wird man nicht noch einmal als Bankkassierer anstellen – obgleich die analogen Fälle in der deutschen Politik durchaus zu andern Ergebnissen führen und geschlagene Heerführer und erfolglose Politiker hierzulande nicht unterzugehen brauchen; einen Lehrer, der sich an Kindern vergangen hat, wird man nicht noch einmal als Lehrer anstellen – das ist gewiß. Aber niemand hat das moralische oder soziale Recht, einen Menschen Zeit seines Lebens zu[207] brandmarken, weil er im Zuchthaus gesessen hat. Das ist eine Unterschätzung des Mitmenschen und eine Überschätzung des Richterspruchs.

Die KPD, die die Kleinbürgerlichkeit der Gewerkschaften klar erkannt hat, sie aber nicht immer richtig bekämpft, hat hier ein weites Feld. Hier ist durch vernünftige Aufklärung viel zu tun und manches zu erreichen. Nicht aus Sentimentalität. Sondern um eine Unmenschlichkeit zu bekämpfen, die tief in der Menschenseele liegt und die sich als Sachlichkeit oder Empfindsamkeit gibt, aber tödlich trifft. Der Russe nennt den Verbrecher ›den Armen‹. Der Deutsche nennt ihn ›vorbestraft‹ und radebrecht gern das Rackerlatein der Unabsetzbaren, um zu zeigen, daß auch er ein Fachmann sei. Man sollte diesen Richtern den Rücken kehren und sein Herz jenen entlassenen Strafgefangenen zuwenden, die es wert sind.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 28.08.1928, Nr. 35, S. 315, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 205-208.
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