Auf dem Nachttisch

[76] Schweizer Nachttische sind hoch und schmal – öffne ich jetzt noch das Fenster, dann bläst mir der Wind alle Bücher herunter . . . ich öffne es aber nicht. Man sieht auch so weit hinaus ins Land . . . Herr Luginsland sieht aus dem Fenster. Woher die Leute nur immer wissen, wie die vielen Berge heißen? Monte Brie und San Salvator und Monte Pschorr . . . Und da ist ein o du himmelblauer See, und da ist etwas beschneite Bergkuppe, und oben, ja, grade da, oben auf diesen Bergen – wenn du ein Opernglas nimmst, kannst du es vielleicht sehen – da läuft die gezackelte, kleine, punktierte Grenze. Drüben liegt Italien.

Das? Das ist die italienische Enklave, wohin die Italiener immer ihre politischen Gegner locken . . . (Chor der Faschisten: »Immer! Einmal!«) – Einmal ist auch ganz schön. »Herr Rossi hat sich freiwillig auf italienisches Gebiet begeben . . . « Ich habe in Paris die junge Dame gesehen, der er damals, wie der Zufall spielt, ahnungslos und freiwillig in sein Verderben folgte. Zwanzigjährig-freiwillig. Zwanzig Jahre Zuchthaus habt ihr ihm aufgebrummt, oder waren es dreißig? So genau kommt das in Italien nicht drauf an. Fällt in Rußland ein Schuß, dann steht Europa auf dem Kopf, womit nicht gesagt sein soll, daß diese Schüsse zu bejahen seien. Quält aber Mussolini seine Italiener[76] zu Tode, so ist es still – still, von der Bank von England über die französische Börse bis zur Burgstraße. Es kommt eben immer darauf an, für wen man terrorisiert . . . Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte –

Nein, doch nicht. Egon Erwin Kisch zeigt uns, daß es hohe Zeit ist, die deutsche Straßenmeinung über Amerika zu revidieren; das Land sieht doch anders aus, als es sich auf den Vergnügungsreisen beamteter Nichtstuer präsentiert. ›Paradies Amerika‹ heißt Kischs Buch (bei Erich Reiß in Berlin erschienen). Amerika ist ein Paradies. Der Unternehmer.

E. E. Kisch hat eine Eigentümlichkeit, die ich immer sehr bejaht habe: er sieht sich in fremden Ländern allemal die Gefängnisse an. Denn maßgebend für eine Kultur ist nicht ihre Spitzenleistung; maßgebend ist die unterste, die letzte Stufe, jene, die dort gerade noch möglich ist. Wir können Griechenland nicht so sehen, wie Jacob Burckhardt es uns geschildert hat: griechische Heloten sind wichtig, mindestens so wichtig wie Praxiteles und die ewig strahlende Sonne.

Kisch hat in Amerika viel gesehen, und er hat, was er gesehen, gut erzählt, lebendig erzählt, frisch erzählt. Man hat nicht den Eindruck, er sei nun hingegangen, um auf alle Fälle in Amerika alles schlecht zu finden – aber er ist marxistisch geschult und läßt sich nichts vormachen. Nur ein Amerikaner wird beurteilen können, ob er nun auch alles ganz so gesehen hat, wie es wirklich ist – aber wie ›ist‹ ein Land? Der das Land beherrscht, wird ein andres Bild haben als der, der es erleidet; Kisch ist bei den Leidenden gewesen. Das Buch enthält eine Fülle von Material; ein Glanzstück bester Darstellungskunst ist das Kapitel von der Küstenschiffahrt nach Kalifornien. Es sind kleine Bilder aus einem großen Lande, Rohmaterial für jene gewichtigen Bücher, die die ›geistigen Strömungen eines Landes‹ untersuchen, meist, ohne daß die Verfasser die Quellen kennten. Wer eine Arbeiterbibliothek verwaltet, sollte das Buch Kischs anschaffen.

Was die gewichtigen Bücher angeht, in denen die geistigen Ströme rauschen, da hätten wir eines – aber es rauscht nicht. Robert Michels ›Der Patriotismus, Prolegomena zu seiner soziologischen Analyse‹ (bei Duncker und Humblot in München erschienen). Abgesehen von dem schauerlichen Untertitel – daß sich die Leute diese von Wichtigkeit triefenden Vokabeln nicht abgewöhnen können! –: das Thema ist das Thema des Tages; Michels hat das Thema aber so behandelt, wie wenn jemand Blümchen auf Seidenpapier stickt, die Tischdecke selbst fehlt.

Marxistische Studienräte sind keine Freude. Aber hier ist nun ein Fall, in dem doch zu sagen ist: es ist unmöglich, den Patriotismus zu verstehen, wenn man die wirtschaftlichen Zusammenhänge so vernachlässigt, wie es hier geschieht. Mit ihnen kann man diese Erscheinung nicht völlig erklären – das ist ein überheblicher Irrtum. Was ich jedoch[77] bei Michels über die so wichtige und so sehr unzulänglich entwickelte Völkerpsychologie zu lesen bekomme, ist höchst mäßig; die Gelehrsamkeit ist mit ihm durchgegangen. Michels verwahrt sich im Vorwort gegen die Annahme, er besitze einen Zettelkasten. Um so schlimmer, um so schlimmer! Er wäre eine Entschuldigung für dieses wild gewordene Material, das sich selbständig gemacht hat. Es gibt eine Art Soziologie, deren fettig-glänzendster Vertreter der unsägliche Sombart ist, eine Soziologie, die über alles und jedes klug daher redet, ohne jemals zu irgendwelchen Resultaten zu kommen. Um eines der besten Worte zu variieren, das ursprünglich auf die Philosophie gesagt worden ist: »Soziologie ist der Mißbrauch einer zu diesem Zweck erfundenen Terminologie.«

Dabei sieht Michels vieles sehr richtig. Gleich das Anfangskapitel ist sehr gut, in dem er untersucht, warum die Urform des nationalen Elitegedankens immer mythologisch ist: »Die Kausalität dieser Erscheinungen vom Mythos des Woher liegt im Geltungsbedürfnis der Nationen, dessen sie einmal zur Überwindung von Minderwertigkeitskomplexen, mit denen auch die Völker behaftet sind, also zur Genese von Vertrauen in sich selbst, bedürfen, zugleich aber auch zur Befriedigung des kollektiven Dranges nach scharfer Abhebung gegenüber den übrigen Völkern.« Er widerlegt treffend den patriotischen Expansionswahn: »Denn die Annahme von der Notwendigkeit der Idee, quia Expansionsfähigkeit, wäre gleich der Annahme, daß ein Fluß aufhöre, Fluß zu sein, sobald er der ›Notwendigkeit‹ seines Über-die-Ufer-Tretens nicht mehr unterliege.« Und dann einmal mitten ins Zentrum: »Patriotismus ist Zufriedenheit mit dem Platz, an den die Geburt den Menschen gestellt hat.« Es vernünftelt in diesem Satz; hier wird Schicksal gleich Zufall gesetzt – aber er kommt der Wahrheit doch sehr nahe. Auch in Kleinigkeiten, an denen dieses Buch leider so überreich ist, sieht Michels wie fast immer gut und klar; so, wenn er sagt: »Es gibt über den Durchschnitt hinaus sehnsuchtsbegabte Völker, Sehnsuchtsspezialisten.« Es wimmelt von sauber aufgepickten Zitaten (oh, wie schlug mein Herz, als ich las, daß Prezzolini einmal von der »schweigenden Dummheit des Hochgebirges« gesprochen hat – Protest aller Alpenvereine . . . ) alles das ist sehr hübsch und amüsant. Aber, aber –

Wie der Patriotismus gezüchtet wird und mißbraucht; wie durchaus gute und saubere Gefühle, so die Liebe zur Heimat, in eine religiöse Verehrung des Staates umgelogen werden, und von wem das arrangiert wird: davon erfahren wir nichts. Wenn ein Mann unserer Zeit ernsthaft behaupten kann, der letzte Krieg habe an »höhere Probleme, wie die der nationalen Freiheit und der Selbsterhaltung« angeknüpft, so muß man denn doch fragen, wer eigentlich in diesen freien Staaten frei ist. Die Arbeiter? Die Angestellten? Die Kleinbauern? Nicht einmal die Universitätsprofessoren sind es, wie Figura zeigt.

[78] Denn wie wäre es sonst möglich, daß in einem Werk über den Patriotismus fast ein Drittel wovon eingenommen wird? Von der ›Soziologie des Nationalliedes‹. Und wie kommt es, daß eine Frage der Kollektiv-Psychologie, der Wirtschaft, der Völker so ästhetisch-bürgerlich und brav zerläuft? Das kommt daher, daß unter dem Vorwort des Buches zu lesen steht: »Beginn Turin 1915; Schluß Rom 1928«. In Italien die Wahrheit über den Patriotismus schreiben? Man kann von einem Forscher Mut verlangen. Man kann von einem Forscher nicht verlangen, daß er Selbstmord begeht.

Da hat es René Fülöp-Miller schon leichter gehabt. In seinem als dickes Buch verkleideten Werk ›Macht und Geheimnis der Jesuiten‹ (erschienen bei Grethlein & Co., Leipzig) hätte er alles über die Jesuiten sagen können, was er gewollt hätte. Was hat er gewollt –?

Das ›Acht-Uhr-Abendblatt‹ in Berlin hat eine Art Feuilleton für die späten Abendstunden erfunden; für jene Nervosität, die aus der Müdigkeit kommt, und der Typus dieses Feuilletons hieß etwa: ›Aus den Geheimnissen der Fürstenhöfe‹. Es war gar nicht so doll mit den Geheimnissen, aber die Überschrift war gut, die kleinen fettgedruckten Sätze (» . . . Prinzessin in den Keller stieg . . . «) waren es auch, und alle Leute hatten für zwanzig Pfennig Spaß. So ungefähr ist dieses Buch über die Jesuiten.

Die laufenden Seitenüberschriften entsprechen genau jenen kleinen Fettdrucksätzen (»Die Falltüren des Pater Oven« – »Ein Ballett der Willensfreiheit«) und es bleibt:

Eine auf Konjunktur geschriebene Kompilierung sauber abgestaubten Bibliothekmaterials. »Objektivität«, steht einmal in der gar nicht genug zu lobenden Lebensgeschichte Trotzkis, »besteht nicht in gekünstelter Gleichgültigkeit, mit der eine abgestandene Heuchelei über Freund und Feind spricht.« Es wäre sicherlich ganz verkehrt gewesen, eine Lobeshymne für oder eine Streitschrift gegen die Jesuiten zu verfassen – aber über eine so streitbare Gesellschaft scheinbar ›neutral‹ zu schreiben, ist ein Unding. Diese Neutralität erinnert an die Zeit der deutschen Nachkriegs-Putsche, wo die Regierungstruppen, als es um Biegen oder Brechen ging, mitunter ›neutral‹ Gewehr bei Fuß blieben. Sie wollten es nämlich mit keinem verderben, der ihnen später die Löhnung auszuzahlen hatte – sie warteten.

Die Darstellung bei Fülöp-Miller ist ungenügend: für jemand, der nicht weiß, was eine Meditation ist, bleiben die Seiten über Loyola fast unverständlich; die geistigen Kämpfe der späteren Jesuiten spielen sich wie auf einem Gobelin ab, man versteht nicht, wie sie sich um Worte so erhitzen konnten – aber es ging ja gar nicht um Worte. Die Methode der politischen Machtergreifung durch die Jesuiten wird nicht klar, und an keiner Stelle des Werkes wird von der Ungeheuern Ziellosigkeit dieses Ordens gesprochen: was will er eigentlich? Die[79] Macht für sich? Gut; aber das ist doch kein Programm. »Ganz Rußland muß badisch werden« stand im August 1914 auf einem Eisenbahnwaggon. Kurz, es ist jene Sorte von Biographie und Kulturgeschichte, der sich das Publikum aus Verzweiflung über das Versagen der Fachwissenschaft ergeben hat: ein bunt bewegtes Kasperletheater, an dem alle ihre Freude haben. Hinten, in einer Papierfalte, liegt eine vorzügliche Bibliographie über den Jesuitismus, die man mit Nutzen studiert. Die Buch-Anlage von 576 Seiten taugt nicht viel.

Was, gegen die Kirche, erreicht werden kann, ist wenig, in Deutschland. Ein schwacher Vorstoß vernünftiger Anschauungen ist in dem Heftchen enthalten: ›Sittlichkeitsvergehen an höheren Schulen und ihre disziplinare Behandlung‹ (erschienen im Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig). Das Heftchen ist vom preußischen Kultusministerium herausgegeben worden und zeugt von dem anständigen Bestreben, wenigstens das Dümmste zu vermeiden. Es ist besser geworden.

Zunächst geht aus dem Buch hervor – was zu erwarten war –, daß es alles halb so schlimm ist. Wäre die ›Verrottung der Jugend‹, über die die Zentrumsblätter zetern, wirklich so groß, so sähe dieses Material anders aus. Da es sich um höhere Schulen handelt, so fallen hier die bittersten Folgen der Wohnungsnot und der Arbeitslosigkeit fort: von Inzest ist nicht die Rede, nicht von Jugendprostitution . . . wir bewegen uns unter besser gekleideten Ständen.

Mich hat am meisten die seelische Verfassung der Erzieher gefesselt: wieviel Ressentiment ist hier, wieviel verklemmte Jugendpubertät, die nicht fertig verkocht ist; wieviel ›Möchtegerns‹ toben sich da in Verboten und strengen Ahndungen aus . . . Im Intendanturkasino saß einmal ein Zahlmeister von uns, der war trübselig und ließ den Kopf hängen. Es war zum Gotterbarmen. »Was haben Sie denn?« fragte man ihn. »Ach . . . « sagte er. Da rief eine kräftige Kommißstimme über den Tisch – und es blieb uns nichts erspart, der Satz hieß anders, und ich gebe ihn hier fein zurechtgebügelt: »Siewers! Sie müßten mal 'n Happen lieben!« Diese Erzieher auch.

Und grade jenen Pädagogen, die bei jedem unanständigen Zettel, wie ihn Kinder, diese kleinen Pornographen, in manchen Jahren ihres Lebens anzufertigen lieben, gleich aus dem Häuschen geraten, muß gesagt werden, daß etwas in ihrem Häuschen nicht in Ordnung ist. Man soll nicht immer die Beherrschten studieren – man soll sich die Seelen der Leitenden ansehen, die da glauben, ihre wirtschaftlich und hereditär bedingten Anschauungen seien das Maß aller Dinge.

So klar sagts das Kultusministerium nicht – aber es hat doch durch seine Provinzialschulkollegien oft mildernd eingegriffen, wenn die kirchliche und gewerbsmäßig keusche Sittlichkeit hohe Bogen schlug. Man hat Kinder mit strengen Verweisen, ja sogar mit Ausschluß von der Schule bestraft, weil einmal ein Fall von mutueller Onanie festgestellt[80] wurde, von geringem Vergehen gar nicht zu reden. Solche überstrengen Erzieher beschämt das Wort eines Mädchens: »Das hört man und vergißt es.« Dieses Gutachten der Herren Hoffmann und Stern ist eine verdienstvolle Publikation. Es ist besser geworden.

Aber ist es gut geworden? Wie kann es gut sein, wenn so viel unbestrafte Verbrecher frei, mehr als frei: belohnt herumlaufen? Man denke etwa an die Mörder und Quäler der Arbeiter aus den Tagen des mitteldeutschen Aufstandes – nicht an jene, die im Bügerkrieg die Proleten offen bekämpften, sondern an: Gefangenenmißhandlungen, Bluturteile, Standgerichte und so fort und so fort. Alles, aber auch alles, was hier über diese Burschen gestanden hat, ist zu milde gewesen. Man lese solche Aufzeichnungen wie die von Ernst Ottwalt ›Ruhe und Ordnung‹ (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin). Der Verfasser hätte seine Arbeit nicht ›Roman‹ nennen sollen – es ist ein deutscher Irrtum, zu glauben, dreihundert Seiten im Erzählerton seien schon ein Roman. Es sind stilisierte Tagebuchnotizen. Aber aufschlußreich, so aufschlußreich . . .

Der Verfasser ist in den Jahren 1919 und 1920 dabei gewesen, wo es Klamauk gab, wo geschossen wurde, wo es Geld zu verdienen gab . . . frisch von der Penne herunter ist er zu jener großen Firma gelaufen, die ›Ruhe und Ordnung‹ vertrieben hat (o Geist der Sprache!) – und das schildert er. »Es ist erst elf Uhr, aber da die Straßen um acht Uhr gesperrt werden, ist nur noch in wenigen Fenstern Licht. Wir schreien trotzdem: ›Straße frei! Fenster zu! Vom Fenster weg!‹ Und das Licht geht aus. Der Mann, der vor mir geht, hebt plötzlich ohne ersichtlichen Grund sein Gewehr und schießt zu einem Haus hinauf. Ein anderer schreit: ›Da, da ist geschossen worden!‹ Und deutet auf ein geschlossenes Fenster im zweiten Stock . . . « Das muß ich schon einmal gehört haben . . . Aber es handelt sich hier nicht um Herrn Zörgiebel und seine Mannen; hier ist von ihren Vorgängern die Rede.

Man zieht übrigens aus dieser zitierten Stelle, daß die Erlebnisse von gestern in der Empfindung von heute geschrieben sind: der Verfasser hat sich von diesen Verbrechen fortentwickelt, er steht heute politisch aufgeklärt und vernünftig auf der andern Seite, und nun ist in diese Notizen ein Ton gekommen, den er damals nicht gefühlt haben wird. Schade, daß der Mann in jenen Jahren kein Tagebuch geführt hat – es wäre besser gewesen. Die Atmosphäre ist brillant wiedergegeben: die Langeweile, die das Abenteuer sucht, ganz gleich, wo; der dick aufgeblähte Nationalismus von Kerlen, die dieses Wort, das doch neben allem andern auch einen geistigen Inhalt birgt, geschändet haben – und dann einmal, wie ein Blitz, dieser Satz, der eine ganze seelische Welt enthüllt:

»Die paar Schüsse haben unsere Nerven erregt, und Ritter will jetzt in den Puff.« Man kann es nicht kürzer sagen.

[81] Und dann gehen sie auch in den Puff – Halle, Schlamm – und es öffnen sich ein paar Fenster. »Hallo, ihr kleinen Noskes, hierher!« Das muß aber schön sein für den Herrn Oberpräsidenten: so viel Ruhm . . . Die Widmung fehlt dem Buch; eine schöne, hübsch gesetzte Widmung:

UNSERN SOZIALDEMOKRATISCHEN AUFTRAGGEBERN IN DANKBARKEIT

Neulich sagte mir ein Balte: was ihm am meisten in Deutschland auffiele, sei das ›Papageiengerede‹ der Leute; wenn man sie ritzt, dann quillt aus jedem Topf ein Klischeegewäsch heraus, von dem man jeden einzelnen Satz vorher kennt. Sie haben es wohl auswendig gelernt. Nun, das Fürchterlichste an dem Buch Ottwalts ist das vorzüglich wiedergegebene Papageiengerede der jungen Herren – es ist ganz schrecklich, man kann halbe Seiten überschlagen, weil man genau weiß, was da steht. Dergleichen gibt es in Deutschland auf allen Seiten der Politik: aber hier wird es besonders deutlich.

So daß es denn also leicht sein muß, die Gesichter dieser Papageien zu zeichnen, weil der Typus klar zutage liegt. Niemand hat das besser vermocht als George Grosz. Auch dies ist etwas für die Arbeiterbibliotheken: ›Die Gezeichneten‹ und ›Das neue Gesicht der herrschenden Klasse‹ (beide im Malik-Verlag zu Berlin erschienen). Die Bände sind auch in der Reproduktion eine Meisterleistung.

Ich habe sie schon so oft durchblättert – ich kann mich gar nicht sattsehen. Dieses Thema ist zu Ende gezeichnet. Der wundervolle Hohn auf den infamen Rilke-Vers: »Armut ist ein großer Glanz von innen« (ich weiß schon: er hat es anders ›gemeint‹ . . . Haben Sie schon mal in einer Dachkammer gefroren?); dieses infernalische Blatt ›Zwei Menschen‹, das zweite: man decke den Unterteil ab und sehe sich nur den Mörder an, der sich die Hände wäscht; die Modekarikatur ›Größere und bessere Morde‹, und wie dieser Mann zeichnen kann! So eine Zeichnung wie ›Kleiner Mann‹, an der nichts karikiert ist; das frühe Blatt ›Menschenwege‹ (1915), in dem schon der ganze Grosz enthalten ist; das bittere Idyll ›Witwer‹; dann die beiden Porträts Noskes und Eberts: ›Ein treuer Knecht‹ und ›Ein Sohn des Volkes‹ – die sagen mehr als alle Broschüren und Revolutionsgeschichten über diese beiden. Auch dies ist Deutschland.

Eine kleine Anmerkung sei erlaubt. Es gibt einen Typus, einen einzigen, den Grosz für mein Gefühl nicht so wiedergibt, nicht so ausdeutet, wie er wirklich ist. Das sind der Industrielle und der Bankier. Hier stimmt etwas nicht. Den preußischen Militarismus hat er auf den Blättern ›Die Gesundbeter‹ und ›Alles kehrt einmal wieder‹ derart hergenommen . . . da ist keine uniformierte Nummer, die hier nicht zu sehen wäre – es sind alle, alle da. Und wie sind sie da –! Aber wenn er die großen Kaufleute porträtiert, dann ist da etwas nicht[82] in Ordnung. Manchmal glückts. Der Mann, der auf dem Blatt ›Besitzkröten‹ im Vordergrund seine Zijarre raucht, ist richtig; der junge Herr, der – ›Guten Morgen‹ – ins Auto steigt, ist es nicht. Vielleicht hat es in der allerschlimmsten Inflation solche Typen gegeben, aber heute dürfte dieser Mann, mit so einem Kopf, mit dem Gesicht – allenfalls Handelsvollmacht haben; in sein Auto steigt der nicht: er schafft es nicht. Ich bin mit George Grosz gut befreundet: er weiß also, daß ich dies nicht für die Hochfinanz schreibe. Ich meine nur: um einen Gegner so zu treffen, wie er das mit den Feldwebeln in Generalsuniform getan hat, muß man den Gegner kennen und ihn bis ins letzte Fältchen treffen. So verfressen, so dickschädlig, so klobig sehen aber die deutschen Bankiers nicht aus, die IG-Farben-Leute nicht, die Hüttenbesitzer nicht. Sie sammeln Porzellan; sie haben zum Teil schmalere Köpfe; sie sind als Teilhaber eines Systems, was die Wirkungen ihrer Handlungen angeht, unmenschlich – aber man sieht es ihnen nicht auf den ersten Hieb an. Sie bevölkern Reinhardts Premieren, sie wählen Deutsche Volkspartei . . . sie sehen anders aus. Differenzierter, drei Rasternummern feiner; nicht besser: anders. Wie sehen sie aus –?

Das kann man in einem der schönsten und merkwürdigsten Werke ersehen, die mir je untergekommen sind. August Sander, ›Antlitz der Zeit‹ (erschienen im Transmare-Verlag, Kurt Wolff, München). Hier ist die fotografierte Kulturgeschichte unseres Landes.

Sander hat keine Menschen sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, daß das Individuum für die Gruppe genommen werden darf. Döblin weist in der Einleitung sehr treffend darauf hin, wie der Tod und die Gesellschaft die Gesichter verflachen; wie sie einander angeähnelt werden, immer mehr, immer mehr . . . wie schwer es ist, noch ein Bauernmädchen von einer Proletarierfrau zu unterscheiden. Was Sander da gegeben hat, ist allerbeste Arbeit.

Das Werk enthält sechzig Fotos, eine Auswahl aus dem Lebenswerk des Fotografen, das in fünfundvierzig Mappen zu je zwölf Bildern erscheinen soll. (Wer Näheres wissen will, schreibe unverbindlich an den Transmare-Verlag, München, Luisenstraße 31.) Fast auf allen Bildern erscheint der Typus; so sehr haben Stand, Beruf, Wohnort, Klasse und Kaste den Menschen imprägniert und durchtränkt. Mancher von uns wird manchmal eine Spur anders empfinden: der Herr Wachtmeister muß nicht immer so einen martialischen Schnurrbart tragen, das ist der puffende Wachtmeister, nicht der schießende Wachtmeister; Poelzig ist nicht ›der Architekt‹, sondern ein einmaliges Original . . . aber das sind nur kleine, winzige Nebenempfindungen. Auf den sechzig Seiten ist nur ein einziges Mal die Grenze der Objektivität überschritten: das ist auf dem Bilde des Demokraten, der seinen[83] Regenschirm aufgepflanzt hat. Ich habe sehr gelacht, und treffen tuts auch, aber das ist zu deutlich. Der Satiriker darf dergleichen, und wenn noch so viel auf die Hühneraugen Getretene darüber schreien – der Sittenschilderer darf es nicht. Und in diesem Werk kann Grosz sehen, wie die Bankiers und die Industriellen aussehen: er hat in diesem Bande zum Beispiel gleich zwei Typen: den Viereckigen und den Schmalen, beides Prachtexemplare ihrer Gattung, völlig rein im Gattungsbegriff, die Gesichter durch ihren Beruf zu Ende ausgebildet. Und selbstverständlich durch Karikatur angreifbar und wert, angegriffen zu werden. Es ist ein ganz herrliches Buch – schade, daß es nicht achtzehnfach so dick ist.

Jetzt ist der Nachttisch leer; in der Ecke steht ein Waschkorb mit Büchern und sieht mich vorwurfsvoll an. Schon elf Uhr . . . Draußen glitzert das Dorf. In einem Zellenkäfig, drüben, hinter der italienischen Grenze, liegt ein Mann und betet ein stilles Gebet für die Gesundheit und das Wohlergehen Mussolinis.


  • [84] · Peter Panter
    Die Weltbühne, 25.03.1930, Nr. 13, S. 466.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975.
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