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[99] Ein katholischer Pfaffe wandelt einher, als wenn ihm der Himmel gehöre; ein protestantischer Pfaffe hingegen geht herum, als wenn er den Himmel gepachtet habe.
Heine
Wenn im folgenden von der ›Kirche‹ die Rede ist, so wird damit von den politischen Gruppen gesprochen, die, unter Benutzung von Gottesdiensten, mit Berufung auf ältere theologische Schriften und durch geistliche Agenten Politik machen. Das ist ihr Recht. Keinesfalls aber ist es ihr Recht, sich allemal dann, wenn diese Politik angegriffen wird, hinter der vorgeblichen Heiligkeit ihrer Bestrebungen zu verkriechen und so für sich und ihre Leute ein Ausnahmerecht zu statuieren. Solange der kirchliche Gnostiker seinen Menschenbruder auf den Tod vorbereiten will, wird sich jeder geschichtlich geschulte Denker vor der ungeheuren Masse von Erfahrung, philosophischem Wissen und metaphysischer Bestrebung beugen, die in den Schriften der Kirche, besonders in denen der katholischen Kirche, angehäuft sind. Im Augenblick[99] aber, wo die Kirchen in den politischen Tageskampf eintreten, müssen sie sich gefallen lassen, genau wie jede andre politische Gruppe beurteilt und kritisiert zu werden. Einen Anspruch auf eine Sonderstellung haben sie nicht. Kein Staatsanwalt kann daran etwas ändern.
Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf daß ihnen niemand entwische. »Wir auch, wir auch!«, nicht mehr, wie vor Jahrhunderten: »Wir.« Sozialismus? Wir auch. Jugendbewegung? Wir auch. Sport? Wir auch. Diese Kirchen schaffen nichts, sie wandeln das von andern Geschaffene, das bei andern Entwickelte in Elemente um, die ihnen nutzbar sein können.
Wohin geht die Jugend am Sonntag? In die Kirche? Nein: auf die Sportplätze. Die Geistlichen warteten in ihren leeren Kirchen; es kam niemand. Da erhoben sie die Soutanen und Talare und wandelten ernsten Schrittes hinaus auf die Sportplätze, und sie lehrten dorten das Wort Gottes inmitten der Sprungseile und der Wurfkugeln. Mohammed war zum Berge gekommen. Das wäre den Herren früher als eine Ketzerei erschienen; die Kirche hat nachgegeben; sie hat sich nicht gewandelt, sie ist gewandelt worden.
Die Protestanten: »›Sportpredigten und Sportansprachen‹, herausgegeben von Gerhard Kunze, Studentenpfarrer in Leipzig« (erschienen bei C. Ludwig Ungelenk in Dresden). Das ist eine recht armselige Sache.
Lobend mag angemerkt werden, was diese Schrift nicht ist: sie ist keine nach kaltem Tabak riechende Muckerei. Dieser Prediger sieht seine Zeit so, wie sie ist – er sieht sie nur erschreckend flach, und aus jenem herbstlichen Kartoffelfeuer, das einmal in Luther gebrannt hat, ist eine sanft regulierte Zentralheizung geworden. »Wenn die protestantische Religion«, steht bei Heine, »keine Orgel hätte, wäre sie überhaupt kein Religion.« Ob es sich nun um Gleichzeitigkeit oder Beeinflussung handelt: die kleine Schrift erinnert fatal an das Unsäglichste, was an Religion zur Zeit auf diesem Erdball hergestellt wird: an die Clownerien amerikanischer Pfaffen, die ja wohl das Äußerste und Letzte an Entwürdigung der Religion leisten.
Der Pfarrer Kunze hat zunächst andre Sorgen. »Der Inhalt der Verkündigung an Sport und Sportler kann kein andrer sein als das Evangelium selbst. Die Gefahr heidnischer Idealisierung in ›christlicher‹ Verbrämung liegt besonders nahe.« Ach nein – sie liegt leider gar nicht nahe. Wären die Herren noch heidnisch! Aber tausend einexerzierte Bankbeamte und Warenhausverkäufer, die im freien Sonnenlicht Stabübungen machen, sind noch lange nicht heidnisch – das ist ein Irrtum. Nun, im Vorwort gehts sehr philosophisch zu, aber schon hier springt die irre Furcht der Kirche in die Augen: Nur nicht zurückbleiben! nur[100] mit der Zeit gehen! wir auch! wir auch! Und so tritt sie denn zur Predigt an.
»Kommandorufe, Predigt beim Eichenkreuz-Bezirksturnfest in Mettmann.« Diese Predigt beginnt folgendermaßen: »Kehrt marsch! Stillgestanden! Richt euch! Rührt euch! Kommandorufe tönen über den weiten Turnplatz, und alsbald wenden sich die marschierenden Abteilungen . . . Ihr Turner seid mit Lust dabei. Auch in dieser Stunde hören wir Kommando. Der Ruf Gottes wendet sich . . . «
In einem medizinischen Prüfungskollegium saß einmal ein Zoologe, der war dafür berüchtigt, nur über sein Spezialfach, die Würmer, zu prüfen. Eines Tages aber stieß ihn der Bock, und er fragte einen nichtsahnenden Kandidaten etwas von den Elefanten. »Der Elefant«, sagte der Kandidat nach kurzem Nachdenken, »frißt so gut wie gar keine Würmer. Die Würmer . . . « So auch dieser Pfarrer.
Und was er dann nach den kleinen Kunstgriffen der Einleitungen seinen jungen Leuten zu sagen hat, das ist leer, platt und, da die Orgel fehlt, überhaupt keine Religion. Es sind, wenn man genauer hinsieht, Leitartikel vernünftiger Demozeitungen, brave Allgemeinplätze, Ermahnungen zur Fairness, zum anständigen Leben, hygienische Mahnungen, mit seinem Körper kein Schindluder zu treiben – alles sehr beherzigenswerte und mäßig formulierte Ansprachen. Aber was das mit einem Glauben, mit der Kirche, mit der Religion zu tun hat –: das geht aus dem Bändchen nicht hervor. Diese Kirche wird sich sehr dranhalten müssen, wenn sie der Konkurrenz des großen Bruders und der zahlreichen kleinen Sektenbrüder nicht erliegen will.
Der große Bruder – der Katholizismus – fängt das nun schon ein wenig anders an. »›Brautunterricht, Eine praktische Einleitung für den Seelsorgsklerus‹. Von Doktor Karl Rieder, Pfarrer in Reichenau« (erschienen bei Herder & Co. in Freiburg im Breisgau). Kratze das Heiligenbildchen, und du findest den Stimmzettel.
Über die Auffassung der Ehe, wie sie in diesem von der kirchlichen Behörde gut geheißenen Heftchen dargetan wird, kann man diskutieren. Ich kann nicht in den Chorus jener miteinstimmen, die in jedem kirchlich denkenden Menschen einen schwachsinnigen Reaktionär sehen; so einfach wollen wir uns den Kampf nicht machen. Es ist sehr wohl möglich, daß ein katholisch erzogener Mann mit seiner Lebensgefährtin in der Ehe jenes Sakrament sieht, von dem die Kirche spricht; wenn ihr Glaube, der nicht vom Himmel gefallen, sondern der geschichtlich gewordene Ausdruck einer Klasse ist, sich als stärker erweist als unsre ökonomischen Verhältnisse, so mögen das diese Menschen mit sich abmachen. Vielleicht sind sie sehr glücklich, auch dann noch, wenn ihre Ehe es nicht ist. In diesem Heft wird nicht gemuckert; der Geschlechtsverkehr in der Ehe wird vernünftig abgehandelt, bis auf einen – den entscheidenden Punkt. Und hier allerdings ist kein Wort[101] zu scharf, um eine Propaganda abzuwehren, die unendliches Unheil über die Leute bringt.
Wenn ein Pfarrer, der das Leben zu kennen hat, in so einer Unterrichtsstunde für angehende Frauen allen Ernstes den Satz proklamiert: »Besser zehn Kinder auf dem Kissen als nur eines auf dem Gewissen« – so darf man ihn denn doch fragen, ob er nicht weiß, daß es Zehntausende von deutschen Familien gibt, die dieses Kissen überhaupt nicht besitzen. Es ist wie ein Hohn, den Sklaven der Fabriken und der Hütten, der Warenhäuser und der Mänteljunker zu predigen: »Es müssen darum die Eheleute entweder die Eherecht gebrauchen, so daß Gott die Empfängnis eines Kindes daran knüpfen kann, oder aber die Eheleute müssen wie Bruder und Schwester vollständig enthaltsam leben ohne Befriedigung der sinnlichen Lust.« Was also darauf hinauslaufen dürfte, daß der Generaldirektor eines chemischen Betriebes der sinnlichen Lust frönen darf, weil er die Kissen für die Kinder besitzt, die er nicht auf dem Gewissen haben soll – daß hingegen seine Arbeiter ihre Frauen nur heiraten dürfen, um nach dem zweiten Kind brüderlich neben ihr zu liegen. Armut ist ein großer Glanz von innen . . .
Hier fehlt die wirtschaftliche Betrachtungsweise ganz; die kapitalistische Weltordnung wird als ›göttlich‹ gegeben, dagegen auflehnen darf man sich, wie wir gleich hören werden nicht, und daher haben Mann und Frau auf eine Betätigung zu verzichten, die doch von einer Macht gegeben ist, die die Katholiken so gern im Mund führen: vom Naturrecht. Das gilt hier nicht.
Der Brautunterricht, der hier erteilt wird, ist politisch. Daß die Ziviltrauung nur zähneknirschend angeführt wird, versteht sich von selbst. Ja, es gibt sie . . . ja, gewiß . . . »Vor Gott und euerm Gewissen seid ihr aber durch die standesamtliche Trauung noch nicht Eheleute. Denn das heilige Sakrament der Ehe ist nur der Kirche zur Verwaltung übertragen worden, nicht dem Staate. Die Kirche allein bestimmt darüber, wie die Ehe rechtmäßig und gültig eingegangen werden kann.« Was in dieser Form falsch ist.
Ganz klar und eindeutig aber wird an einer Stelle die Rolle des als Geistlichen verkleideten politischen Agenten:
»Katholischen Geist atme die Zeitung, die in euerm Hause gelesen wird, da es gegen den katholischen Glauben verstößt, neutrale oder gar kirchenfeindliche Zeitungen zu unterstützen. Das gleiche gilt auch von den Büchern, die im Hause gelesen werden. Katholisch sei der Umgang in der Zugehörigkeit zu den katholischen Vereinen, da es jedem Katholiken verboten ist, Organisationen oder Vereinen anzugehören, welche« – hör gut zu! – »den Klassenkampf oder das Machtprinzip oder einen heidnischen Nationalismus auf ihre Fahne geschrieben haben oder das wirtschaftliche Leben loslösen wollen von den Grundsätzen des Christentums mit dem Schlagwort: Religion ist Privatsache.«
[102] Da haben wir sie ganz.
Abgesehen von der Komik, die darin liegt, daß eine auf der schärfsten Autorität und Unterordnung ruhende Organisation das ›Machtprinzip‹ als solches ausschließt und nur das Prinzip jener Macht verbieten will, die nicht von ihr selber ausgeht –: hier haben wir sie ganz. Es ist Politik, die so gemacht wird, klare, eindeutige Tagespolitik. Und nicht nur gegen diese Politik wenden wir uns.
Wir wehren uns dagegen, daß eine politische Gruppe, ohne die in Deutschland zur Zeit nicht regiert werden kann, sich allemal dann kreischend hinter den Staatsanwalt flüchtet, wenn ihr der politische Kampf unbequem wird. Man kann spielen, aber man soll beim Spiel nicht mogeln. Entweder ihr macht Politik, wie die Kommunisten, wie die Nazis, wie die Deutsche Volkspartei, und das tut ihr –: dann müßt ihr euch gefallen lassen, genau so umstritten zu werden wie jene. Ihr wollt nicht das Kreuz umschrien haben? Dann müßt ihr es nicht im politischen Kampf schwingen. Wer will euch ans Kreuz? Die politischen Gegner wollen euch an den Stimmzettel, den ihr mit dem Kreuz deckt. Und ihr habt nicht das Recht, eure moralischen Forderungen, die weder im Naturrecht basieren noch von Gott gegeben sondern Menschenwerk sind, andern aufzudrängen, die sie aus ebenso reinlicher Überzeugung ablehnen, wie ihr sie statuiert. Nicht die Gebundenheit ist das primäre – die Freiheit ist es.
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