Auf dem Nachttisch

[46] Mit mir wird das kein gutes Ende nehmen: ich gehöre dem R.D.B. A.-G. nicht an. ›A.-G.‹ heißt aber hier nicht Aktiengesellschaft sondern ›auf Gegenseitigkeit‹; und der R.D.B. ist der ›Reichsverband Deutscher Buchlober‹. Das ist ein merkwürdiger Verein.

Es wird ja mit Recht darüber geklagt, in einem wie verrotteten Zustand die Buchkritik ist; während für die Theaterkritik eines Blattes oder einer Zeitschrift emsig Umschau gehalten wird, darf und kann über Bücher anscheinend jedermann schreiben. Dazu ist nicht nötig, daß man das Stoffgebiet beherrscht, ähnliche Werke kennt und ausfindig macht . . . die Buchkritik ist ein Ersatz für den veralteten Waschzettel, nur ist sie nicht so sauber. Über die merkwürdige Koinzidenz von Inserat und Kritik wollen wir uns gar nichts erzählen, wohin gerieten wir da! – wobei die alte Streitfrage auftaucht, ob sich ein Blatt für Anzeigen solcher Werke bezahlen lassen darf, die es verreißt . . . Das Schlimmste ist die Kritik der guten Freunde. Eine Hand macht munter die andere schmutzig, lobst du meinen Schmöker, lob ich deinen, und wenn du mich mit Goethe vergleichst, vergleich ich dich mit Lessing. Ich halte es mit jener alten hamburger Theaterabonnentin: »Ich guck all gar nicht mehr hin.« Und ich befürchte sehr, mir die tief-innere Feindschaft eines guten Dutzends von Literatoren zugezogen zu haben, deren Werke ich nicht gelesen, also nicht besprochen habe – obgleich doch das eine zum andern, sollte man denken, gar nicht nötig ist. Mit mir wird das kein gutes Ende nehmen.

Hermann Kantorowicz: ›Der Geist der englischen Politik und das Gespenst der Einkreisung Deutschlands‹ (erschienen bei Ernst Rowohlt in Berlin). Eine höchst verdienstvolle Arbeit. Mehr? Nein, mehr nicht.

Kantorowicz paukt England heraus. Soweit er das gegen die deutschen Nationalisten tut, ist er im Recht. Was die in ihren Flugblättern und in ihren Büchern über die ›falschen Briten‹, die ›Krämer jenseits[46] des Kanals‹ zusammenschreiben, hat seinen Ursprung in den ersten Kriegstagen, wo die unorientierte Ahnungslosigkeit der Deutschen die Kriegserklärung Englands als einen Schlag in die unvorbereitete Magengrube empfand. Damals war es, als der unsägliche Sombart seinen Setzern und Lesern das Werklein ›Händler und Helden‹ zumutete – es hat reiche Früchte getragen. Kantorowicz erklärt den englischen Nationalcharakter: seine Ritterlichkeit, seine Sachlichkeit, seine Humanität und seine . . . er nennts Irrationalität. Das Wort will mir nicht recht gefallen: es ist eher so etwas wie ein politischer Instinkt. Dann, sehr gut, das Kapitel über das Märchen von der Einkreisung Deutschlands, darin die gradezu erschütternden Beispiele von der fürchterlichen Verhetzung, der die deutsche Jugend noch heute und grade heute in Hunderten und aber Hunderten von Schulbüchern ausgesetzt ist. Das normale deutsche Geschichtsbuch, besonders das der höhern Schule, enthält durchweg faustdicke Lügen über den Krieg, mit der kaum noch verhüllten Tendenz: Auf zur Revanche! Kein Wort von der tiefen Kriegsschuld Deutschlands; kein Wort von den maßlosen Ungeschicklichkeiten der Vorkriegszeit; kein Wort von der geistigen Verfassung, in der sich der Herrscher dieses Landes befunden hat . . . aber: das ›niederträchtige Albion‹, und immer wieder: der englische Neid, die englische Konkurrenzangst (vor dem großen Abnehmer englischer Waren nämlich!) – und all das Zeug, das der Verband für das Deutschtum im Auslande unter gefälliger Patronanz der Kultusministerien in die jungen Gehirne trommelt. Die Politik gehört nicht in die Schule . . . sagte die herrschende Klasse; damit meinte sie die der andern.

Kantorowicz stellt bei dieser Gelegenheit auch die verderbliche Tätigkeit der finanziell und organisatorisch sehr mächtigen Verbände gegen die Kriegsschuldlüge fest, die Revanchepolitik dieser neuen Tirpitz-Küche, von der die Regierung abrückt, wenn man sie in London und Paris festnageln will . . . zu Hause ist sie duldsam und mehr als das. Wer bereitet den nächsten Krieg vor –?

Mir scheint, als ginge Kantorowicz in der rosaroten bengalischen Beleuchtung der Aktschlüsse englischer Politik zu weit. So rosa ist es nun wieder nicht. Es gibt gewerbsmäßige Jesuitenriecher, die nun alles, was Böses auf der Welt geschieht, dem unterirdischen Wühlen der Jesuiten zuschreiben – und so gibt es denn auch kontinentale Englandriecher. Was jedoch der wackere Lord d'Abernoon in Berlin gewirkt hat, ist nicht von Pappe gewesen. Daß sich die deutschen Nationalisten auf die Krämer jenseits des Kanals allemal dann berufen, wenn die – scheinbar – ihr Toben gegen den innern Feind als Vorbereitung gegen die Bolschewisierung Deutschlands stillschweigend geduldet haben, ist eine andre Sache. Kantorowicz badet in Engländertum, er britelt, man soll das nicht. Ich halte die kleine Anekdote, die in Michels' ›Patriotismus‹ zu finden ist, für sehr schön und bezeichnend: wie da ein englisches[47] Ehepaar auf einem Donaudampfer fährt, und, als eine Österreicherin ein Kompliment für die ›Fremden‹ hat, die Engländerin böse auffährt: »Fremde? Sie sind die Fremden. Wir sind Engländer.«

Ich denke, daß das Werk von Kantorowicz einen Grundfehler hat: es hält die bürgerliche Weltordnung für die einzig mögliche, und es sieht nicht, daß es den Arbeitern auf allen Seiten ziemlich gleichgültig sein kann, welche Fahnen die Verwaltungsgebäude ihrer Werke grade hissen – die Proleten sind allemal die Dummen. Der Kampf geht gar nicht für und gegen England – er geht um ganz etwas andres.

Liest man im Anschluß daran zum Beispiel Harold Nicolsons ›Miss Plimsoll und andere Leute.‹ (erschienen bei der Frankfurter Societätsdruckerei zu Frankfurt am Main), dann kommt man allerdings an die liebenswertesten Seiten des englischen Charakters. Der Verfasser ist ein ehemaliger Diplomat, der viel gesehen und noch mehr verschwiegen hat; manches erzählt er. Mitunter ist die Geschichte etwas dünn; vielleicht sind diese Berichte höchst charmant, wenn der Mann sie am Kaminfeuer erzählt – vorn wird man gebraten, hinten friert man, und in der Mitte muß man lachen. Wenn man dann aufsteht, ist alles fort. Wirklich ein Buntdruck erster Ordnung aber ist ›Arketall‹, ein lebendiger oder erfundener Kammerdiener Lord Curzons. Das ist bester englischer Humor, vor allem in der Diktion; das Ganze erinnert an die schönsten alten Whisky-Plakate oder an die von Pear's Soap. Diese leichte, chronische Besoffenheit des Dieners; die ironische und echte Überlegenheit Curzons; die Komik der eifrig die Hotelzimmer vorbereitenden Sekretäre . . . Und dann, eine Perle, der Schlußabsatz des Kapitels. Der Diener hat sich nun doch so unter Spiritus gesetzt, daß er »den Morgenzug benutzen« muß. Curzon ist vergnügt und ladet den jungen Nicolson zum Abendessen. »Zur Belohnung werde ich Ihnen meine berühmte Imitation Tennysons, wie er ›Tears, idle tears‹ rezitiert, vormachen.« Das tut er auch. Und wird plötzlich sehr nachdenklich. »Ach ja«, seufzte er, »ach ja. Ich weiß. All das war vor vielen Jahren, als ich jung war und noch über die Alten lachen konnte. Aber alle jungen Leute sind ohne Erbarmen. Sie werden heute abend hinaufgehen und sich hinter meinem Rücken über mich lustig machen. Später im Leben werden Sie den alten Knacker imitieren, wie er Tennyson imitiert. Und so geht das weiter.« Er seufzte tief. Und dann grinste er. »Arketall tut mir leid«, sagte er. »Der Mann gefiel mir.«

Der ›Simplicissimus‹ hat vor dem Kriege ein berühmtes Blatt von Thöny gebracht: wie deutsche Staatsmänner aussehen und wie englische Staatsmänner aussehen. Lord Curzon hatte Humor. Hermann Müller hat ein Parteibuch.

Das Buch Nicolsons ist von Cohen-Portheim übersetzt. Ich kenne das englische Original nicht; was herausgekommen ist, hat Stil und sehr viel Witz. »Ich zeigte ihm die beiden Sphinxe am Ende der Brücke[48] und erzählte ihm, wie Wilde in seinen letzten torkelnden Jahren zu behaupten pflegte . . . « Wenn übrigens ein so kenntnisreicher Stilist wie Cohen-Portheim das Wort ›irgendwie‹ verwendet, muß er seine Gründe gehabt haben. Ich kenne diese Gründe nicht, aber ich mißbillige sie. Man sollte dieses Wort erwürgen, wo immer man es antrifft.

Irgendwie bezeichnend für die deutsche Justiz ist ein gradezu vernichtendes Buch: ›Verräter verfallen der Feme‹ von E. J. Gumbel, Berthold Jacob und Ernst Falck (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin). Da bleibt einem der Atem weg.

Nämlich vor Schmerz, Wut und Trauer. Nicht so sehr, was da geschehen ist, reizt auf – das wissen wir alle. (Hier ist übrigens der einzige kleine Fehler, den ich im Buch gefunden habe. Wenn da steht, daß Carl Mertens das größte Verdienst an der Aufklärung der Fememorde zukommt, so ist das richtig. Wenn da aber nicht steht, daß er diese Aufklärung nicht hätte geben können ohne den Mut und die Zivilcourage Siegfried Jacobsohns, so ist das unvollständig. Gumbel weiß, wie es gewesen ist.) Was so aufreizt, ist die Behandlung, die diese rohesten aller Verbrechen durch die deutsche Polizei und die deutsche Justiz gefunden haben. Daß Geßler von nichts wußte . . . nun, das hat ihm nichts geschadet – so verstehen wir die Ministerverantwortlichkeit. Daß und wie aber die Richter reagiert haben, das darf denn doch wohl schändlich genannt werden. Man sehe sich diese erschütternde Liste am Schluß des sorgfältigen und ruhig geschriebenen Werkes an; bestraft ist kaum einer der Mörder, von den Anstiftern und Beteiligten sind fast alle amnestiert. Während noch Hunderte von kommunistischen Arbeitern, ja sogar noch Kriegs›verbrecher‹ aus der Kriegszeit in den Zellen sitzen, laufen diese Burschen, die gekillt haben, frei herum und lachen sich einen. Mit Recht. Die tiefe Blutsverwandtschaft zwischen diesen Richtern und allem, was Militär heißt, ist evident; man hat das ja wieder aus den letzten Prozessen gegen die Nazis gesehen. Ich habe nichts gegen Klassenjustiz; mir gefällt nur die Klasse nicht, die sie macht. Und daß sie noch so tut, als sei das Zeug Gerechtigkeit –: das ist hart. Und bekämpfenswert. Das brillant dokumentierte und sehr gut aufgemachte Werk Gumbels, scharf, klar, sauber und voller intimer Kenntnis des scheußlichen Stoffes, wird dazu mithelfen.

Wie so ein Kampf für die Arbeiterklasse geführt wird, zeigen die ›Erinnerungen an Lenin‹ von seiner Lebensgefährtin N. K. Krupskaja (erschienen im Verlag für Literatur und Politik zu Wien und Berlin). Das Buch, mit einem vorzüglichen Bild Lenins geschmückt, ist deshalb so lehrreich, weil es die unendliche Kleinarbeit aufzeigt, in der dieser russische Umsturz vorbereitet worden ist. Die Tragik, die in dem viel zu frühen Tode Lenins liegt, ist unermeßlich; nach dem Tode Stalins wird man wohl nicht so ein Büchlein erscheinen lassen[49] können. Das kleine anspruchslose Heft bildet eine sehr dankenswerte Ergänzung zu der großen Autobiographie Trotzkis.

Was hat sich da auf den Nachttisch verirrt? ›Psychologie für Vorgesetzte‹ von E. D. Smith (bei der Deutschen Verlags-Anstalt zu Stuttgart erschienen). Ich bin doch kein Vorgesetzter . . . Aber so ein Buch könnte sehr dienlich und nützlich sein. Dieses ist es leider nicht. Die amerikanischen Goldfedern sind weich; das schmiert Bücher, wie die Katzen Junge kriegen. Ein Schmarren. (Statt dessen lest lieber die gradezu aufsehenerregende Serie Kracauers in der ›Frankfurter Zeitung‹: ›Die Angestellten‹, ein breit angelegter Versuch einer wahrhaft modernen Soziologie. Ein Schritt in unbebautes Neuland, von bestem Instinkt geleitet.)

Wen wollen wir denn noch nicht loben . . . Richtig: ›Das Zille-Buch‹, herausgegeben von Hans Ostwald, unter Mitarbeit von Heinrich Zille (bei Paul Franke zu Berlin erschienen). Das ist von vorn bis hinten eine einzige Albernheit. Gott weiß, wie sie den guten alten Vater Zille in der Krankheit seines Alters dazu herumbekommen haben . . . ! Wie da die guten Witze Zilles fade und dumm aufgekocht werden; wie krampfhaft die Übergänge von einer zur andern Bildunterschrift; wie kleinbürgerlich und dümmlich das Ganze – es ist ein Jammer. Das hat Zille nicht verdient. Lest lieber seine Auswahl ›Für alle‹, die im Neuen Deutschen Verlag herausgekommen ist, Otto Nagel hat an ihr mitgearbeitet, und der Kämpfer Zille kommt darin ans Licht und wird treffend kommentiert.

Ganz zu unterst liegen auf dem Nachttisch zwei zu bejahende Erscheinungen. Ja für die eine – Jubelgeschrei für die andre.

Ja: zu ›Sexualmörder in Düsseldorf‹ von Hans Hyan (erschienen im Verlag der Neuen Gesellschaft, ohne Ortsangabe). Ein wildes Umschlagbild als erlaubte Reklame – eine ruhige und vernünftige Broschüre. Hyan ist den düsseldorfer Mordfällen nachgegangen; er wertet sie, als ein guter Kenner der Kriminalpraxis, keineswegs sensationell aus, sondern er spürt den Gründen der polizeilichen Mißerfolge nach. Diese Gründe sind: Angst vor der Publizität, Eifersucht der Ressorts, Beamtendünkel und: es fehlt eine Einrichtung, die den in Frankreich bereits vorhandenen fliegenden Kriminalbrigaden entspricht, solche, die von der Zentrale ins Land gesandt werden – und zwar mit den nötigen tatsächlichen Vollmachten und Vorrechten, die den berliner Kommissaren fehlen. Hyan spricht dann von dem Krebsschaden, der nicht nur die Kriminalpolizei angefressen hat: Vorgesetzte kommen von der Seite in die Unternehmen, fast niemals von unten. So wird der Ehrgeiz der Dienenden getötet, die nun bloß noch gleichgültig am Pult hocken, weil es »ja doch keinen Zweck hat« – die Praxis hat den Fehler des unbeirrbar stumpf sinnigen Aberglaubens an die Tüchtigkeit der ehemaligen Offiziere und der Juristen, der wahren Exponenten[50] der herrschenden Klasse. Dieser Aberglaube kostet hier Blut. Ließe man die tüchtigen Kriminalassistenten, die heute von den Oeppersten unterdrückt werden, die Leiter hinaufrücken, so belohnte man nicht nur anständige Arbeit, wie es sich gehört –: alle hätten den Vorteil davon. Aber: »Der einfache Mann, der sich von unten heraufgearbeitet, der also auch nicht studiert hat, schafft es nur in den seltensten Fällen.« Hyan verfügt über eine ausgezeichnete Personalkenntnis, die man manchem Reporter wünschen möchte – er erkennt das Gute in der preußischen Kriminalpolizei an, wo es zu finden ist, und er tadelt das Unzureichende. (Wie es in den kleinstaatlichen Polizeiverwaltungen aussieht, wird von unsern Freunden im Lande viel zu wenig beobachtet.) Fazit: Hätte die Kriminalpolizei so viel Fonds und Etatsmittel wie die Reichswehr: es sähe besser im Lande aus. Und hätte sie gar die Mittel, die diese Reichswehr vertut, statt der Reichswehr: es sähe besser in Europa aus. Hyan hat mit dieser Broschüre ein sehr verdienstliches Werk getan.

Das war das Ja. Jubelgeschrei aber über eine Neuerscheinung, die ein altes, bereits bekanntes Werk in erweiteter Form gibt. ›Oktober‹ von Larissa Reissner (erschienen im Neuen Deutschen Verlag zu Berlin). Schade, daß ich diese Besprechung nicht mit Blumen schreiben kann.

Vorangeht eine Fotografie dieser einzigartigen Frau; seht sie an und denkt euch euer Teil. Es folgen jene Abschnitte aus ihren Werken, die wir kennen und lieben: ›Die Front‹ mit den atemraubenden Schilderungen ihrer Abenteuer; wie ist das erlebt! ›Im Lande Hindenburgs‹ mit dem unfaßbaren Kapitel ›Im Lager der Armut‹, einer ganz und gar allein stehenden Studie über das Lumpenproletariat; wie ist das geschrieben! nein: erlitten! – die große Vision ›Vanderlip‹ und dann, was neu ist, einige in deutscher Sprache bisher nicht veröffentlichte Kapitel über Afghanistan.

Es ist immer wieder bewundernswert, wie diese Frau gesehen, gelebt, studiert und geschaffen hat. Es ist ein Wunder. Wenn das ein Mann geschrieben hätte, müßte man ihn krönen – um wieviel mehr eine Frau! Der fremde Staub der fernen Länder knirscht uns zwischen den Zähnen, wir riechen den Rauch, wir fühlen die Farben . . . Dabei ist der Klassenstandpunkt niemals außer acht gelassen, und niemals sitzt er aufdringlich im Vordergrund. Es geht also; man kann also auch für das Proletariat schreiben, ohne auf jeder Seite dreimal zu brüllen: »Es lebe die Weltrevolution!« – und siehe da: es ist tausendmal wirksamer als alles offizielle Geschreibe der Abgestempelten. Ich bin fest davon überzeugt: stammte dieses Buch, so wie es da ist, von einer Frau, die nicht an der roten Front mitgekämpft hätte – die Tintenrevolutionäre zerrissen sich die Mäuler, um darzutun, wie antirevolutionär das Ganze sei. Hier müssen sie schweigen. Wir aber wollen uns vor dem Buch beugen – voller Jubel, daß es da ist, voller[51] Trauer, daß Larissa Reissner nicht mehr da ist. Ich habe die alte Ausgabe halb auswendig gelernt und die neue viermal gelesen, und es wird nicht das letzte Mal sein. (Zwei Fehler; Seite 416: es heißt nicht la drapeau sondern le drapeau; Seite 412: »Sie lernten ihm, wie man Reichtum anwendet«, was hoffentlich ein Druckfehler ist.)

Diese Darstellungskunst, dieser Charakter und diese Verve sind für eine Epoche einmalig. Der Nachttisch ist leer – ich mag nach diesem Wunderwerk nichts andres mehr lesen. Larissa Reissner – Ehre ihrem Andenken.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 11.02.1930, Nr. 7, S. 248.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 46-52.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon