[92] Während der Nacht von Freitag auf Sonnabend segelten wir durch den Lauf des Golfstroms, dessen dunkle, warme Gewässer sich scharf von den um gebenden Wasserschichten abgrenzten. Die Oberfläche dieses Stroms, der sich zwischen den Fluthen des Atlantischen Oceans hinzieht, ist sogar ein wenig convex; es ist also im eigentlichsten Sinne ein Strom, der zwischen zwei flüssigen Ufern dahinfließt, und zwar einer der bedeutendsten unseres Erdballs, denn der Amazonenstrom oder Mississippi würden mit ihm verglichen wie kleine Bäche erscheinen. Das in der Nacht geschöpfte Wasser war von siebenundzwanzig Grad Fahrenheit auf einundfünfzig Grad gestiegen, was zwölf Grad Celsius ausmacht.
Dieser Tag, der fünfte April, begann mit einem herrlichen Sonnenaufgang, den die Wogen aufs Köstlichste zurückstrahlten; eine warme Südwestbrise schwellte die Segel und wehte die ersten schönen Frühlingstage heran; auf dem Continent bekleideten sich jetzt wohl Wälder und Felder mit frischem Grün[92] – bei uns lockte die Sonne nur frische Toiletten hervor; ob auch hier und da auf unserer Erde die Vegetation zurückbleibt, der Mode wird dieser Vorwurf wohl nirgends zu machen sein!
Bald fanden sich auf den Boulevards zahlreiche Gruppen von Spaziergängern ein, und ich mußte unwillkürlich an die Champs-Elysées denken, die Sonntags bei so freundlicher Maisonne einen ähnlichen Anblick gewähren.
Während des Vormittags konnte ich Hauptmann Corsican nicht erspähen, und da es mich drängte, Nachricht von Fabian zu haben, ging ich nach der Cajüte, die er nahe am großen Saale bewohnte.
Ich klopfte an, erhielt aber keine Antwort, endlich machte ich die Thür auf und schaute hinein – Fabian war nicht im Zimmer.
Es blieb mir nichts übrig, als wieder auf's Verdeck zu steigen und unter den Spaziergängern nach meinen Freunden zu suchen, aber weder sie noch der Doctor waren dort zu finden.
Als ich so ziellos auf- und abpromenirte, kam mir der Gedanke, wo die unglückliche Ellen verborgen sein mochte, welche Cajüte ihr von ihrem Gatten angewiesen war. Welchen Händen war die Unglückliche wohl anvertraut? denn daß ihr unwürdiger Gatte sie ganze Tage lang verließ, stand außer Zweifel. Wahrscheinlich stand sie unter der Obhut irgend einer bezahlten Krankenwärterin oder Kammerfrau. – Nicht aus eitler Neugier, sondern aus wahrem Interesse für Ellen's und Fabian's Geschick stieg plötzlich das Verlangen in mir auf, dem Aufenthaltsort der Armen nachzuforschen, und wäre es auch nur, um die gefürchtete Begegnung zwischen ihr und Fabian zu verhindern.
Ich begann die Ausführung meines Planes, indem ich die Cajüten des großen Damensalons und dann die Gänge der beiden Stockwerke durcheilte, die sich in diesem Theil des Schiffes befinden. Meine Inspection war hier außerordentlich leicht, weil auf jeder Cajütenthür der Name des Inhabers verzeichnet stand, was, nebenbei bemerkt, den Dienst der Stewards sehr vereinfachte. Den Namen Harry Drake's fand ich jedoch nirgend, und war hiervon auch nicht überrascht, da ich von vornherein annahm, daß er die Lage der Cajüten, die an dem Hintertheil hergerichtet waren, diesem sehr besuchten Theil des Schiffes vorziehen würde, besonders da in Bezug auf Comfort und Eleganz kein Unterschied bestand. Die »Société des Affréteurs« hatte für gut befunden, nur eine einzige Classe von Passagieren zuzulassen.[93]
Ich steuerte also auf die Speisesäle zu und folgte aufmerksam den Seitengängen, die zwischen der doppelten Reihe der Cajüten hinliefen. Alle diese Zimmer waren bewohnt, und an jedem las ich den Namen eines Passagiers, nur nicht den gesuchten. Dies Resultat meiner Nachforschungen setzte mich in Erstaunen, denn ich glaubte, unsere schwimmende Stadt nachgerade vollständig durchsucht zu haben, und kannte nur dies eine entlegenere »Viertel«. Ein Kellner, den ich hierüber befragte, theilte mir jedoch mit, daß ein Complex von etwa hundert Cajüten sich noch hinter den »Dining-rooms« befände.
»Wie kommt man dorthin? fragte ich.
– Auf einer Treppe, die zur Seite des großen Gesellschaftszimmers auf dem Verdeck mündet.
– Sehr gut! können Sie mir vielleicht auch sagen, welche Cajüte Herr Harry Drake bewohnt?
– Bedauere, mein Herr, das weiß ich nicht«, antwortete der Steward.
Ich bestieg nun abermals das Verdeck und ging am Gesellschaftszimmer hin, um nach der Thür zu gelangen, die mir der Kellner bezeichnet hatte; sie führte mich auf eine Treppe und dann nach einem halbdunkeln, einfachen Raum, der sehr von den andern, schönen Sälen abstach. Um ihn herum war eine doppelte Cajütenreihe hergestellt. Jedenfalls hätte Harry Drake keinen günstigern Ort zur Isolirung Ellen's finden können.
Die meisten dieser Cajüten standen unbewohnt; an einigen, etwa zwei oder drei Thüren waren Namen auf den Anschlagzetteln eingetragen, aber den gesuchten fand ich wieder nicht. Nach einer genauen Besichtigung dieses ganzen Bezirks wollte ich mich eben ziemlich getäuscht zurückziehen, als ein leises, fast unhörbares Gemurmel an mein Ohr schlug; ich sagte mir sogleich, daß es aus dem Hintergrunde des linken Ganges dringen müsse, und wandte mich nach dieser Richtung. Die vorher kaum vernehmbaren Klänge drangen jetzt deutlicher zu mir, und ich erkannte eine Art klagenden Gesang oder vielmehr eine schleppende Melodie, deren Worte ich nicht verstehen konnte.
Ich lauschte; der Gesang mußte von einer Frau herrühren, und ein tiefer, dumpfer Schmerz tönte mir aus ihm entgegen. Das war jedenfalls die Stimme der armen Wahnsinnigen, meine Ahnung konnte mich diesmal nicht täuschen. Ich näherte mich, so leise ich konnte, der Cajüte, es war die letzte in dem dunkeln Gange; sie mußte ihr Licht wohl durch eine der unteren Lichtöffnungen, die im Rumpf des Great-Eastern gelassen waren, erhalten. An[94] der Thür war nur die Zahl 775 angegeben, kein Name stand daran; was sollte auch Harry Drake für ein Interesse daran haben, den Kerker Ellen's zu bezeichnen?
Ich hörte jetzt die Stimme der armen Frau ganz deutlich, und es kam mir vor, als sei ihr Gesang eine Folge von häufig unterbrochenen Sätzen und besänge Liebliches sowohl als auch sehr Trauriges.
Obgleich ich kein Mittel in der Hand hatte, ihre Identität zu recognosciren, sagte ich mir doch entschieden, daß nur Ellen so singen könne.
Einige Minuten stand ich regungslos und lauschte, dann hörte ich plötzlich, gerade als ich mich zurückziehen wollte, Schritte auf dem Mittelplatze. Natürlich vermuthete ich, daß Harry Drake sich näherte, und da ich in Fabian's und Ellen's Interesse hier nicht überrascht werden wollte, zog ich mich über den Gang, der sich um die doppelte Cajütenreihe herumwand, zurück; von hier hätte ich nach der Treppe und auf das Verdeck zurück gelangen können, ohne bemerkt oder gesehen zu werden.
Es lag mir indessen daran, zu wissen, wer die nahende Person gewesen sei. Das Halbdunkel verbarg mich, und so drückte ich mich in einen Winkel und sah von hier aus, ohne selbst gesehen zu werden.
Unterdessen hatte das Geräusch aufgehört, und merkwürdiger Weise war mit ihm auch Ellen's leiser Gesang verstummt, aber nach einer kleinen Pause begann er von Neuem, und auch die Dielen knarrten unter einem langsamen Schritt. Ich bog den Kopf vor, und erblickte im unbestimmten Zwielicht, das quer durch den Impost der Cajüten hindurchfiel, – meinen Freund Fabian.
Ja, es war mein unglücklicher Freund! Hatte ihn sein Instinct an diesen Ort geführt? war der Aufenthaltsort der jungen Frau schon früher von ihm entdeckt worden, als von mir? Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten und wußte nicht, was ich davon denken sollte. – Fabian ging langsam, längs den Cajüten vorwärts, immer lauschend, und als ob er dem Klange der Stimme folgte, die ihn vielleicht wider Willen anzog. Jetzt, bei seiner Annäherung schien es mir, als ob die leisen Töne schwächer würden und verhallten, als wenn auch dieser leise Hauch noch verklingen wollte. Fabian kam an die Cajüte und blieb lauschend stehen.
Wie mußte sein Herz bei diesen traurigen Tönen schlagen! Riesen sie vergangene Zeiten, liebe Erinnerungen in ihm wach? – Und doch! von[95] Ellen's Gegenwart hier an Bord konnte er keine Ahnung haben, da er nicht einmal wußte, daß Harry Drake unter den Passagieren war. Gewiß zog ihn dieser tieftraurige Gesang nur an, weil er seinem eigenen Schmerz, seinen eigenen Gefühlen entsprach.
Fabian stand noch immer lauschend an der Cajütenthür; was wollte er beginnen? Wie, wenn er die Wahnsinnige anrief? wenn sie plötzlich die Thür öffnete und vor ihm erschien? Das Alles war möglich und mußte meinen[96] Freund, wenn es geschah, in große Gefahr bringen. Noch einmal näherte Fabian seinen Kopf unmittelbar der Thür, da wurde der Gesang leiser, hörte auf, plötzlich ertönte ein furchtbarer, gellender Schrei.
Hatte Ellen durch eine magnetische Mittheilung ihn, den sie liebte, in ihrer Nähe gefühlt? Fabian's Lage war entsetzlich; er stand wie in sich zusammengesunken. Wollte er die Thür erbrechen? Ich bangte vor dieser Möglichkeit so sehr, daß ich auf ihn zustürzte, seinen Arm nahm und ihn mit mir fortzog.
Er erkannte mich sogleich und folgte mir willig, dann fragte er mit gedämpfter Stimme:
»Weißt Du, wer die Unglückliche ist?
– Nein, Fabian, nein!
– Es muß die Wahnsinnige sein, sagte er. Man möchte an eine Stimme aus der andern Welt glauben! Ach, dieser Irrsinn ist nicht unheilbar, ich fühle und glaube bestimmt, daß ein wenig Hingebung und Liebe der Armen Genesung bringen würden.
– Komm, Fabian, komm!«
Als wir wieder auf dem Verdeck angelangt waren, verließ mich Fabian sogleich, ohne ein Wort zu sagen; aber ich folgte ihm langsam und verlor ihn nicht aus dem Gesicht, bis er in seiner Cajüte verschwunden war.
Ausgewählte Ausgaben von
Eine schwimmende Stadt
|
Buchempfehlung
Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«
270 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro