Zwanzigstes Capitel.
Ellen. – Die Lootsen-Pause. – Der Mormonen-Prediger.

[84] Für Corsican und mich war kein Zweifel mehr möglich, wir hatten Ellen, die Verlobte Fabian's, die Frau Harry Drake's gesehen. Wie wunderbar, daß diese drei Personen hier vom Schicksal zusammengewürfelt waren! Und doch, obgleich Fabian sie einen Augenblick wiederzuerkennen meinte, hatte er ihre Erscheinung gleich darauf für ein Phantasiegebilde gehalten und glaubte nicht an ihre Gegenwart. In einer Beziehung aber täuschte er sich nicht; er hatte gerufen: »Eine Wahnsinnige!« und irrsinnig war sie. Schmerz und Verzweiflung über ihre getödtete Liebe, über ihre Verbindung mit dem unwürdigen Mann, der sie Fabian entrissen, der gänzliche Einsturz ihres Glücks hatten den armen Geist gestört.

Am andern Morgen sprach ich hierüber mit Hauptmann Corsican; über die Indentität der jungen Frau war auch er im Klaren, es war Ellen, die von ihrem Gatten nach dem amerikanischen Continent geschleppt wurde, und die er auch dort in sein abenteuerliches Dasein mit verflechten wollte. Des Hauptmanns Blick flammte düster auf, als er hieran dachte, und auch ich fühlte, wie mein Herz sich bei dieser Erwägung wild aufbäumte. Was vermochten wir Beide gegen den Gatten, ihren Gebieter? – Nicht das Geringste!

Wenn Fabian Ellen wiedersah, würde er jedenfalls seine Verlobte erkennen und die Katastrophe herbeiführen, die wir so gern vermieden hätten.[84]

Jedenfalls also mußte es unser Bestreben sein, ein neues Begegniß zwischen ihnen zu verhindern. Es schien jedoch, als sei ein Wiedersehen der beiden unglücklichen Menschen nicht zu befürchten; Ellen erschien weder während des Tages noch am Abend auf dem Verdeck oder in den Salons; nur in tiefster Nacht mochte sie ihrem Kerkermeister entrinnen, um ihr armes Haupt in feuchter Luft zu baden und in dem kühlen Seewinde Linderung ihres Geschicks zu suchen.

In vier Tagen spätestens mußte der Great-Eastern das Fahrwasser von New-York erreicht haben, und so konnten wir uns der Hoffnung hingeben, daß der Zufall unsere Pläne nicht vereiteln, und Fabian über Ellen's Gegenwart auf dem Schiffe in Unwissenheit bleiben würde. Diese Annahme sollte sich jedoch als trügerisch erweisen.

Das Dampfschiff hatte seine Richtung während der Nacht etwas verändert, da die Wasserproben drei Mal nur eine Temperatur von siebenundzwanzig Grad Fahrenheit, d.h. drei bis vier Grad Celsius unter Null ergaben. Man konnte die Nähe bedeutender Eisbänke nicht länger in Zweifel ziehen, und so war der Great-Eastern südlicher gegangen. Wirklich hatte der Himmel heute einen eigenthümlichen Glanz, die Atmosphäre war förmlich weiß, und der ganze Norden flimmerte, wie uns schien, von einer intensiven Rückstrahlung der Eisberge.

Eine scharfe Brise durchschnitt die Luft, und gegen zehn Uhr stäubten plötzlich kleine seine Schneeflöckchen auf das Schiff hernieder. Dann stieg eine Nebelbank empor, in der wir unsere Gegenwart durch wiederholtes Pfeifen signalisirten. Flüge von Möven, die auf den Raaen des Great-Eastern Ruhe gesucht hatten, wurden durch dies betäubende Geräusch aufgestört und flatterten wild davon.

Um halb elf Uhr, als der Nebel sich klärte, erschien am Horizont ein Schraubendampfer an Steuerbordsseite. Der weiße Ausläufer seines Schornsteins zeigte an, daß er der Juman-Gesellschaft, die den Auswanderer-Transport von Liverpool nach New-York besorgt, angehörte. Das Fahrzeug schickte uns seine Nummer, es war der »City of Limerick« von 1530 Tonnen Gehalt und zweihundertsechsundfünfzig Pferdekraft. Er hatte New-York am Sonnabend verlassen und befand sich demgemäß im Rückstande.

Vor dem Lunch organisirten einige Passagiere eine Poule (Einsatzspiel), die den Spiel- und Wettliebenden höchst willkommen war, das Resultat des[85] Spieles sollte erst nach vier Tagen bekannt gemacht werden, es war dies die sogenannte Lootsen-Poule. Es ist allgemein bekannt, daß, wenn ein Schiff auf der Höhe der Landfalling ankommt, ein Lootse an Bord steigt. Nun theilt man die vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht nach der Zahl der Passagiere in achtundvierzig halbe oder sechsundneunzig Viertelstunden ein. Jeder Spieler setzt einen Dollar, und das Loos theilt ihm eine dieser halben oder Viertelstunden zu. Derjenige, in dessen Viertelstunde nun der Lootse den Fuß auf das Schiff setzt, hat die achtundvierzig oder sechsundneunzig Dollars gewonnen. Das Spiel ist, wie man sieht, sehr einfach; man hat es nicht mehr mit einem Pferderennen, sondern mit einem Viertelstundenrennen zu thun.

Der ehrenwerthe Mac Alpine, ein Canadier, nahm die Direction des Ganzen in die Hand. Bald hatten sich sechsundneunzig Wetter und unter ihnen sogar einige Wetterinnen gefunden (welche Letzteren übrigens nicht am wenigsten spieleifrig waren), und auch ich folgte dem allgemeinen Strom, setzte meinen Dollar und erhielt die vierundsechzigste Viertelstunde zugetheilt. Das war nun allerdings eine schlechte Nummer, die mir nicht viel nützen konnte. Die Zeiteintheilung wird nämlich von einem Mittag zum andern gemacht, es giebt folglich Tages- und Nachtviertelstunden. Die Letzteren sind so gut wie von gar keinem Werth bei dieser Angelegenheit, denn nur selten wagen sich die Schiffe in der Dunkelheit auf die Landfalling, und so sind die Chancen für die Aufnahme eines Lootsen während der Nacht sehr gering. Ich ergab mich jedoch leicht in mein Schicksal.

Als ich wieder in den Salon hinabstieg, sah ich, daß für den Abend eine Vorlesung angekündigt war. Der Missionär aus Utah wollte über den Mormonismus sprechen, und so schien sich eine günstige Gelegenheit zu bieten, in die Mysterien der Stadt der Heiligen einzudringen.

Uebrigens sollte der Elder, Mr. Hatch, die Gabe der Rede in hohem Grade besitzen und, wo er sprach, hinreißen und überzeugen. Die Ankündigung (wie gewöhnlich durch Anschlag bewerkstelligt) erfreute sich von Seiten der Passagiere einer sehr günstigen Aufnahme.

Das Besteck hatte folgende Ziffern ergeben:


Lat. 42°32' N.

Long. 51°59' W.

Course: 254 miles.
[86]

Gegen drei Uhr Nachmittags wurde von den Steuermännern die Annäherung eines großen Steamers mit vier Masten signalisirt, der alsbald seinen Curs ein wenig änderte, um dem Great-Eastern seine Nummer abzugeben. Auch unser Kapitän ließ auf den Dampfer hinhalten, und dieser schickte uns seinen Namen. Es war die »Atlanta«, eins der großen Fahrzeuge, die den Dienst von London nach New-York versehen und in Brest anlaufen. Es sandte uns seine Grüße zu, und wir erwiderten dieselben, kurze Zeit nachdem das Schiff Bord an Bord mit uns gefahren war, verloren wir es aus den Augen.

Gleich darauf trat Pitferge zu mir, um mich höchst mißvergnügt zu benachrichtigen, daß Mr. Hatch die Vorlesung nicht halten würde, da die Puritanerinnen an Bord entschieden dagegen protestirten, daß ihre Ehemänner einen tieferen Einblick in die Geheimnisse des Mormonismus erhielten.

Quelle:
Jules Verne: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 84-87.
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