Neuntes Capitel.
Das Wrack.

[44] Man muß gestehen, daß Doctor Dean Pitferge's Nachrichten gerade nicht sehr beruhigend waren; unsere weiblichen Passagiere würden ihm nicht ohne ein leises Grauen zugehört haben. Sollte all dieses ein Scherz sein, oder sprach er in vollem Ernst, und verhielt es sich wirklich so, daß er alle Fahrten des Great-Eastern mitmachte, um irgend einer Katastrophe mit beizuwohnen? Einem excentrischen Mann ist Alles zuzutrauen, und ganz besonders wenn er ein Engländer ist.

Das Dampfschiff setzte jedoch seine Fahrt fort, indem es zwar rollte wie ein Kähnchen, aber ohne irgend welche Störung die loxodromische Schneckenlinie der Dampfboote bewahrte. Bekanntlich ist zwischen zwei Punkten auf einer ebenen Fläche die gerade Linie der kürzeste Weg; auf einer Kugel ist es die durch die Peripherie der größten Kreise gebildete Curve. Die Schiffe haben also, um ihre Fahrt abzukürzen, ein Interesse daran, diesen Weg einzuschlagen, wenn auch die Segelschiffe, sofern sie conträren Wind haben, diese Linie nicht inne halten können. Ganz Herr ihres Willens in dieser Beziehung sind nur die Steamer, und diese nehmen den Weg der[44] größten Kreise, wie auch jetzt der Great-Eastern, indem er etwas nach Nord-Westen hielt.

Das Rollen legte sich nicht, und die ebenso schauerliche als ansteckende Seekrankheit machte rasche Fortschritte. Einige Passagiere mit blassen, blut leeren Gesichtern und hohlen Wangen blieben noch auf dem Verdeck, um frische Luft zu athmen; Alle aber ohne Ausnahme waren im höchsten Grade zornig über das unglückliche Steamschiff und die Société des affréteurs, auf deren Prospectus ausdrücklich gestanden hatte: »Seekrankheit an Bord unbekannt.«

Es war andern Morgens gegen neun Uhr, als auf drei oder vier Meilen Backbord ein Gegenstand signalisirt wurde; ob es ein Wrack, ein Wallfisch oder ein Schiffsrumpf sei, konnte man noch nicht unterscheiden. Auf dem Dach des Vorderdecksaales stand eine Gesellschaft der kräftigsten Passagiere und beobachtete mit aufmerksamem Interesse diese Trümmer, die mindestens dreihundert Meilen von der nächsten Küste entfernt schwammen.

Inzwischen hatte der Great-Eastern nach dem fraglichen Gegenstande hingehalten; die Ferngläser richteten sich danach, und unter den Amerikanern und Engländern, denen jeder Vorwand hiezu gelegen ist, wurden Wetten über Wetten angeboten und abgeschlossen, deren Einsätze immer höher wurden, je näher wir kamen. Unter diesen enragirt Wettenden bemerkte ich auch einen schlank gewachsenen Mann, in dessen Physiognomie mir ein so entschiedener Zug widerwärtigster Falschheit auffiel, daß weder ein Physiognom noch ein Physiologe nur einen Augenblick hierüber im Unklaren gewesen wäre. Das Auge schaute verwegen und doch zerstreut, die Stirn legte sich quer in eine eigenthümliche Falte, die Braunen stießen fast aneinander, der Blick hatte einen wirklich grausamen Ausdruck; seine Schultern waren hoch, und den Kopf trug er etwas in den Nacken zurückgebogen. Kurz, alle Indicien einer seltenen Schurkerei und Unverschämtheit schienen in dieser Person ihre Vereinigung gefunden zu haben. Obgleich mir der Mann außerordentlich mißfiel, fragte ich mich doch unwillkürlich: »Wer mag das sein?« Ich beobachtete ihn, und bemerkte, daß er laut und in einem Ton sprach, der eigentlich schon an sich etwas Beleidigendes hatte. Einige der würdigen Kumpane, die ihn umstanden, lachten über seine seichten Späße und entrirten bedeutende Wetten gegenüber seiner Behauptung, daß das vermeintliche Wrack ein Wallfischrumpf sei.

Es wurde von seiner Seite jedes Mal auf mehrere hundert Dollars parirt, und er verlor durchweg. Unser Steamer fuhr mit großer Schnelligkeit[45] auf den betreffenden Gegenstand zu; wir erkannten in ihm einen Schiffsrumpf, und zwar einen seiner Masten beraubten Dreimaster, der auf der Seite lag; sein mit Kupfer beschlagener Kiel war mit Grünspan bedeckt, an seinen Rusten hingen zerrissene Püttinge, und sein Gehalt wurde auf fünf- bis sechshundert Tonnen geschätzt.

War dies Schiff von seiner Bemannung verlassen? Das war die Frage, oder um den englischen Ausdruck anzuwenden, »the great attraction« des Augenblicks. Hatten die Schiffbrüchigen sich vielleicht in das Innere des Wracks geflüchtet? es zeigte sich keine menschliche Seele. Durch mein Fernglas glaubte ich jetzt zu erkennen, daß sich irgend etwas auf dem Vordertheil des Schiffes bewegte, aber gleich darauf sah ich, daß es ein Rest des Klüvers war, den der Wind hin und her trieb.

Endlich in einer halben Meile Entfernung wurden alle Einzelheiten des Rumpfes sichtbar; das Schiff war neu und in vollständig gut erhaltenem Zustande gewesen; seine Verladung, die unter dem Winde abgerutscht war, ließ es nach der Steuerbordseite hängen. Augenscheinlich hatten in einem sehr kritischen Moment seine Masten geopfert werden müssen.

Der Great-Eastern war jetzt nahe herangekommen und umkreiste das defecte Fahrzeug; er signalisirte seine Gegenwart durch zahlreiche Pfiffe, so daß die Luft förmlich davon zerrissen wurde, aber auf dem Wrack blieb Alles stumm und verödet. Nicht ein Boot befand sich an den Seiten des Schiffes, und soweit das Auge den vom Horizont umgrenzten Meeressaum überschauen konnte, auch nicht das Geringste in Sicht.

Ohne allen Zweifel hatte die Mannschaft Zeit gehabt, zu entkommen; hatte sie aber das dreihundert Meilen entfernte Land erreichen können? Konnten gebrechliche Kähne den Wogen widerstehen, die den Great-Eastern so arg hin und her warfen? Und wie lange Zeit war seit der Katastrophe verflossen? Konnte nicht auch der eigentliche Schauplatz des Schiffbruchs bei dem jetzt herrschenden Winde weiter im Westen sein? War dieser Rumpf nicht schon seit geraumer Zeit unter dem Einfluß aller möglichen Strömungen und Brisen umhergetrieben? Alle diese Fragen entzogen sich jeder Beantwortung.

Als unser Dampfer an dem Hintertheil des desolaten Fahrzeuges hinstrich, las ich deutlich auf seinem Spiegel den Namen »Lerida«, aber eine Bezeichnung seines Anlegehafens war nicht vorhanden. Die Matrosen an[46] Bord erklärten, daß seine erhabene Form und das eigenthümliche Ueberschießen des Vorderstevens auf einen amerikanischen Bau schließen lasse.

Ein Kauffahrtei- oder Kriegsschiff hätte nicht gezögert, den Rumpf mit seiner jedenfalls sehr werthvollen Ladung zu bemannen, da die Seegesetze unter solchen Umständen den Bergern ein Drittel des Werthes zusprechen, aber der Great-Eastern hatte einen regelmäßigen Dienst zu versehen und konnte deshalb nicht einige Tausend Meilen weit dieses Wrack in's Schlepptau nehmen; ebenso unmöglich war es, noch einmal umzukehren und es in einen sicheren Hafen zu geleiten. Man mußte das Schiff, zum großen Bedauern der Matrosen, seinem Schicksal überlassen, und bald sah man nichts weiter von ihm, als einen großen, schwarzen Punkt am Horizont, der kleiner und kleiner wurde und nach und nach ganz verschwand. Die Passagiere gingen theilweise in die Säle, theilweise in ihre Cajüten zurück, und konnten nicht einmal durch die Lunchtrompete aus ihrem Schlaf oder aus der tiefen Niedergeschlagenheit der Seekrankheit erweckt werden.

Gegen zwölf Uhr ließ Kapitän Anderson die beiden Focksegel und das Besansegel beisetzen, und das so besser geschützte Schiff fuhr jetzt ruhiger. Die Matrosen machten auch einen Versuch, das auf seinem Giekbaum eingerollte Briggsegel nach einem neuen System aufzustellen, aber es war dies jedenfalls »zu neu«, denn es gelang absolut nicht, das Segel auf diese Weise nutzbar zu machen, und so blieb es die ganze Reise über ungebraucht.

Quelle:
Jules Verne: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 44-47.
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